«Das soziale Netz hat Lücken»
Das Geld fehlt für die Krankenkasse, den Tierarzt oder eine Bestattung: Wie SOS Beobachter helfen kann, sagt Stiftungsmitarbeiter Tolga Yildiz.
Veröffentlicht am 3. Juli 2018 - 12:31 Uhr,
aktualisiert am 5. Juli 2018 - 11:24 Uhr
Beobachter: Die Stiftung SOS Beobachter erhält rund 50 bis 60 Anfragen pro Woche. Was sind die häufigsten Hilfsanfragen?
Tolga Yildiz: Von Sportvereinsbeiträgen und Krankenkassenprämien, welche nicht bezahlt werden können, über die Übernahme von Tierarzt-, Heiz- und Stromkosten bis hin zu Bestattungskosten.
Beobachter: Lassen sich Aussagen machen, in welchen Regionen oder Bevölkerungsschichten besonders viele Menschen unter Geldsorgen leiden?
Yildiz: Die Gesuche treffen von überall aus der Schweiz ein. Es sind aber mehrheitlich Gesuche von «Working Poors», Sozialhilfeempfängern und Rentnern, denen es am Nötigsten fehlt.
Beobachter: Warum geraten so viele Menschen in der reichen Schweiz in Not?
Yildiz: Wenn man wenig auf der Seite hat und wenn unvorhergesehene Ereignisse geschehen, kann dies sehr schnell aufs Budget drücken. Ein Todesfall, eine Trennung, ein Stellenverlust, hohe Arztkosten. Häufen sich Mahnungen und Schulden, machen viele zudem den Fehler und nehmen einen Kredit auf. Schon steckt man tief in der Not.
Beobachter: In den Medien wird manchmal der Eindruck vermittelt, es gebe immer mehr Menschen, die nicht genug zum Leben hätten. Stimmt dieser Eindruck oder sind nur unsere Ansprüche gewachsen?
Yildiz: Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Deshalb lässt sich Armut hier nicht mit Armut in Äthiopien oder Burundi vergleichen. Tatsächlich sind unsere Ansprüche aber auch in den letzten 40, 50 Jahren nochmals gewachsen. Wer bei uns zu wenig Geld hat, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, gilt deshalb als arm.
Beobachter: Oder bekommen vielleicht die Falschen Unterstützung und jene, die sich selber bemühen und trotzdem nur knapp überleben, sind die Benachteiligten?
Yildiz: Ihre Frage impliziert, dass es Leute gibt, die sich ein bequemes Leben auf Kosten anderer ermöglichen wollen. Dem ist nicht so. Seit ich in der Stiftung SOS Beobachter
arbeite, lag noch nie ein Gesuch von jemandem auf meinem Schreibtisch, der auf der faulen Haut liegt. Jeder und jede bemüht sich, dass ein Leben ohne staatliche Hilfe und ohne Unterstützung eines Hilfswerks möglich ist. Nur ist dies leider nicht immer möglich. Dank der Unterstützung der Beobachter-Leserschaft können wir nachhaltige Hilfe leisten und Menschen und Familien Mut und Zuversicht geben.
Beobachter: Die Bundesverfassung garantiert, dass Menschen in Not Hilfe vom Staat bekommen. Weshalb braucht es dennoch zusätzliche Hilfswerke?
Yildiz: Vor einigen Jahren glaubte man, dass Sozialhilfe
ein Auslaufmodell sei. Doch die Sozialversicherungen sparen und seit diese sparen, spart die Sozialhilfe erst recht. Deshalb weist das soziale Netz in der Schweiz Lücken auf. Und genau hier setzt das Hilfswerk SOS Beobachter mit humanitärer Hilfe ein.
Beobachter: Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) gibt Empfehlungen ab, wie hoch die Unterstützung zu bemessen sei. Zuständig sind aber die Kantone. Hier herrscht der Eindruck, es gebe gewaltige Unterschiede…
Yildiz: Die nackte Wahrheit. Leider. Nicht alle Kantone halten sich an die Richtlinien und so herrschen grosse regionale Unterschiede.
Beobachter: Wie reagieren Sie, wenn Sie feststellen, dass ein Gesuchsteller von einer Behörde zu Unrecht an SOS Beobachter weitergeschobe wurde?
Yildiz: Wir halten uns an das Subsidiaritätsprinzip. Wir zahlen keine Spendengelder aus, wenn die öffentliche Hand in der Pflicht steht. Über dieses Prinzip informieren wir die Vermittlungsperson sowie die hilfesuchende Person schriftlich.
Beobachter: Was hat Sie während Ihrer Ausbildung in Ihren ersten Monaten bei uns an der Front am meisten berührt oder überrascht?
Yildiz: In meiner Arbeit darf es nicht darum gehen, was mich am meisten berührt und was nicht. Klar gibt es Schicksalsschläge, welche mir nahe gehen. Aber ich beurteile ein Gesuch nach soziologischen, psychologischen, medizinischen und juristischen Kriterien. Dennoch sind in unserem Job natürlich Empathie und genaues Hinsehen gefragt.
Beobachter: Gibt es auch Hilfsgesuche, für die Sie kein Verständnis haben? Und wie reagieren Sie in solchen Fällen?
Yildiz: Das kam noch nie vor. Von meinem Chef weiss ich, dass er in all den Jahren bloss einmal ein Gesuch bearbeiten musste, das er als Frechheit empfand: Da baute sich jemand ein Einfamilienhäuschen an bester Lage und ersuchte die Stiftung um schicke Designermöbel. Das ist natürlich ein No-Go.
Das Hilfswerk des Beobachters unterstützt jedes Jahr 1400 Menschen in Not. Doch ist die Hilfe wirklich nachhaltig? Zwei Beispiele.