Wo Unkraut zur Delikatesse wird
Die Tessiner Köchin Meret Bissegger mag es ungewöhnlich. In ihrer «Cucina naturale» kombiniert sie exotische Gewürze, «Unkraut» aus dem Garten und lokales Gemüse zu eigenwilligen, überraschenden Kreationen.
Veröffentlicht am 9. Oktober 2007 - 17:51 Uhr
Die Bergwände sind steil und schroff bei Malvaglia am Tor zum Bleniotal. Das Leben der Ansässigen war noch bis zum Anschwellen der Touristenströme hart, der Speisezettel oftmals karg und geprägt von dem, was der Garten hergab oder was man auf den vielen Alpen ringsum produzierte. Auch Meret Bissegger, die in Malvaglia Kochkurse gibt und für grössere Gesellschaften am Herd steht, ist von dieser Armenküche beeinflusst und begeistert. Bei ihr kommt auf den Tisch, was in der Gegend wächst und gedeiht. Und das ist so vielfältig, dass sie selbst im Winter nie einen Mangel an Gemüse kennt: Auch während langer Zeit Vergessenes wie Topinambur, Pastinaken oder Stachis will sie wieder bekannt machen.
Doch die gelernte Kindergärtnerin, die nie eine Kochlehre absolviert hat, ist keine Traditionalistin. Denn sie verwendet Gewürze in Mengen und Kombinationen, die vielen schon beim blossen Gedanken das Wasser in die Augen treiben würden. «Als ich vor vielen Jahren in London lebte, bin ich tagelang den indischen, thailändischen und arabischen Gewürzläden nachgegangen», schwärmt Bissegger. Fast verschwörerisch zeigt sie dem Besucher die Essenz ihrer Küche - einen schwarzen Aktenkoffer. Als ob er Goldbarren enthielte, öffnet sie ihn vorsichtig und präsentiert rund 70 Gewürze, deren Namen teilweise auch für Profis fremd klingen.
Keine Feinde mehr im Garten
Im Frühling verwendet Meret Bissegger indes vorwiegend einheimische Wildkräuter. Wer unter «Wildkräuter» allerdings bloss die würzigen Kräutlein auf der Alp versteht, wo Bissegger während zweier Saisons mit 50 Kühen und 210 Ziegen ihre Erfahrungen gemacht hat, täuscht sich: «Ich verwende vorwiegend die Kräuter, die ums Haus herum wachsen. Allein bei mir gibt es etwa 20 davon, etliche haben sogar als Unkraut einen schlechten Ruf.» Wer weiss, dass die oft unerwünschten Kräuter essbar sind, gewinnt ein anderes Verhältnis zu seinem Garten. Wie etwa einer ihrer Kochkursteilnehmer: «Früher hat er das Jäten immer gehasst. Heute sagt er: ‹Ich habe keine Feinde mehr im Garten.›» Trotz ungewohnten Kombinationen bewegt sich Bissegger auf sicherem Boden: «Ich habe ein sehr gutes sensorisches Vorstellungsvermögen, so dass ich schon beim Kochen weiss, wie etwas schmecken wird.» Und dieses Geschmacksspektrum wird immer grösser: «Wenn ich ein Gewürz nicht kenne, muss ich es sofort haben.»
«Ich verwende vorwiegend die Kräuter, die ums Haus herum wachsen. Allein bei mir gibt es etwa 20 davon.» Meret Bissegger, Köchin
Meret Bissegger gehört zu den zahlreichen Spitzenköchen, die nicht den üblichen Weg vom Küchengehilfen zum Chefkoch gegangen sind, aber vielleicht gerade dadurch von kulinarischen Konventionen unbeeindruckt blieben. Seit anderthalb Jahren wohnt und arbeitet sie in einer Villa, die ein Auswanderer aus Malvaglia, der es in Paris vor 100 Jahren zu etwas gebracht hatte, gebaut hat. Wie etliche andere Auswanderer-Villen in Malvaglia ist auch diese reich mit Fresken verziert, insbesondere das Esszimmer, wo Bissegger ihre Gäste zur Table d’hôte bittet.
Kernstück ist indes die grosszügige Küche mit viel Abstellfläche und Stauraum. Hier bereitet Bissegger ihre Buffets mit rund 20 verschiedenen Gerichten vor. Dabei ist sie bescheidener geworden: «Früher hatten meine Buffets 40 Speisen, weil ich mich nicht zurückhalten konnte.» Die Basis sind immer lokale und saisonale Gemüse, auf ungewohnte Art gewürzt, dann auch Getreide und Hülsenfrüchte, aber eher wenig Fleisch. Wenn, dann verwendet sie gerne Lamm, Rind und Schwein. Sie kocht meist für private Gesellschaften von bis zu 100 Leuten (pro Person ist mit etwa 80 Franken zu rechnen), aber seit Jahren auch am Filmfestival von Locarno. Was sie vorsetzt, testet sie immer gleich am lebenden Objekt: «Ich probiere ein Gericht nie vorher aus, sondern serviere es gleich beim ersten Mal.» Auf ihren Buffets finden sich etwa ein Hirsesalat mit Kürbiskernöl und Erbsen, Fenchel-Algen-Salat, Kabis-Sardellen-Salat, Auberginensalat mit Kapern, arabischer Rüeblisalat mit warmen Gewürzen (Zimt, Kardamom, Ingwer, Koriandersamen, Orangenblütenwasser), Curry-Reis mit gerösteten Gewürzen, gebratene Zucchini mit Peterli und Knoblauch, Lauch-Pilz-Suppe - um nur ein paar zu nennen. Dazu verschiedene Käse und traditionelle Wurstwaren aus der Region.
Wer sich auf eine kulinarische Reise bei Meret Bissegger einlässt, hat vielleicht nicht alle Kombinationen gern, aber das nimmt sie in Kauf. Dabei hat sie die Erfahrung gemacht: «Frauen sind im Allgemeinen offener gegenüber dem, was sie nicht kennen, während Männer eher auf Mamas Küche fixiert sind.» Allerdings zeichne sich da ein Wandel ab. Mit ihren eigenwilligen Geschmackskombinationen will sie auch erreichen, dass sich die Gäste aufs Essen konzentrieren und nicht vor lauter Plaudern am Ende nicht wissen, was sie gegessen haben.
Auswanderer-Villa in Malvaglia: Was Meret Bissegger hier kocht, testet sie immer gleich am lebenden Objekt.
Das gastronomische Rüstzeug holte sich Meret Bissegger in renommierten Restaurants und Hotels. Ihre Wanderjahre führten sie bis in die Karibik. Ihre erste Beiz war die «Buvette des Teatro Dimitri» in Verscio. Bis vor einigen Jahren führte Bissegger das «Ponte dei Cavalli» in Cavigliano, das dem Essführer «Gault Millau» 15 Punkte wert war. Doch wieso hört eine erfolgreiche Gastronomin auf? «Ich wollte einfach wieder einmal etwas Neues machen. Ich merkte gar nicht, dass ich schon elf Jahre das Restaurant hatte.» Kommt noch dazu, dass sich trotz begeistertem Zuspruch der Gäste der finanzielle Erfolg in Grenzen hielt: «Meine Art zu kochen ist sehr arbeitsintensiv, so dass ich mir letztlich weniger zahlte als meinem Personal.»
Der Wechsel war nicht einfach; sie wusste nicht, welche Richtung sie einschlagen wollte. Sie begann mit Kochkursen, in die sie immer mehr ihr Wissen über Wildkräuter einbaute. Also über diejenigen krautigen Pflanzen, die sich zum Verzehr eignen, beispielsweise wilder Schnittlauch, weisse Melde, Leimkraut, Vogelmiere, Portulak, Brennnessel, Sauerampfer, Bärlauch, Huflattich, Giersch, Bärenklau oder verschiedene Wegerich-Arten.
Speisen und Verarbeitungsmethoden, die vom Vergessen bedroht sind, sind Meret Bissegger ein besonderes Anliegen. Sie engagiert sich deshalb auch für das Projekt «Arche des Geschmacks» der Vereinigung «Slow Food». Dabei sollen authentische und traditionelle Produkte vor der «Sintflut der industriellen Vereinheitlichung» gerettet werden. Die lokaltypischen Eigenheiten von Würsten oder Käse, naturschonende Produktionsweisen und kleingewerbliche Verarbeiter sollen gefördert werden - und das Publikum animiert, die bedrohten Produkte auch zu kaufen. Ein Beispiel ist die «Farina bona», ein aus gerösteten Maiskörnern gewonnenes Mehl, also eine Art gemahlenes Popcorn, aus dem Onsernonetal. Eine der Spezialitäten aus der «Farina bona» ist eine Rahmglace, die einen leicht nussigen Geschmack hat.
Fresszettel statt detaillierter Rezepte
Der oft übertriebenen ästhetischen Präsentation gewisser Starköche mag Meret Bissegger wenig abgewinnen. «Bei mir muss in erster Linie der Geschmack stimmen. Wenn ich entscheiden muss zwischen schön und gut, entscheide ich mich für gut.» Das fängt schon beim Zerkleinern des Gemüses an, das sie mit einem grossen Messer rüstet. Für Salate schneidet sie hartes Gemüse eher klein, weiches eher grob, und immer gegen die Faser. Detaillierte Rezepte verwendet sie keine. Selbst wenn sie ein Buffet mit zwei Dutzend Speisen zubereitet, reicht ihr ein Fresszettel mit ein paar Stichwörtern.
Lokaltypisches kombiniert Meret Bissegger mit Gewürzen aus fernen Ländern, die sie in einem schwarzen Aktenkoffer aufbewahrt.
Es ist kein Zufall, dass Meret Bissegger zum Kochen gekommen ist. Schon ihre Eltern, die ins Tessin zogen, als sie sechsjährig war, kochten beide leidenschaftlich gern. Auch ihre Affinität zum Wein wurde früh angelegt, half sie doch schon als Kind in den Reben. Zudem: «Ich habe manchmal die Schule geschwänzt, weil mich das Brennen des Grappas mehr interessierte.» Ihren Gästen tischt sie meist lokale Weine von kleinen Gütern der Gegend auf. Etliche Winzer, deren Weine sie in ihren Anfangszeiten kredenzt hat, sind mittlerweile zu nationaler Bekanntheit gekommen, wie Stucky, Zündel, Kaufmann, Huber oder Gauch. Beim Wein muss sie allerdings Abstriche von ihren Bioprinzipien machen. «Das Klima im Tessin ist einfach zu feucht für Bioweine, so dass nur wenige diesen Kampf auf sich nehmen.» So wenig sie bei der Kombination der Speisen dogmatisch ist, so wenig ist sie das auch beim Wein: «Die Leute sollen das trinken, was ihnen schmeckt, denn bei meiner würzigen Küche funktionieren die klassischen Weinkombinationen nicht.»
Apéro-Bällchen aus «Farina bona» | Rezept für vier Personen |
40 Gramm Schalotten, grob geschnitten, 100 Gramm Sellerieknollen, grob geschnitten, 3 Lorbeerblätter | in 2 Deziliter Wasser geben und sehr weich kochen. |
1 Teelöffel Gemüsebouillon 1 Deziliter Weisswein | dazugeben und nochmals einkochen bis auf 2 Deziliter Masse. Abkühlen und pürieren |
70 bis 100 Gramm «Farina bona» | dazugeben, bis sich eine formbare Masse bildet. |
4 Esslöffel Olivenöl | darunterarbeiten |
Schwarzer Pfeffer, Rosmarinpulver, eventuell auch frisch gehackte Kräuter wie Majoran oder Basilikum | zum Würzen dazugeben und aus der Masse kleine kirschgrosse Bällchen formen. |
Variationen: Die Masse mit Frischkäse (Formaggini) oder Ricotta anreichern. Die Bällchen in gehackten Kräutern wenden. Das Grundgemüse kann beliebig geändert werden (Randen, Karotten, Kürbis). |