Wer nimmt es mit ihr auf?
Die elfjährige Gohar Tamrazyan aus dem Aargau hat das Zeug zur Schachmeisterin. Ihr Vater etwa hat schon seit Jahren keine Chance mehr gegen sie.
Veröffentlicht am 3. August 2015 - 14:24 Uhr
Konzentriert sitzt Gohar Tamrazyan vor dem Brett. Sie überlegt ausgiebig, bevor sie eine Figur zieht. Die Elfjährige spielt gerade im Final bei den Schweizer Jugend-Schachmeisterschaften in Riehen BS. Der Kampf ist hart an diesem Morgen Anfang Juli: In jeder Kategorie messen sich die 16 Besten der Schweiz, die zierliche Gohar mittendrin. Seit ihrem sechsten Lebensjahr spielt sie regelmässig Schach, widmet sich täglich zwei bis drei Stunden intensiv dem Strategiespiel. Kaum sind die Hausaufgaben fertig, vertieft sie sich in Schachbücher, während andere lieber in die Badi gehen oder sich mit Freundinnen treffen.
«Ich gehe sehr gern zur Schule», sagt Gohar. «Und danach Schach zu üben macht mir einfach Spass.» Sie fühlt sich deswegen nicht anders als ihre Schulkolleginnen: «Wir haben alle ein Hobby. Die anderen haben einfach ein anderes als ich», sagt sie schulterzuckend. Sogar in den Ferien beschäftigt sie sich mit Rochaden, Bauernketten und Flankenspiel. Erst kürzlich hat sie an einem zehntägigen Schachlager in Leukerbad teilgenommen. «Dort konnte ich jeden Tag Schach spielen, gegen Kinder und gegen Erwachsene. Das war super.»
Gohar kam 2011 als Siebenjährige mit ihrer Familie aus Armenien in die Schweiz. Sie wurde im Kanton Solothurn in die erste Klasse eingeteilt und fiel schon bald als sehr gute Schülerin auf: Sie lernte in Rekordzeit Deutsch, übersprang bereits nach einem knappen Jahr eine Klasse. 2014 zog die Familie nach Deutschland, kehrte nach einem Jahr aber zurück in die Schweiz, in die Nähe von Aarau, wo die Mutter Arbeit gefunden hatte. Sehr zur Freude von Gohar: «Es hat mir in Deutschland nicht so gut gefallen, die Leute in der Schweiz sind viel netter», sagt sie.
Sie musste sich an einem neuen Ort und an einer neuen Schule einleben. Aber das scheint für die Elfjährige kein grosses Problem zu sein. Auch der Unterricht bereitet ihr kaum Mühe. Sie ist stark in Mathematik, interessiert sich für Fremdsprachen. Mit dem Computer bringt sie sich in der Freizeit selber Russisch bei; die kyrillischen Buchstaben beherrscht sie bereits.
Gohars Welt, die Welt des Schachs, zeigt sich auch in ihrem Zimmer. Die grosse Weltkarte an der Wand und die Klassenfotos findet man wohl auch bei Altersgenossinnen, die Bibliotheksbücher und den aufgeschlagenen «Harry Potter» ebenso. Doch überall verteilt sind mehrere Schachbretter in verschiedenen Grössen – Gohar studiert und trainiert gerade die Französische Verteidigung, eine Folge von Zügen, um das Spiel zu eröffnen. Sie analysiert auch Partien von grossen Spielern im Internet. «Das ist interessant, so kann ich viel lernen», sagt Gohar. Manchmal spielt sie im Netz auch eine Partie gegen reale Gegner. Oder via Skype mit ihrer Tante in Armenien. «Sie ist Schachtrainerin und trainiert ganz viele Kinder», sagt Gohar. Stolz schwingt mit in ihrer Stimme.
Jeden Freitagabend trainiert die Elfjährige zudem im Schachklub Aarau und spielt dort auch gegen Erwachsene. Gut zweimal pro Monat kommt ihr Privattrainer Roberto Schenker zu ihr, kontrolliert und korrigiert Gohars Schachaufgaben, trainiert mit ihr. Er ist eine wichtige Unterstützung und Motivation und besorgt den nötigen Nachschub an Schachbüchern. «Ohne privaten Trainer ist es schwierig, sich im Schach weiterzuentwickeln und an die Spitze vorzudringen», sagt Ararat Tamrazyan, Gohars Vater. Auch er spielt Schach, gibt aber schmunzelnd zu: «Gegen Gohar habe ich schon seit drei Jahren keine Chance mehr.»
Gohars grosses Ziel: an die Weltspitze vordringen. «Ich möchte Europa- oder sogar Weltmeisterin werden.» Als Schweizer Meisterin 2014 in der Kategorie U10 kann sie schon einen beachtlichen Erfolg vorzeigen. Sie nimmt regelmässig an Turnieren in der Schweiz und im näheren Ausland teil. Ihr Vater stellt den Turnierplan zusammen, organisiert Teilnahme, Reise und Unterbringung. Dann kann Gohar sogenannte Elopunkte erspielen – sie dienen als Messgrösse für die Spielstärke. Gohar hat bereits 1692 Punkte erspielt.
Den Höhepunkt dieses Jahres hat die Elfjährige noch vor sich: Sie fährt diesen Herbst nach Griechenland, an ihre erste Weltmeisterschaft. Allein die Teilnahme ist schon eine Auszeichnung; es ist immerhin der Schweizerische Schachbund, der entscheidet, wer an internationale Meisterschaftsturniere reisen darf. «Ich freue mich schon jetzt riesig», sagt Gohar. Ihr nächstes Projekt ist es, an die Spitze der Kategorie U12 aufzuschliessen. Mit dem elften Platz an der Schweizer Meisterschaft, den sie schliesslich herausholt, ist der Anfang schon mal gemacht.