«Löwen fressen keinen Tofu»
Was passiert mit den Löwenjungen im Basler Zolli, wenn sie nicht mehr klein und putzig sind? Wie viele Tiere müssen eigentlich in Schweizer Zoos sterben?
Veröffentlicht am 6. März 2014 - 10:41 Uhr
«Sie warfen ihn den Löwen zum Frass vor», titelte der «Blick», nachdem der Kopenhagener Zoo im Februar den jungen Giraffenbullen Marius getötet und ihn den Raubtieren verfüttert hatte. Die Leserkommentare waren voller Empörung: Diesen Tierpfleger sollte man hinrichten! Den Zoodirektor erschiessen! Man hätte das Weibchen doch sterilisieren können! Vorsichtigere Stimmen meinten: Muss man so etwas an die grosse Glocke hängen?
Man muss, unbedingt, sagt Olivier Pagan, Direktor des Basler Zolli. Dort tollen im Moment vier kleine Löwenjungen herum, die im November zur Welt gekommen sind. «Im Zeitalter von Facebook reicht es, wenn ein Besucher ein Jungtier fotografiert und ein anderer ein Jahr später fragt, was eigentlich aus diesem geworden ist. Dann gehen die Mutmassungen los und damit die Anschuldigungen», sagt Pagan. «Wir haben keine andere Wahl, als möglichst viel und ehrlich zu kommunizieren.»
Auch wenn diese Offenheit manchmal wehtut. Vor allem, weil das Publikum gewisse Aspekte eines Tierlebens nicht sehen will. «Fressen und gefressen werden» ist die Kurzform allen Lebens – oder auch «geboren werden und sterben». Dabei finden wir «fressen» und «geboren werden» weitaus sehenswerter als «sterben» und «gefressen werden». Die Basler Löwenbuben stehen exemplarisch dafür: Schon bevor die noch namenlosen Kätzchen in die Aussenanlage durften, konnten die Zolli-Besucher sie über einen Bildschirm bewundern. Ab Februar konnte man die vier drolligen Kerlchen dann mit etwas Glück draussen beim Spielen beobachten – ein Publikumsmagnet.
Die vier Jungen sind der erste Löwennachwuchs im Basler Zoo seit dem Sommer 2007. Damals kamen ebenfalls vier Junge zur Welt. Von ihnen lebt heute noch ein Tier: Zwei seiner Geschwister wurden in Basel eingeschläfert, eines starb dort später an einer Krankheit. Nach diesem Wurf setzte man den beiden Weibchen im Zolli Hormonimplantate ein, damit sie nicht gleich wieder trächtig würden. Der Plan war, diese Implantate nach einer Weile wieder zu entfernen, doch sie gingen in den Körpern der Löwinnen auf Wanderschaft. Nun hatten sie offensichtlich keine Wirkung mehr.
«Wir stellen das Wohl unserer Tiere über alles. Und die Aufzucht von Jungtieren ist ein wichtiger Teil des Lebens eines Wildtiers», sagt Olivier Pagan. Vieles, was zu einem Leben in der Wildnis gehört, lässt sich im Zoo ohnehin nicht nachstellen – Jagd, Revierkampf, Überlebenskampf.
Nachwuchs ist für einen Zoo eine Auszeichnung und gleichzeitig aber auch eine Herausforderung: Denn nur wenn es den Tieren in Gefangenschaft gut geht, vermehren sie sich – sonst nicht. 1959 kam in Basel das Gorillamädchen Goma zur Welt, europaweit das erste in Gefangenschaft. Goma war sofort der Liebling der Zoobesucher; heute ist sie eine betagte Dame und lebt noch immer im Zolli.
Ein Zoodirektor weiss oft schon vor der Geburt eines Tieres, wo dieses einmal leben wird. Das war 2007, als die letzten Löwenjungen in Basel zur Welt kamen, noch nicht so. Unterdessen haben sich in Europa rund 300 Zoos miteinander vernetzt und arbeiten zusammen, damit möglichst alle Jungtiere platziert werden können. Geld fliesst keines, es soll kein Tierhandel entstehen, und begehrte Jungtiere sollen nicht einfach an den Meistbietenden verschachert werden. Wenn man zum Voraus schon weiss, dass junge Löwen nirgendwo einen Platz bekommen, verzichtet man möglichst auf eine Zucht.
Das ist allerdings nicht immer so einfach, wie das Basler Beispiel zeigt. Unterbinden möchte man Wildtiere im Zoo lieber nicht: «Wenn wir Tiere unterbinden oder kastrieren, laufen wir Gefahr, eine Population einfach auszurotten», sagt Zolli-Direktor Pagan. Ausserdem lässt sich die Natur nicht bis ins Detail planen, wie gut vernetzt man auch immer ist. «Einen Einfluss darauf, wie gross ein Wurf ist und wie viele Männchen und Weibchen auf die Welt kommen, hat man doch nicht.»
Im Zoo Zürich vermehren sich laut Direktor Alex Rübel heute alle Säugetiere – mit einer Sterblichkeitsrate von gegen null Prozent. Vor ein paar Jahren noch kamen im Zürcher Zoo pro Jahr bis zu 400 Tierbabys zur Welt. Heute betreibt man Familienplanung, allerdings mit Weitsicht: Sowohl der Zürcher wie der Basler Zoo lassen ihre Tiger- und Löwenweibchen in der Regel zweimal im Laufe ihres Lebens Junge bekommen. Allerdings muss sehr darauf geachtet werden, dass die genetische Vielfalt erhalten bleibt, sonst tut man der Tierart keinen Gefallen.
Auch hier hilft der internationale Austausch weiter – oder, wenn das aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, eben die Tötung, wie beim jungen Kopenhagener Giraffenbullen Marius. Auf die Gefahr hin, dass der Zoo dafür angefeindet wird: «Wir tun einer Tierart keinen Gefallen, wenn wir Inzucht zulassen», sagt Olivier Pagan, «auch wenn die Tötung eines Tieres manchmal schwer zu verstehen ist.» Ihm fällt auf, dass die kleinen Besucher des Kinderzoos, die in Basel regelmässig mit Tieren arbeiten und auch entsprechend informiert werden, viel gefasster auf solche Einzelfälle reagieren als ihre Eltern. «Kinder verstehen vieles, man muss es ihnen nur richtig erklären», sagt er.
Doch in der Regel bleiben Jungtiere heute am Leben, sonst hätte Marius nie eine solche Medienwelle ausgelöst. «Unsere Tiere gehen ausschliesslich in Zoos, deren Tierschutz-Standards den schweizerischen mindestens ebenbürtig sind», sagt Alex Rübel. Pro Jahr verlassen rund 300 Jungtiere seinen Zoo, etwa 250 kommen aus anderen Tierparks dazu. Im Moment hofft man in Zürich auf einen Elefantenbullen. In der neuen, grösseren Anlage hätte es jetzt Platz. Das wissen die anderen Zoos in Europa. Vom letzten Wurf Löwenkinder in Zürich ist heute eines in England, eines in Frankreich und eines in Finnland. «Es kommt vor, dass jemand von uns an den neuen Wohnort des Tieres reist, um zu sehen, wie es ihm geht.»
Doch trotz oder gerade wegen aller Tierliebe: Wer Tiere züchtet, muss auch Tiere töten, darin sind sich Alex Rübel und Olivier Pagan einig. Auf die fast 7000 Tiere, die im Zolli leben, sind im letzten Jahr 20 Schlachtungen mit anschliessender Verfütterung gekommen; die selber gezüchteten Futtermäuse oder Heuschrecken nicht mitgezählt. Ausserdem wurden in Basel 129 verstorbene Tiere obduziert – um ansteckende Krankheiten auszuschliessen, die die Gesundheit anderer Tiere der Gruppe gefährden könnten.
«Wir wollen Tiere auf möglichst naturgetreue Weise zeigen, sie nicht einfach ausstellen; dafür sind die naturhistorischen Museen zuständig», sagt Pagan. Deshalb hält er es dezidiert mit dem Kopenhagener Zoo, der den Giraffenbullen Marius den Löwen verfüttert hat, und noch dazu öffentlich: «Ein Löwe frisst nun mal keinen Tofu, sondern Fleisch. Und auch nicht zubereitetes Katzenfutter, sondern richtige Stücke von echten Tieren.» Manchmal nerven ihn die Reaktionen des Publikums: «Bei der Pinguinfütterung schauen die Leute liebend gerne zu – tote Fische sind offenbar kein Problem. Wenn eine Schlange eine Ratte zu fressen bekommt, ist auch alles in Ordnung. Aber wehe, wir verfüttern eine süsse kleine weisse Maus!»
Was mit den vier neugeborenen Löwenjungen in Basel passieren wird, ist noch unklar, zumal man nicht genau weiss, welche der beiden erwachsenen Löwinnen wie viele zur Welt gebracht hat. Das müssen Gentests klären. Olivier Pagan sagt: «Sicher ist: Mutwillig wird bei uns ganz sicher kein Tier getötet. Aber wenn wir der Ansicht sind, dass es für das Tier besser ist, dann tragen wir die Konsequenzen.»