Carla del Ponte – ein Leben für die Gerechtigkeit
Carla Del Ponte brachte Mafiosi und Kriegsverbrecher hinter Gitter. Dafür ehrt sie der Beobachter dieses Jahr mit dem «Prix Courage Lifetime Award».
Carla Del Ponte brachte Mafiosi und Kriegsverbrecher hinter Gitter. Dafür ehrt sie der Beobachter dieses Jahr mit dem «Prix Courage Lifetime Award».
Veröffentlicht am 12. September 2019 - 17:31 Uhr
Del Ponte ist einer jener Namen, die oft gezischelt werden oder zähnefletschend fallen. Selbst Verbündete und Weggefährten tun es. «Meine Mutter hat mir immer eingeimpft: ‹Wenn du im Recht bist, musst du kämpfen, kämpfen, kämpfen›», sagt die 72-Jährige. Sie lacht.
In der Sache macht Carla Del Ponte nie Kompromisse, auch nicht für Freunde. Wer geradlinig ist, kommt vielen in die Quere. «Ich habe immer ausschliesslich dem Gesetz gehorcht, nichts anderem», sagt sie bestimmt.
Ihr Blick wird streng, und in ihrer Stimme klingt ein drohendes Donnern an, aus der Tiefe einer Kehle, die 50 Jahre lang Tabakrauch inhaliert hat. Weil sich das Rauchen für eine ältere Dame nicht gehöre, hat sie die Zigaretten aufgegeben, von einem Tag auf den anderen. «So was ist einfach Kopfsache», sagt sie. Sie ist es gewohnt, dass man umsetzt, was sie im Kopf hat.
Carla Del Ponte ist unbeirrbar – und unbequem. Es sind wohl genau diese Eigenschaften, die sie zu dem werden liessen, was sie ist. «Ich hatte stets direkten Zugang zum Generalsekretär. Wenn ich im Uno-Hauptquartier in New York in den Lift stieg, drückte der Portier sofort auf den Knopf für den 33. Stock, wo Kofi Annan sein Büro hatte.» Wenn die UN-Chefanklägerin irgendwo aufkreuzte, nahmen sich die Mächtigen dieser Welt Zeit für sie.
Aufgewachsen ist Del Ponte mit drei Brüdern in Bignasco TI, wo ihre Eltern ein Hotel besassen. Sie war das zweitälteste Kind. Anfangs nahmen die Buben Carla nicht mit, wenn sie im Val Bavona Aspisvipern nachstiegen – weil sie ein Mädchen war. Als Mutprobe stellten sie ihr eine Nacht lang einen Käfig mit einer Schlange unters Bett.
Aber weder die Schlangen noch die Bilder der Gräueltaten, mit denen sie sich später bis ins letzte Detail auseinandersetzen musste, raubten ihr den Schlaf: «Ich konnte immer gut abschalten», sagt Del Ponte. Mitarbeiter, denen das nicht gelang, seien meist nicht lange in ihrem Stab geblieben.
Diese Ruhe, gepaart mit einer fordernden Ungeduld und eiserner Professionalität, machte Del Ponte zu einer exzellenten Strafverfolgerin. Dabei hat sie gar nie eine Karriere auf diesem Gebiet gesucht. Del Ponte wollte Medizin studieren, wie es ihre Brüder taten. Ihr Vater fand jedoch, das koste zu viel, da sie später ja heiraten und nicht arbeiten würde. Also studierte sie Jura, was nur vier Jahre dauerte, und zog dafür zu ihrem Bruder nach Bern. «Ich war jung und wollte weg von zu Hause.»
Die Jurisprudenz fand sie dann aber eher langweilig, vor allem nationales Recht und römische Rechtsgeschichte. Del Ponte interessierte sich viel mehr für Menschen und das Leben, zum Beispiel die «belli ragazzi» in Berns Lauben. Hin und wieder besuchte sie Psychologievorlesungen, «die holten damals noch psychisch Kranke in den Vorlesungssaal». Das Strafrecht packte sie schliesslich, «weil es diese menschliche Komponente hat und man für die Opfer etwas bewirken kann».
Nach dem Studium arbeitet Del Ponte als Rechtsanwältin im Tessin, gründet eine eigene Praxis und wird schliesslich Staatsanwältin. In dieser Funktion verfolgt sie zusammen mit dem italienischen Untersuchungsrichter Giovanni Falcone die sizilianische Mafia , die im Tessin Geld wusch. Falcone stirbt 1992 bei einem Bombenattentat, mit ihm seine Frau und drei Sicherheitsleute. In einem Abwasserrohr unter der Autobahn bei Palermo explodiert eine halbe Tonne Sprengstoff, als Falcones Wagen passiert.
Drei Jahre zuvor waren Del Ponte und Falcone noch einem Anschlag entkommen, der ihnen beiden gegolten hatte. Die italienische Polizei fand eine Tasche mit Sprengstoff und entschärfte die Bombe rechtzeitig. Falcones Tod erschütterte Carla Del Ponte: «Damals dachte ich kurz: ‹Ich höre auf.›»
Aber sie macht weiter. 1994 wird sie zur Bundesanwältin gewählt, fünf Jahre später zur Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. In den folgenden Jahren ist das Grauen ihr Schatten. Wo von «Massakern», «Gräueltaten» und «Massenvergewaltigungen» berichtet wird, kämpft sie sich durch Berge von Akten, die jede Einzelheit von Vertreibungen, Folter und Massenmord beschreiben. Sie hört Geschichten der Opfer und kennt die Täter. Sie inspiziert Massengräber, sieht Tod und Leid, hört sich Zeugenaussagen an und fühlt den Schmerz der Hinterbliebenen.
«Damals dachte ich kurz: ‹Ich höre auf.›»
Doch statt in Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu verfallen, blickt sie durch das Böse hindurch, sieht in Leichen und Narben Beweise und Fakten. Das Grauen wird ihr zum Ansporn, immer weiter nach Gerechtigkeit zu streben: «Als Chefanklägerin vertritt man Tausende Opfer – eine immense Verantwortung.»
In dieser Verantwortung findet Del Ponte ihre Bestimmung. Sie arbeitet unermüdlich und bringt die Täter vor Gericht – ohne Rücksicht auf sich selbst. Aber sie zahlt einen hohen Preis.
Nach den Mafiosi hetzen nun nationalistische Fanatiker aus Europa und Afrika gegen sie. Del Pontes Kampf für Gerechtigkeit wird stets mit Drohungen und Beschimpfungen quittiert – Carla, die «Schlampe», die «Hure», die «Pest». Man wünscht ihr den Tod und Schlimmeres. Del Ponte lebt unter Personenschutz, mehr als 30 Jahre lang. Wenn sie nicht unterwegs ist, isoliert sie sich, muss sich isolieren.
Wer als Staatsanwältin oder Chefanklägerin keine Gegner habe, mache etwas falsch, sagt sie. Die meisten gewöhnlichen Kriminellen wüssten zwar, dass sie selbst an ihrer Lage schuld sind. Es komme sogar vor, dass sie von ehemaligen Angeklagten auf der Strasse freundlich angesprochen werde: «Einer rief: ‹Del Ponte! Erinnern Sie sich an mich? Sie haben mir sechs Jahre aufgebrummt.›» Sie lacht.
«Trotz allem konnte ich immer gut abschalten.»
Selbst Verurteilte, die Del Ponte hinter Gitter brachte, freuen sich, sie zu sehen. Das ist sicher eine Anerkennung ihrer Professionalität. «Ich habe immer erst angeklagt, wenn ich wusste, dass jemand schuldig ist. Kein einziger Unschuldiger war je meinetwegen eine Nacht im Gefängnis.»
Kriegsverbrecher, denen sie als UN-Chefanklägerin gegenübertrat, waren weniger einsichtig. «Milosevic sah mich sicher als Feind – wenn seine Blicke hätten töten können, wäre ich heute nicht hier.» Der Serbenführer Slobodan Milosevic war angeklagt wegen seiner Verantwortung für zahlreiche Verbrechen in den Jugoslawienkriegen. Er starb 2006 während des Verfahrens in Den Haag. Ein schwieriger Tag für Del Ponte: «Es ist sehr bedauerlich für die Opfer, dass ihnen seine Verurteilung verwehrt blieb.»
«Sehr bedauerlich für die Opfer»
Im Rahmen des Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien klagt Del Ponte 161 Personen an, die Hälfte wird verurteilt. 2008 tritt sie zurück und geht als Schweizer Botschafterin nach Argentinien. Del Ponte und Diplomatie? Sie habe ja noch irgendwas machen müssen bis zur Pensionierung , sagt sie. «Als Chefanklägerin habe ich nie Politik gemacht, aber ich war immer von ihr abhängig, um meine Flüchtigen vor Gericht zu bringen – leider.» Dann entbrennt 2011 der Konflikt in Syrien.
Carla Del Ponte tritt der Unabhängigen Untersuchungskommission bei. Doch das Gremium erhält keinen Auftrag für einen Strafverfolgungsprozess, es geht lediglich darum, Fakten zusammenzutragen. «Das war häufig einfach. Die Täter haben die Verbrechen mit ihren Videos ja oft selbst dokumentiert.»
«Die Uno ist an einem Tiefpunkt. Von den 4000 oder 5000 Leuten am Hauptsitz in New York tut die Hälfte gar nichts.»
Carla Del Ponte
Die Untersuchungskommission veröffentlicht zweimal im Jahr Berichte, die aber keinerlei Konsequenzen haben. Der politische Wille fehlt komplett, die Weltgemeinschaft sieht tatenlos zu. Nach sechs Jahren tritt Del Ponte frustriert und ausgelaugt aus der Kommission zurück.
«Ich hatte für die Untersuchungen zu Syrien zugesagt, weil ich auf ein Tribunal hoffte. Aber das Ganze war eine einzige Alibiübung.» Das Medienecho bei ihrem Rücktritt ist zwar gross, doch es verhallt ebenfalls ohne jede Wirkung.
Mit den Vereinten Nationen geht Del Ponte hart ins Gericht: «Die Uno ist an einem Tiefpunkt angelangt, den ich mir nicht hätte vorstellen können. Von den 4000 oder 5000 Personen am Hauptsitz in New York macht die Hälfte gar nichts.» Es brauche unbedingt tiefgreifende Reformen. «Ich habe gemacht, was ich konnte.»
«Eine Alibiübung»
Carla Del Ponte ist heute begeisterte Grossmutter und auf dem Golfplatz fast ebenso engagiert wie früher im Gerichtssaal. «Das Handicap beim Golfen ist mittlerweile mein grösster Gegner. Es zu bekämpfen ist viel langwieriger, als Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen», sagt sie scherzhaft.
Personenschutz hat sie nicht mehr. Sie habe sich fast 30 Jahre lang nicht frei bewegen können. «Das reicht.» Ausserdem: «Ich bin so weit gekommen, was soll mir jetzt noch passieren?» Aber ja, Türen und Fenster ihres Hauses sind noch immer gepanzert, und ihr Privatleben schützt sie nach wie vor vor neugierigen Medienfragen.
Ende Jahr will sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Sollte die Uno allerdings doch noch ein Syrientribunal einrichten, stünde sie zur Verfügung. «Niemand hat mehr Erfahrung in solchen Dingen als ich. Aber es eilt, ich werde nicht jünger.»
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Ihre Stimme zählt!
Die Stimmen der Beobachter-Lesenden und jene der Prix-Courage-Jury werden zu je 50 Prozent gewichtet.
Der oder die Gewinnerin des Prix Courage wird am 1. November 2019 anlässlich einer Gala in Zürich bekanntgegeben.