Von der Karibik direkt in den Rollstuhl
Veröffentlicht am 19. März 2001 - 00:00 Uhr
Er sei ganz ruhig gewesen. «Mir war», sagt Ueli Schweizer, «als ob die Zeit stehen bliebe.» Er könne sich die paniklose Reaktion nicht erklären. «In Bauchlage trieb ich in den Wellen. Mein Gesicht war unter Wasser. Ich konnte nicht atmen, nicht um Hilfe rufen, meine Arme und Beine nicht bewegen.» Rückblickend frage er sich selber, weshalb er innerlich nicht ausgerastet sei.
Es hätte nicht viel gefehlt, und der heute 21-Jährige wäre an diesem Septembertag 1999 am Sandstrand in der Karibik ertrunken. Ueli Schweizer wurde Opfer eines Phänomens, das unter 3,5 Millionen Badenden nur einen trifft. Der sportliche junge Mann rannte ins Wasser, hechtete in die erste grössere Welle und ist seither querschnittgelähmt. Keine Klippe war ihm im Weg, und er schlug auch nicht am Meeresgrund auf. Die Kraft der Welle, die in einem ganz bestimmten Winkel auf seinen Kopf einwirkte, genügte, um den vierten, fünften und sechsten Halswirbel zu zertrümmern. «Wenn Winkel und Wasserdruck stimmen, dann passierts», erklärten ihm die Ärzte später im Paraplegikerzentrum Nottwil.
Plötzlich war das Leben sinnlos Zwei Badegäste, Touristen wie Ueli Schweizer und seine Schwester, hievten den Schwerverletzten an Land. «Als ich im Sand lag, kehrte mein Bewusstsein zurück. Ich realisierte, dass ich nichts an mir bewegen konnte.» Finger, Arme und Beine blieben stumm.
Doch auch in diesem Moment sei keine Panik in ihm aufgestiegen. «Das kann ich mir bis heute nicht erklären.» Eine Ambulanz brachte Ueli Schweizer ins nächste Spital – eine zweistündige Fahrt über Schlaglöcher und Bodenwellen. Ein Chirurg, der in den USA studiert hatte, entfernte dem Patienten die Wirbelsplitter und fixierte Kopf und Nacken mit einem unförmigen Eisengestell. Ohne diese Massnahmen hätte Ueli Schweizer nicht überlebt. Fünf Tage nach dem tragischen Unfall trafen Schwester und Bruder mit einem Rettungsjet in Zürich-Kloten ein.
Vater und Mutter Schweizer haben bis jetzt aufmerksam den Erzählungen ihres Sohnes gelauscht. «So ausführlich haben wir dich noch nie über den Unfall sprechen hören», sagt der Vater, und die Mutter nickt zustimmend.
Vater Schweizer schiebt eine Foto über den Tisch. «Das ist Ueli, wenige Wochen nach dem Unfall.» Das Häufchen Elend auf dem Bild hat nichts mehr gemein mit dem Mann, der heute selbstbewusst und zuversichtlich in die Welt blickt. Damals habe er keinen Sinn mehr gesehen im Weiterleben. «Wenn man nicht einmal mehr den Kopf drehen und bloss die Decke anstarren kann, ist es schwierig, eine Lebensperspektive zu haben.» Vor den verhängnisvollen Ferien galt Ueli Schweizers Leidenschaft dem Rennvelo. Er war ein eigentliches Radsporttalent und fuhr im Nationalkader 1 U23. Man sah in ihm die Medaillenhoffnung von morgen. «Ich wäre gern Radprofi geworden», sagt er. Dennoch könne er heute unbekümmert Velorennen im Fernsehen verfolgen. «Ich freue mich für meine Kollegen, wenn sie gut abschneiden», sagt er.
Ueli Schweizer musste sich ganz neu orientieren. Mit beharrlichem Training lernte er, sich in seinem gelähmten Körper zurechtzufinden. Eine weitere Prüfung stellte sich ihm, als er ins Haus seiner Eltern zurückkehrte. «Ich war so abhängig, überall taten sich mir und meinem Rollstuhl unüberwindliche Barrieren auf. Das machte mir arg zu schaffen.» Ein behindertengerechter Umbau des Hauses, den SOS Beobachter mit andern Organisationen finanziell mittrug, war unumgänglich. Dank eingebautem Lift und Anpassungen in Küche und Badezimmer fand der Tetraplegiker zur grösstmöglichen Selbstständigkeit zurück.
Statt Beinmuskeln trainiert Ueli Schweizer seit August seine Hirnzellen: Er holt die Matura nach, um sich ein breites Spektrum an beruflichen Möglichkeiten offen zu halten. Und sagt voller Zuversicht: «Jetzt kann ich vorwärts schauen.»