Wenn Sport zur Sucht wird
Sport ist gesund – bis zu einem gewissen Mass. Zu viel davon kann in eine Abhängigkeit führen, aus der man nur schwer wieder herauskommt.
aktualisiert am 21. August 2018 - 16:08 Uhr
Am Anfang war der Sport. Michael Hofer (Name geändert) war in Ausbildung, knapp 23. Ein ebenfalls sportlicher Kollege spornte ihn zu mehr und mehr Leistung an. Gemeinsam gingen die beiden Rennrad fahren, in den Kraftraum, joggen. Hofer fühlte sich vom Kollegen angezogen, wusste damals aber noch nicht, wie er seine Gefühle einordnen sollte.
Bis ihn die Mutter rundheraus fragte: «Kann es sein, dass du schwul bist?» Es folgten Tränen, massive Erleichterung – und ein Geständnis an den Kollegen, der allerdings verhalten reagierte. Trotzdem blieb die Freundschaft bestehen. Heute vermutet Michael Hofer, dass seine unerfüllten Sehnsüchte und seine Unsicherheit vor dem Coming-out dazu beigetragen haben, ihn zu einem Sportsüchtigen zu machen.
Er begann, sich immer mehr mit seinem Ausbildungskollegen zu vergleichen. «Ich merkte, dass ich körperbetonter aussah als er, wenn ich viele Proteine, aber möglichst wenig Fett und Kohlenhydrate ass», sagt er. Er entwickelte sich zu einem Ernährungsfachmann – «ich wusste damals genau, welches Joghurt wie viele Kalorien hat» –, intensivierte sein Training und nahm immer mehr ab. Das Wiegen im Fitnessklub geriet zum Wettbewerb: «Es freute mich, wenn ich leichter war als mein Kollege.»
Dick oder auch nur fest war Hofer nie gewesen, hatte sich auch nie so gefühlt. Seine 75 Kilo waren absolutes Normalgewicht. Trotzdem steigerte er sich in einen Teufelskreis aus weniger Nahrung und mehr Sport hinein. Morgens vor der Arbeit Sport, zu Mittag etwas Mitgebrachtes, am Abend nach der Arbeit Sport. «Die schönste Zeit waren die Minuten vor dem Einschlafen, das war der einzige Moment am Tag, in dem ich loslassen konnte.»
Die ganze Zeit dazwischen gehörte den Zahlen. Den Kalorien, der Waage, dem Handy, auf dem er ständig abrief, was er zu sich genommen und was er verbraucht hatte. «Mein Ziel war eine Negativbilanz: mehr Energie zu verbrauchen, als ich aufnahm.» Längst hatte er vom Rennrad auf den Stepper im Fitnessstudio umgesattelt – der verbrennt deutlich mehr Kalorien.
Gemeinsame Essen mit Kollegen wurden zum Spiessrutenlauf. Das Repertoire reichte von Strategien beim Schöpfen – kaum Beilagen, viel Salat, möglichst ohne Sauce – bis zum heimlichen Entsorgen von Essen in der Serviette. Direkt darauf angesprochen wurde Michael Hofer nie: «Ich glaube, ich hätte mich schon ertappt gefühlt», sagt er. Er lebte von Gemüse, Knäckebrot, magerem Thunfisch. Reis oder Kartoffeln ass er während Jahren nicht.
«Alle weinten, an mir ging die ganze Trauer irgendwie völlig vorbei.»
Michael Hofer, ehemaliger Sportsüchtiger
Erst als Hofer auf einer Joggingrunde am See wegen akuter Unterzuckerung zusammenbrach und sich nur noch mühsam heimschleppen konnte, wurde ihm klar, dass er Hilfe brauchte. Die Gespräche mit einem Psychiater halfen wenig. Hofer fror dauernd und war teilnahmslos. Als sein Grossvater im Spital im Sterben lag, war die ganze Familie da. «Alle weinten, an mir ging die ganze Trauer irgendwie völlig vorbei. Ich habe das damals gar nicht realisiert, aber im Nachhinein bin ich erschrocken.»
Schliesslich schlug der Psychiater einen stationären Klinikaufenthalt vor. «Aber auch diese Zeit war ein einziger Kampf», sagt Hofer. Er fing bald an, die vorgegebene Nahrungsmenge zu unterlaufen. In der Klinik schwankte das Gewicht des Eins-achtzig-Mannes zwischen 55 und 60 Kilo. Wohl fühlte er sich nie – er war von Menschen umgeben, mit denen er sich anfangs nicht identifizieren konnte. Nach fünf Monaten wurde er entlassen. Nach wie vor fehlte ihm die Energie für Sport völlig. Er meldete sich bei der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen. Dort gab man ihm die Adresse einer Psychiatriepflegeschwester.
Diese besuchte Hofer von da an regelmässig. «Endlich gelang es mir, mich von dem Zwang zu befreien, auf die Waage stehen zu müssen» – ein erlösender Schritt. Die Psychiatriepflegerin half ihm, in kleinen Schritten zu mehr oder weniger normalem Essverhalten zurückzufinden; ein Schöggeli zum Kaffee, Sauce auf den Salat.
Heute ist Michael Hofer 32, eine athletische Erscheinung, er kann wieder Sport treiben. Sein heutiger Freund kennt seine Vergangenheit und versucht, damit umzugehen.
Das Essverhalten ist noch ab und zu ein Thema, doch es hat sich viel verändert. «Inzwischen ist ein Znacht mit Freunden wirklich etwas, worauf ich mich freuen kann.» So richtig deftige Sachen wie eine Berner Platte mag Hofer noch immer nicht besonders. Doch er weiss, dass er seinen schlimmsten Zwang los ist: «Ich bin ziemlich sicher, dass ich freiwillig nie wieder auf eine Waage stehen werde. Beim Arzt schaue ich einfach geradeaus und nicht auf die Anzeige», sagt er.
Viele Menschen bezeichnen sich scherzhaft als «sportsüchtig»: Man kann sich das Leben nicht ohne morgendliches Joggen durch den Wald vorstellen, man freut sich auf den Kick, den die Klettertour verspricht. Mit echter Sucht hat das wenig zu tun, weil diese Aktivitäten in der Regel weder soziale Isolation noch körperliche Abhängigkeit einleiten.
Gefährlich hingegen ist die Sport-Magersucht (Anorexia athletica): Sie führt in eine Scheinwelt, in der nur noch die Kalorienzähler auf dem Stepper und der Zeiger der Waage zählen. Sie macht langfristig krank. Die meisten Opfer der Sport-Magersucht sind junge Frauen sowie Männer im «besten Alter», weil sie eine schlank-sportliche Erscheinung mit Erfolg und Attraktivität gleichsetzen – hier spielt auch ein gesellschaftlicher Druck mit hinein.Sportsucht beginnt wie jede andere Sucht auch damit, dass sich die Vorzeichen umkehren: Der Sportler hat nicht mehr den Sport im Griff, sondern der Sport bestimmt den Sportler. Was für Profisportler eine Berufung ist, kann für Amateure zur Obsession werden. Sport ist gesund, deshalb zahlen Krankenkassen auch Beiträge an Fitnessabos. Wer sich regelmässig bewegt, senkt das Risiko, an Diabetes oder Krebs zu erkranken, und verhindert Übergewicht und zu hohen Blutdruck. Doch wie bei fast allem, was in Massen gesund ist, gibt es auch hier ein Zuviel. Typisch für Sportsüchtige ist zum Beispiel, dass sie trotz Verletzungen (Überbeanspruchung, Spannungsrisse, Ermüdungsbrüche) weitertrainieren und mit Entzugserscheinungen auf Trainingsunterbrüche reagieren. Die eigene Sucht können sich Sportsüchtige selber nicht eingestehen.
- Frauen: unregelmässige Menstruation
- Männer: Abnahme des Testosteronniveaus
- Abnahme der Knochendichte (Osteoporose)
- Abnahme der Immunaktivität
- Erkältungen, Atemwegserkrankungen
- Abnahme der sportlichen Leistung
- soziale Isolation, oberflächliche Kontakte
- depressive Verstimmungen, Lethargie
- sich im Internet informieren (www.aes.ch)
- das Problem ansprechen, Verständnis zeigen, zusammen nach Lösungen suchen
- Problembewusstsein aufbauen (zum Beispiel Anzeichen und Abhängigkeitskriterien ansprechen)
- an Psychologen, Ärzte verweisen