Die Geheimnisse der nachtaktiven Nager
Schlafen am Tag und Fressen in der Nacht sind die Lieblingsdisziplinen der Siebenschläfer und ihrer Verwandten. Ein junger Forscher hat sich zum Ziel gesetzt, den zahlreichen Geheimnissen der Schläfer auf die Schliche zu kommen.
Veröffentlicht am 6. August 2010 - 08:53 Uhr
Siebenschläfer brauchen keinen Wecker. «Pünktlich zum Sonnenuntergang wachen sie auf», sagt Jörg Schlichter leise. Der Forscher kauert mitten in einem Rebberg bei Grevenmacher, Luxemburg, und stellt die letzte Falle. Die Konturen beginnen zu verwischen, die hereinbrechende Nacht nimmt dem pittoresken Moseltal an der Grenze zu Deutschland jede Farbe.
240 Fallen hat der 28-jährige Doktorand, Studienfach Zoologie, an diesem Abend gereinigt und mit je einem Löffel selbstgemachtem Birchermüesli beködert. Dass es zwischen den Reben penetrant nach Chemie riecht, stört den stämmigen Deutschen nicht. Er nimmt es gar nicht wahr. Sein einziges Interesse gilt in diesen Tagen und Nächten den Siebenschläfern – vor allem den verwandten Gartenschläfern, seinem eigentlichen Studienobjekt. Tagsüber schlafen die kleinen Säuger in Moosnestern in den Ritzen der Steinmauern oder im Felsband oberhalb des Rebbergs. Nachts werden sie aktiv. Jörg Schlichter will herausfinden, wie die Tiere den Raum nutzen, ob sie Reviere bilden, wie sich die Gruppen durchmischen. «Darüber weiss man praktisch noch nichts», sagt er. Schlichter ist derzeit der einzige Forscher weit und breit, der sich mit den Schläfern befasst.
Das Problem: Die Schläfer – auch Schlafmäuse oder Bilche genannt – sind in freier Wildbahn äusserst schwierig zu erforschen. Vier Arten bevölkern unsere Wälder, Rebberge und Gärten: Sieben- und Gartenschläfer, aber auch der seltene Baumschläfer und die scheue, kaum zu beobachtende Haselmaus. Nah verwandt mit den Eichhörnchen, haben alle Schläfer grosse Augen, markante Ohren und einen langen buschigen Schwanz. Und alle sind sie ausschliesslich nachtaktiv. Immer gut getarnt, wuseln sie mit feinsten Sinnen durch das Unterholz oder klettern wie Lemuren hoch in die Bäume. Wie sollte man ihnen da als Forscher folgen?
Am ehesten noch mithilfe der Technik, dachte sich Jörg Schlichter zuerst. Er legte den Tieren ein Senderhalsband um und stolperte dann Nacht für Nacht dem Antennensignal hinterher. Doch das ging nicht lange gut. «Wie soll ich die Tiere beobachten, wenn sie innert Minuten die 20 Meter hohe Felswand hochkraxeln können?», fragte sich der Forscher. Oder wenn sie, im Schutz des dichten Buschwerks, durch das nahe Tobel streichen? Schlichter bemerkte zudem, dass die Halsbänder die Hälse einiger Tiere wundscheuerten. Da beendete er das Experiment.
Seit Februar 2009 stellt er nun seine Fallen, immer in drei aufeinanderfolgenden Nächten, nach einer Pause von jeweils zehn Tagen. Insgesamt 266 Sieben- und Gartenschläfer hat Schlichter schon gefangen, wobei viele Tiere nicht nur einmal, sondern immer wieder in die Falle gingen. «Sie scheinen nicht die Intelligentesten zu sein», konstatiert der Biologe lachend.
Jetzt lenkt Jörg Schlichter sein Auto vorsichtig den steilen Weg hinab nach Grevenmacher. Einige Stunden will er noch schlafen, bevor er wiederkommt.
Schlafen, das ist auch die Lieblingsbeschäftigung der Bilche. Ganze acht Monate pro Jahr dauert ihr Winterschlaf in unseren Breiten, unter den Säugetieren ist das der Rekord. In dieser Zeit drosseln die Tiere ihre Körpertemperatur annähernd auf die Aussentemperatur. Steif und starr liegen sie in ihrem Nest, platzsparend eingekugelt, die Ohrmuscheln sind über die Gehörgänge geklappt, der buschige Schwanz ist über Bauch und Kopf gelegt. Das Herz schlägt statt 300- bis 450-mal gerade noch wenige Male pro Minute.
Gefährlich wird es, wenn die Temperatur im Nest unter den Gefrierpunkt fällt. Dann wacht der Bilch auf, um nicht zu erfrieren. Mehrere Stunden dauert der Aufwärmprozess. Schwierig sind aber auch ungewöhnlich lange Wärmeperioden, da die Tiere dann ihre Energiereserven zu schnell verbrauchen. Vorräte legen sie keine an, der angefressene Speck muss ihnen ausreichen, um die lange Zeit durchzustehen.
Das erklärt auch, warum der Siebenschläfer und seine Verwandten so gefrässig sind wie kein anderes Tier – zumindest in den Sommermonaten. Ausgehungert vom Winterschlaf, gilt es jetzt, innerhalb von nur vier oder fünf Monaten das ver-lorene Fett wieder anzufuttern. Dabei bevorzugen die Schlemmer fetthaltige Buchecker und Eicheln, verschmähen aber auch Knospen und Früchte nicht. Auch Insekten oder Schnecken stehen auf dem Speiseplan; bei den Gartenschläfern machen sie vielerorts sogar den grössten Teil der Nahrung aus. So schaffen es die Tiere, ihr Körpergewicht bis zum§ Herbst mehr als zu verdoppeln: von rund 100 auf weit über 200 Gramm. Den fetten Bauch über den Boden schleifend, gleichen sie nun regelrecht watschelnden Fässchen.
Ein Anblick, der, wie es scheint, schon den alten Römern gut bekannt war. Im ersten Jahrhundert nach Christus besang der Dichter Martial den Siebenschläfer: «Winter, dich schlafen wir durch, und wir strotzen vor blühendem Fette, just in den Monden, wo uns nichts als der Schlummer ernährt.» Erfinderisch, wie sie waren, wussten die Römer sich die Gefrässigkeit der Schlafmäuse zunutze zu machen. In Eichen- und Buchenhainen legten sie Gehege an, um Siebenschläfer zu züchten. Sogar Höhlen zum Nisten und Schlafen stellten sie bereit. Im Herbst mästeten sie sie dann in 50 Zentimeter hohen, Dolien genannten Tongefässen. Darin standen den Tieren Nahrung und Wasser im Überfluss zur Verfügung. Waren sie fett genug, gelangten sie als Delikatesse in die Pfanne. Manche Gastgeber liessen das Gewicht der Siebenschläfer gar notariell beglaubigen, bevor sie sie servieren liessen.
In neuerer Zeit wurde der Siebenschläfer nur noch selten in Gefangenschaft gehalten. Alfred Brehm, der Verfasser von «Brehms Thierleben», begründete das im 19. Jahrhundert so: «Sein Wesen ist nicht gerade munter. Er befindet sich fortwährend in gereizter Stimmung, befreundet sich nicht mit seinem Pfleger und knurrt in schnarchender Weise jeden wütend an, der ihm näher kommt. Er muss reichlich gefüttert werden, damit er sich nicht durch den Käfig nagt oder einen seiner Gefährten auffrisst.»
In gereizter Stimmung sind wohl auch die Tiere, die jetzt in Jörg Schlichters Fallen sitzen. Es ist fünf Uhr morgens, kein Laut ist zu hören in den Rebbergen entlang der Mosel. Nur der Forscher ist schon wieder unterwegs und will nun sehen, was in seine Fallen gegangen ist.
Er wird schnell fündig. Schon in der ersten Falle windet sich ein Gartenschläfer, schaut den jungen Mann mit grossen Augen an. Schlichter nimmt einen Apparat hervor, der sich als Scanner erweist. Es piept, und der Biologe weiss, wer vor ihm sitzt: Schläfer Nummer 521'478. Die Zahl ist auf einem Chip gespeichert, der unter der Haut des Tiers sitzt. «Eine Tierärztin chippt alle Schläfer nach dem ersten Fang», erklärt der Forscher. Daneben nimmt sie auch eine kleine Hautprobe, woraus sich später per Gentest die Verwandtschaftsverhältnisse ersehen lassen. Nur so ist zu eruieren, wie sich die Familien mischen, wer wann in welche Reviere eindringt, wer mit wem Junge hat. «Ich habe herausgefunden, dass sich die Streifgebiete der Gartenschläfer stark überschneiden und dass diese sehr standorttreu sind», fasst Schlichter die ersten Ergebnisse zusammen. «Aber ich habe noch keine genetischen Daten und weiss noch nicht, wie stark sich die Familien miteinander vermischen.»
Tier Nummer 521'478 wird nun nervös – der Forscher notiert sich noch das Gewicht und lässt den alten Bekannten ein weiteres Mal frei. Mit Höchstgeschwindigkeit verschwindet der Nager zwischen den Steinen. «Wäre es ein Siebenschläfer, würde er nicht in ein Loch, sondern auf einen Baum flüchten», kommentiert Schlichter. Forscher haben herausgefunden, dass sich Gartenschläfer viel öfter am Boden aufhalten als ihre grossen Verwandten. «Schläfer ist eben nicht gleich Schläfer», sagt der Biologe.
Eine Erkenntnis, die Jürg Paul Müller nur bestätigen kann. Der ehemalige, pensionierte Direktor des Bündner Naturmuseums und Säugetierspezialist ist von den Bilchen schon lange fasziniert, weshalb er in einer Scheune in Malix GR einige Exemplare hält. Es sind jedoch keine Garten- oder Siebenschläfer, sondern Baumschläfer, eine bei uns äusserst seltene Art. «Die Spezies kommt von Sibirien bis S-chanf vor», sagt Jürg Paul Müller und lacht. «In der Schweiz gibt es erst zehn Nachweise, alle aus dem Engadin.» Äusserlich gleichen die Tiere einem Gartenschläfer, aber eben, «der Charakter ist vollkommen unterschiedlich», wie Müller sagt. Während Gartenschläfer wahre Rabauken seien – kräftige, fast schon aggressive Kerlchen –, seien die Baumschläfer viel delikater. «Nicht mal die Apfelhaut wollen sie kauen», konstatiert Müller. Wahre «Finöggeli» eben, «etwas vollkommen anderes». Ehrfurcht klingt in Müllers Stimme mit, Ehrfurcht vor der seltenen Spezies, die niemand so richtig kennt.
Und dann erzählt er von seiner ersten Begegnung mit Dryomys nitedula, dem Baumschläfer. Ein Freund habe ihn damals angerufen: Er habe zwei Schläfer gefunden, auf einem Schiessplatz bei Zernez GR, in einem kleinen Sack, wie er normalerweise für die Aufbewahrung eines Gehörschutzes benutzt wird. Jürg Paul Müller glaubte es nicht so ganz, fuhr dann aber am nächsten Tag trotzdem hin. Der kleine Sack lag noch immer dort – und auch die beiden Schläfer waren drin. Und es handelte sich tatsächlich um Baumschläfer. Sie hatten den Sack zu ihrer Schlafhöhle erkoren. «Es war der dritte Nachweis dieser Art in der Schweiz innerhalb der letzten zehn Jahre», erinnert sich Müller.
Im Moseltal kontrolliert Jörg Schlichter nun bereits die fünfzigste Falle. Neben vielen Rötel- und Gelbhalsmäusen hat er schon 15 Gartenschläfer befreit, alles Wiederfänge – und alles Männchen. «Weibchen sind mir dieses Jahr noch praktisch keine begegnet», sagt Schlichter. Die Frage ist bloss: Warum? Sind sie intelligenter als die Männchen und gehen deshalb nicht in die Falle? Sind sie scheuer? Wollen sie kein Müesli essen? Oder sitzen sie die ganze Nacht mit ihrem Nachwuchs im Nest? «Es ist ein Mysterium», sagt der Biologe.
Klar ist, dass bei den Schläfern im Sommer nicht nur Fress-, sondern auch Fortpflanzungszeit ist. Nach einer lauten wilden Paarung und einer Tragzeit von drei Wochen bringen die Weibchen in einem gepolsterten Nest ihre Jungen zur Welt, meist in einer Baum- oder Felshöhle, in einem Nistkasten oder auf einem Dachstock. Die Jungen sind anfangs nackt und blind und wiegen – je nach Spezies – nur ein bis vier Gramm. Nach drei Wochen verlassen sie das Nest zum ersten Mal, dann beginnt die Pubertätsphase, in der die Jungen die Umgebung erkunden. Nur drei Monate haben sie jetzt Zeit, um sich ihr erstes Winterschlafgewicht anzufressen – bei den jungen Siebenschläfern liegt das bei über 100 Gramm.
Allerdings haben Biologen Erstaunliches herausgefunden: dass die Siebenschläfer nicht jedes Jahr Nachwuchs haben. Und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Zahl der Jungen und den Mastjahren der Eichen und Buchen. Sommer, in denen die Bäume einen Überfluss an Nüssen produzieren, kommen nur alle paar Jahre vor. Die Schläfer haben sich offenbar daran angepasst: In mageren Jahren bringen sie keine oder wenige Junge zur Welt, in Mastjahren viele. Interessant ist, dass die Tiere schon im Frühling wissen, wie viele Nüsse die Bäume im Sommer tragen werden. Wie das möglich ist, ist ein weiteres ungelöstes Rätsel.
Ein Rätsel, das auch Jörg Schlichter gern lüften würde. Doch heute ist er erst mal froh, dass ihm überhaupt ein Siebenschläfer in die Falle gegangen ist. Bei Falle Nummer 157 ist es so weit – ein grosser grauer Bilch ohne Gesichtsmaske sitzt drin. Auf die Hand nehmen will der Biologe das Tier nicht: Beissgefahr. «Auch muss man aufpassen, dass man nicht den Schwanz verletzt», sagt er. Wie die Eidechsen haben die Schlafmäuse am Schwanz eine Sollbruchstelle. Beisst ein Raubtier zu, ist sein einziger Jagderfolg oft nur die abgerissene Schwanzhaut – der Schläfer jedoch entwischt. Dessen nacktes Schwanzskelett trocknet daraufhin aus und fällt ab. Die Haut wächst zwar wieder nach, der Schwanz bleibt allerdings bis zu einem Drittel kürzer.
83 Fallen und eine Stunde später notiert Jörg Schlichter eine letzte Zahl, dann ist Schluss. Es ist neun Uhr, 42 Garten- und zwei Siebenschläfer hat er an diesem Morgen gescannt, gewogen und befreit, dazu ungezählte Mäuse freigelassen. Der Tierärztin muss der Biologe heute keinen Besuch abstatten: Alle Schläfer waren Wiederfänge, also bereits gechippt.
Jörg Schlichter packt zusammen, startet seinen Wagen. Die Siebenschläfer schlafen jetzt. In weniger als zehn Minuten wird der Forscher Gleiches tun.