Die Lotterie der Raser
Auswuchs des Kantönligeistes: Glückssache, wie hart man als Verkehrssünder angefasst wird.
Veröffentlicht am 19. Januar 2004 - 13:10 Uhr
Kurz nicht aufgepasst – und die Falle schnappte zu. Albert H. war bei Othmarsingen in schneller Fahrt unterwegs und überholte eine zivile Polizeistreife. Die Messung ergab eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 41 Kilometern pro Stunde. Zudem hatten die Beamten beobachtet, wie H. zu nahe auf vorausfahrende Autos aufschloss. Das Bezirksgericht Lenzburg verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von sieben Tagen und zu einer Busse von 4000 Franken.
Albert H. rekurrierte bis vor Bundesgericht – unter anderem mit dem Argument, das Aargauer Urteil sei im Vergleich zur Strafpraxis anderer Kantone zu streng. Das Bundesgericht lehnte den Rekurs ab: Die Strafverfolgung sei grundsätzlich Sache der Kantone; dies berge auch das Risiko, dass Delikte in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich geahndet würden.
Offizielle Vergleichsdaten gibt es nicht
Die Schweiz führt minuziös Buch über die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh, die prozentuale Zusammensetzung der Haushaltsabfälle oder über das Bettenangebot in den Jugendherbergen. Offizielle Daten über die von Kanton zu Kanton verschiedenen Strafen für Verkehrsdelikte existieren hingegen nicht. Der Beobachter wollte es genau wissen und schickte den Staatsanwaltschaften sämtlicher 26 Kantone Fallbeispiele von Strassenverkehrsdelikten – mit der Bitte um Angabe der Strafen, die im jeweiligen Kanton verhängt werden. Drei Kantone verweigerten die Antwort: Genf, Neuenburg und Schaffhausen.
Die Beobachter-Umfrage zeigt: Die Strafpraxis bei Strassenverkehrsdelikten im Aargau ist im Vergleich mit anderen Kantonen tatsächlich ausserordentlich streng. So verhängen die Aargauer Strafbehörden als einzige in der ganzen Schweiz bei einer innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung von 31 Kilometern pro Stunde eine Freiheitsstrafe: 14 Tage sowie eine Busse von 1600 Franken. Der Nachbarkanton Baselland und die Waadt ahnden dasselbe Delikt mit einer Busse von nur gerade 600 Franken.
Ähnlich markant unterscheiden sich die Strafmasse bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung 1von 46 Kilometern pro Stunde auf der Autobahn. Aargau, Basel-Stadt, Bern und Jura verhängen für dieses Delikt eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und dreissig Tagen sowie eine Busse. Viel milder urteilen Baselland, Solothurn, Waadt und Wallis: In diesen vier Kantonen kommt man mit einer Busse von 700 bis 800 Franken weg.
Konfrontiert mit den Ergebnissen der Umfrage, zeigt sich der Erste Staatsanwalt des Kantons Aargau erleichtert: «Immer wieder wird der Justiz der Vorwurf gemacht, sie sei zu lasch», sagt Erich Kuhn, «dieser Vorwurf trifft offenbar auf den Aargau nicht zu.» Der Walliser Staatsanwalt Jean-Pierre Gross relativiert die tiefen Bussen in seinem Kanton mit dem Hinweis darauf, dass das Wallis «nicht sehr reich» sei. Ausserdem gehöre es nicht zur Kultur des Wallis, die «Staatskassen mit Bussengeldern zu füllen». Handlungsbedarf sieht hingegen Stephane Parrone, Stellvertreter des Waadtländer Staatsanwalts: «Die Ergebnisse haben uns erstaunt. Solche Unterschiede hätten wir nicht erwartet. Wir werden Konsequenzen ziehen.»
Wie krass die Unterschiede bei den Strafmassen sind, zeigt sich am Beispiel einer Autofahrt von Engelberg nach Zürich. Die Strecke ist nur rund 90 Kilometer lang, führt aber durch fünf Kantone. Wer diese Fahrt mit 1,7 Promille Alkohol im Blut in Angriff nimmt und erwischt wird, den erwarten ungleich hohe Strafen: Im Startkanton Obwalden drohen zwölf Tage Gefängnis und eine Busse von 3350 Franken; im Nachbarkanton Nidwalden wird das Vergehen mit 2500 Franken gebüsst; der Kanton Luzern ahndet das Delikt mit zehn Tagen Gefängnis und 1500 Franken Busse, der Kanton Zug mit zehn Tagen Gefängnis und einer Busse von 2100 Franken. Am härtesten bestraft der Kanton Zürich Alkoholsünder: 45 Tage Gefängnis und eine Busse von 1200 Franken.
«Für die Betroffenen sind solche Unterschiede zwar störend. Sie sind aber eine Konsequenz des Föderalismus», sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli. Die Gerichte würden sich in Bezug auf die Strafzumessung kaum über die Kantonsgrenze hinaus austauschen. «Es ist ein Informationsproblem.»
Die Grenzen des Bundesgerichts
Der Einfluss des Bundesgerichts ist beschränkt. «Wir sehen es zwar als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass sich die Strafzumessung in den einzelnen Kantonen nicht gross unterscheidet», so Hans Wiprächtiger, Bundesrichter in Lausanne und gemeinsam mit Niggli Herausgeber eines Standardkommentars zum Strafgesetzbuch. Doch die höchste richterliche Instanz in Strafsachen in der Schweiz ist ein Kassationsgericht: Das Bundesgericht kann zwar Urteile der vorgängigen Instanz aufheben und zur Neubeurteilung zurückweisen, nimmt selber aber keine Strafzumessung vor. Ausserdem werden Urteile nur kassiert, wenn eine falsche Rechtsanwendung stattfand, der richterliche Ermessensspielraum strapaziert wurde oder eine Strafe unhaltbar hart ausfiel.
Das Strafgesetzbuch räumt den kantonalen Richtern bei Strassenverkehrsdelikten viel Ermessensspielraum ein: Der Strafrahmen reicht von einer minimalen Busse bis zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren. «Das ist unbefriedigend», kritisiert Horst Schmitt, Luzerner Staatsanwalt und Mitglied der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz. Schmitt leitet eine Arbeitsgruppe, die harmonisierte Strafmassrichtlinien für wichtige Strassenverkehrsdelikte erarbeiten soll. Ziel ist eine landesweite Angleichung der Strafmasse. Umgesetzt werden sollen die neuen Richtlinien mit dem Inkrafttreten des revidierten Strafgesetzbuchs im Jahr 2006. Bis dahin wird der Kantönligeist in der Justiz weiterhin merkwürdige Blüten treiben.