Die Wachsäle sind abgeschafft, die Abteilungen wohnlich gestaltet und meistens geöffnet, dank Psychopharmaka ist die Atmosphäre heute in der Regel ruhig. Die stationäre Psychiatrie hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verbessert.

Doch jetzt soll auch hier ein neues, umstrittenes Tarifsystem eingeführt werden. Einheitliche Behandlungssätze, wie sie für andere medizinische Bereiche bereits gelten, soll es künftig auch in der Psychiatrie geben. Geht alles nach Plan, tritt das «national einheitliche Tarifsystem mit Leistungsbezug» (Tarpsy) Anfang 2018 in Kraft.

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Ärzte kritisieren den geplanten Systemwechsel seit Jahren. Denn psychische Krankheiten unterscheiden sich in verschiedenster Hinsicht von somatischen Erkrankungen. Es gibt zwar einen Standard-Gallenstein, aber keine Standard-Depression. Psychische Erkrankungen, ihre Ursachen, aber auch ihre Heilungsverläufe sind höchst individuell. Darauf nimmt das neue System kaum Rücksicht.

Brisant: Betroffene Berufs- und Patientenverbände wie Pro Mente Sana wurden auch bei der Erstellung der neusten Tarpsy-Version – es ist bereits die vierte – nicht involviert.

Die Langzeitbetreuung ist gefährdet

Ausgearbeitet hat das neue Tarifsystem die Firma SwissDRG. Sie hat den Auftrag dazu 2012 vom Bundesrat erhalten. Die Aktiengesellschaft wird je zu 30 Prozent vom Dachverband der Spitäler, vom Dachverband der Krankenkassen und von der Vereinigung der kantonalen Gesundheitsdirektoren kontrolliert. Die Vereinigung der Ärztinnen und Ärzte verfügt über die restlichen zehn Prozent. SwissDRG hat bereits die Fallpauschalen in den Akutspitälern eingeführt.

Der Begriff Fallpauschale kommt im neusten Vorschlag nicht vor. Trotzdem ist auch dieser heftig umstritten. Die Gründe: mehr Bürokratie im Klinikalltag, weniger Zeit für die Behandlung und Betreuung der Patienten, umstrittene finanzielle Anreize für die Kliniken.

«Es werden mehr Psychopharmaka statt Psychotherapien angeordnet werden.»

Andreas Daurù, Pro Mente Sana

So macht es das neue Abrechnungssystem für die Kliniken beispielsweise finanziell interessant, möglichst viele Patienten für möglichst kurze Zeit stationär zu behandeln. Denn der neue Tarif ist im zeitlichen Verlauf abnehmend: Je länger der Klinikaufenthalt dauert, desto weniger wird bezahlt.

Patienten, die länger auf Betreuung angewiesen sind, werden es daher noch schwerer haben als bisher, glaubt Pro Mente Sana. Laut Andreas Daurù, Leiter Psychosoziales, besteht gar die Gefahr, dass chronisch Kranke im Einzelfall entlassen werden, selbst wenn sie nicht für sich sorgen können. Alternativen zu Kliniken sind rar, in vielen Kantonen fehlen nötige Langzeiteinrichtungen. Wenn ein Patient aber zu früh entlassen wird, ist in Kürze oft eine zweite Einweisung nötig.

Die Tagessätze werden mit einem komplizierten System berechnet. Es basiert auf zehn Diagnosegruppen, dem Alter und drei Symptom-Intensitäten. Alternativ dazu können Ärzte noch Nebendiagnosen anführen.

«Mit dem neuen Tarifsystem werden ökonomische Überlegungen im ärztlichen Alltag viel präsenter sein», befürchtet René Bridler, ärztlicher Direktor des Sanatoriums Kilchberg. Um mögliche Folgen zu studieren, wäre seiner Meinung nach eine gute Begleitforschung unabdingbar. Welche Patienten am meisten Geld einbringen, welche Fälle sich finanziell lohnen und welche nicht, lasse sich derzeit nicht sagen. Noch fehle das nötige Datenmaterial.

Faktisch drohen Fallpauschalen

Mit einer Zunahme von bestimmten Diagnosen, wie sie in der somatischen Medizin mit der Einführung der Fallpauschalen zu beobachten war, rechnet Bridler nicht. Wenn aber eine Klinik ab dem Tag X defizitär wirtschafte, «nähert sich das Modell faktisch einer Fallpauschale an». Tarpsy wird den Wettbewerb zwischen den Kliniken verschärfen, befürchten Patientenverbände und kritische Ärzte. Profitieren werden diejenigen Spitäler, die das neue Tarifsystem am besten nutzen.

Schliesslich weckt das neue Tarifsystem auch Ängste, weil es zu einem Zeitpunkt eingeführt wird, zu dem die Qualität der Betreuung ohnehin schon arg strapaziert ist. Das Problem ist der ständig steigende administrative Aufwand, den die Ärzte für die Krankenkassen leisten müssen. Die Situation hat sich nach der Einführung des neuen Erwachsenenschutzrechts zuletzt noch verschärft.

Die Büroarbeit geht auf Kosten der Patienten, für Gespräche bleibt den Ärzten weniger Zeit. Laut Andreas Daurù von Pro Mente Sana droht ein Schub an Standardisierungen bei Diagnosen und Behandlungen. Mit Folgen: «Es werden vermehrt Psychopharmaka eingesetzt werden, Psychotherapien werden dagegen weniger angeordnet werden. Denn die pharmazeutische Behandlung lässt sich leichter standardisieren und ist in vielen Fällen kostengünstiger», so Andreas Daurù.

Ausbaden müssen den administrativen Mehraufwand in erster Linie die Assistenzärzte, auf die die zusätzliche Arbeit abgewälzt wird. Im Rahmen des sogenannten Qualitätsmanagements müssen sie stundenlang Fragebögen ausfüllen. Beispielsweise den HoNOS (Health of the Nation Outcome Scale), der anhand von zwölf Kriterien Daten über Patienten festhält. Wie oft der Arzt mit dem Patienten spricht und wie sich dieser fühlt, fragt HoNOS aber nicht.

Der Psychiaterberuf wird unattraktiv

Ein Nebeneffekt der Bürokratisierung: Sie macht den Beruf des Psychiaters noch weniger attraktiv. Ein grosses Problem, weil schon heute Personal fehlt und zu wenig Psychiater ausgebildet werden.

Ungenügend ist die psychiatrische Versorgung in der Schweiz auch, weil es an ambulanten und teilstationären Angeboten fehlt. Sie könnten helfen, Klinikaufenthalte zu vermeiden oder den heiklen Übergang vom Spital in den Alltag abzufedern. Zudem arbeiten Tageskliniken meistens günstiger als Abteilungen, die rund um die Uhr Personal benötigen. Das heute geltende Tarifsystem berücksichtigt das nicht. Es richtet sich ausschliesslich auf die stationäre Psychiatrie aus. Ambulante und teilstationäre Einrichtungen werden so nur ungenügend entschädigt. Kantone, die ein solches Angebot wollen, müssen die Finanzierungslücke decken.

«Seit der Einführung der Fallpauschalen ist in der Medizin das Pflegepersonal eine Manövriermasse geworden.»

Elvira Wiegers, Zentralsekretärin beim VPOD

Die Vorschläge sind unter Psychiatern umstritten. Das zeigte vergangenes Jahr eine Umfrage, die das Forschungsinstitut GfS im Auftrag des Ärzteverbands durchführte. Demnach sprechen sich nur gerade acht Prozent der Psychiater für Tarpsy aus, 51 Prozent waren klar dagegen.

Spätestens im Jahr 2020, so kündigt SwissDRG an, sollen sämtliche «Prozeduren und Behandlungen», also auch Psychotherapien, in das Tarpsy-System einfliessen. «Wenn immer mehr Prozeduren und Nebendiagnosen kommen, werden wir auch in der Psychiatrie Kodierer benötigen. Wer wird das tun? Die ohnehin schon wenigen Ärzte? Das ist mein Alptraum», sagt Klinikdirektor Bridler.

Deutliches Signal aus Deutschland

Elvira Wiegers, Zentralsekretärin Gesundheit beim VPOD, befürchtet zudem, dass die psychiatrischen Kliniken unter dem Kostendruck das Personal auf ein Minimum beschränken werden. «Seit der Einführung der Fallpauschalen ist in der Medizin das Pflegepersonal eine Manövriermasse geworden. Die Spitäler müssen Gewinn erzielen: Entweder steigern sie den Ertrag oder sie senken die Kosten.» Eine andere Wahl hätten sie nicht.

In Deutschland hätte nächstes Jahr ein ähnliches System wie Tarpsy eingeführt werden sollen. Doch das Projekt stiess auf so grossen Widerstand, dass es abgeändert werden musste. Die Lösung, die jetzt vorbereitet wird, umfasst einen Stellenschlüssel. Er soll verhindern, dass der Systemwechsel zu einem Personalabbau führt. Ein deutliches Signal für die Schweiz.