Aus Schutt und Schrott gebaut
Einst wurden Bauschutt und Metallschrott, die beim Umbau und Abbruch von Häusern anfielen, auf der Deponie entsorgt. Heute bauen innovative Bauherren und Architektinnen damit neue Gebäude.
Veröffentlicht am 29. März 2019 - 14:44 Uhr,
aktualisiert am 29. März 2019 - 10:15 Uhr
Die Schweiz sei arm an Rohstoffen, heisst es immer. Stimmt nicht ganz – denn lange wurden gewisse Rohstoffvorkommen nicht erkannt. Die Rede ist nicht von den Steinen des Jurakalks, dem Holz der Wälder oder dem Wasser aus Quellen und Gletschern – sondern von Rohstoffvorkommen in den Städten und Agglomerationen: Eisen, Kupfer, Kies, Stein, Beton, Holz, Stahl, Sand und vieles mehr sind dort in den Gebäuden zu finden. «Rund 1500 Millionen Tonnen Baumaterialien werden damit im Gebäudepark quasi zwischengelagert», sagt David Hiltbrunner, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion Rohstoffkreisläufe beim Bundesamt für Umwelt (Bafu).
Mit «zwischengelagert» meint er, dass diese Rohstoffe bei Umbauten oder Abrissen von Gebäuden wieder verfügbar werden. Das Bauwerk Schweiz stellt also sozusagen eine riesige Rohstoffmine dar. Den Rückbau von Gebäuden – von Abriss spricht man heute kaum mehr – und die Wiederverwertung der dabei gewonnenen Stoffe nennt man deshalb auch «Urban Mining»: Bergbau im städtischen Bereich.
Mit rund 8 Millionen Tonnen machen die mineralischen Stoffe den grössten Teil des jährlich anfallenden Abfalls aus dem Hochbau aus. Dazu gehören unter anderem Beton, Back- und Ziegelsteine. Diese werden gesammelt, um daraus möglichst ressourcenschonend wieder neue Gebäude zu erstellen.
Im Minutentakt fahren die Laster scheppernd auf die Eingangswaage: vom grossen 32-Tönner über den 1,5-Tonnen-Lieferwagen bis hin zum Kleinbus. Das Bauabfallrecycling-Unternehmen Debag beim Güterbahnhof in Zürich zählt täglich rund 350 Anlieferungen. Pro Jahr sammelt das zur Spross-Gruppe gehörende Unternehmen gut 135000 Tonnen Bauabfälle. Nach dem Wägen begutachtet ein Debag-Mitarbeiter die angelieferten Materialien und weist diese der richtigen Entsorgungsstelle auf dem Areal zu. Am Schluss werden die leeren Transporter nochmals gewogen, und je nach Art der abgeladenen Bauabfälle ist ein entsprechender Preis zu bezahlen.
Eine Tonne vermischtes Sperrgut kostet etwa 270, Holz 150 und Beton 10 Franken. Die Preise orientieren sich an der Verwertbarkeit der Stoffe und am Aufwand für die Sortierung. Denn das Sammeln von Bauschutt ist nur das eine, das Sortieren des Abfalls das andere, wichtigere – nur sortenreine Stoffe können richtig rezykliert oder verwertet werden.
Bauabfälle werden erst seit den neunziger Jahren als wertvolle Rohstoffe gesammelt und sortiert. Davor wurde das Material grösstenteils in Deponien entsorgt und damit der Kreislaufwirtschaft entzogen. Heute schreibt der Bund in der Verordnung über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen (VVEA) eine Verwertungspflicht für Bauabfälle vor. Damit werden hauptsächlich zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen natürliche Ressourcen geschont werden, etwa indem durch das Rezyklieren von Beton Primärbaumaterialien wie Kies und Sand eingespart werden können. Zweitens soll weniger Material abgelagert werden, da der Bau von neuen Deponien schwierig durchzusetzen ist und das Landschaftsbild negativ beeinflusst.
Die Hauptaufgabe der Debag in Zürich ist die Sortierung des angelieferten Bauschutts. Erstes Augenmerk gilt neben den Sonderabfällen wie Farben oder Gasflaschen den Metallen, denn dieser Schrott ist etwas wert – für beide Seiten. Die Zulieferer erhalten etwa pro Tonne Alteisen 80 Franken, für die Tonne Sammelkupfer sind es sogar 3400 Franken. Aber auch die Debag profitiert: Sortenreine Metallfraktionen kann sie mit einer guten Marge weiterverkaufen.
Eine Tonne Sammelkupfer sind 3400 Franken wert
Mineralische Abfälle wie Beton, Ziegel- oder Backsteine landen in grossen Aussenbunkern. Über diesen thront ein Bagger, der die allzu grossen Brocken mit einem Beisser zerkleinert, den Beton mittels Magnet vom Armierungseisen befreit oder falsch deponierten Abfall mit dem Sortiergreifer in die richtige Mulde befördert.
Während im Hintergrund, ennet den Geleisen, der propere Prime Tower das Sonnenlicht reflektiert, knirscht, kracht und ächzt es hier. In die Nase steigt einem der von Baustellen bekannte Geruch nach Zement, Wasser und Staub. Aus den mineralischen Abfällen kann schliesslich ein Granulat gewonnen werden, das zur Herstellung von neuen Baustoffen dient – beim Recyclingbeton werden damit beispielsweise Kies und Sand ersetzt.
Um einiges aufwendiger ist die Sortierung von Bausperrgut, das aus ganz unterschiedlichen Abfällen besteht, die auf Baustellen anfallen. Dieser Mix landet bei der Debag im Materialbunker, wo mit zwei Elektrobaggern eine erste Grobsortierung vorgenommen wird. Ihre Greifer, dem Quadratschädel eines Tyrannosaurus Rex nicht unähnlich, verbeissen sich im Abfall und trennen grosse Steine, Betonbrocken und Eisen fürs Recycling vom restlichen Material.
Die gefrässigen Monster sortieren auch Holz und anderes brennbares Material aus. Dieses gelangt in den 710 PS starken Elektroschredder und wird darauf per Bahn in Kehrichtheizkraftwerke zur Strom- und Wärmeproduktion transportiert. Das übrig gebliebene Sperrgut wird mit Siebtrommeln als Erstes nach Grösse sortiert. Die kleineren Materialien passieren dann einen Magnetabscheider, der das Metall aussortiert, und ein Gebläse separiert leichteres Material wie Holz, Plastik und Papier vom Rest. Sämtlicher Abfall, der grösser als 25 Zentimeter ist, gelangt auf ein Förderband, wo Debag-Mitarbeiter mit geübtem Auge die Materialien schliesslich von Hand sortieren.
Modellrechnungen des Bafu zeigen, dass heute rund zwei Drittel der Bauabfälle rezykliert und verwertet werden, ein Drittel landet nach wie vor auf Deponien. Für die Zukunft peilt das Bafu eine kontinuierliche Erhöhung der Recyclingquote an. Dies ist auch nötig, denn die Bauabfälle aus Rückbau und Sanierungen werden künftig noch zunehmen. Und es ist auch sinnvoll, da heute trotz allem noch wenig mit aus Schutt und Schrott wiederaufbereitetem Material gebaut wird.
Laut Hiltbrunner liegt der jährliche Baustoffbedarf in der Schweiz bei rund 67 Millionen Tonnen. Davon würden rund 15 Prozent durch Recyclingmaterial gedeckt. Dieser relativ tiefe Wert mag unter anderem damit zu tun haben, dass der Recyclingbeton noch nicht überall in der Baubranche akzeptiert ist – nicht zuletzt, weil er etwa gleich viel kostet wie Primärbeton. Qualitativ kann er jedoch mithalten. Und das Gute an diesem Rohstoff ist, dass er immer wieder rezykliert werden kann – also nie aus der Kreislaufwirtschaft herausfällt.
Einzigartig, was auf dem Lagerplatz-Areal in Winterthur entsteht – die viergeschossige Aufstockung der ehemaligen Industriehalle K. 118 wird zu rund 80 Prozent mit einem Potpourri aus alten Bauteilen erstellt. Diese stammen von Gebäuden, die abgerissen wurden. Der Stahl für das Grundgerüst kommt beispielsweise von einem Abbruch in Basel. Zu den externen Laubengängen, die aus einem ehemaligen Hochregallager in Uster konstruiert werden, führt eine Treppe, die vom Bürogebäude Orion in Zürich stammt – wie auch ein Teil
der Fenster und Fassadenplatten aus Granit. Letztere werden in Winterthur zu Balkonböden umfunktioniert. Und die rote Wellblechfassade der Aufstockung zierte einst das Gebäude der ehemaligen Druckerei Ziegler in Winterthur
Hinter diesem Pionierprojekt stehen als Bauherrin die Basler Pensionskasse Stiftung Abendrot und das in Basel und Zürich ansässige Baubüro in situ. Die Architektin Barbara Buser ist bei in situ für das Projekt am Lagerplatz verantwortlich. Die 64-Jährige gründete bereits Mitte der neunziger Jahre die ersten Bauteilbörsen in der Schweiz und ist dem Thema bis heute treu geblieben. Viel Zeit brauche es für ein solches Projekt wie in Winterthur, sagt sie.
Immer müsse man die Augen offen halten: Wo wird wann was abgerissen? Daraufhin müsse man die Bauherren des Abbruchobjekts für sich gewinnen. Bezahlt wird für die alten Bauteile nichts, dafür sparen die Gebäudebesitzer die Entsorgungskosten. Gratis sind die Teile trotzdem nicht: Der Aufwand für die Suche will bezahlt sein, die Demontage auch, genauso wie der Transport, die Wiederaufbereitung sowie die Lagerung. Rund 360 000 Franken hätten sie für die Bauteile zum Projekt «K. 118» aufgewendet. «Der Neuwert liegt bei gut 1,2 Millionen Franken», sagt Buser.
Aufgrund des grösseren Planungsaufwands wird die Aufstockung der Industriehalle nicht viel günstiger als in konventioneller Bauweise. Aber deutlich umweltfreundlicher und mit unverwechselbarer Optik. «Statt zu rezyklieren, ist es ökologisch sinnvoller, Bauteile wieder zu verwenden – damit lässt sich viel graue Energie vermeiden», sagt David Hiltbrunner vom Bundesamt für Umwelt (Bafu).
Kein Wunder, wird das Projekt auch vom Bafu, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der ETH Zürich begleitet. 2020 soll die Aufstockung bezugsbereit sein. Barbara Buser hofft, dass das Patchworking mit alten Teilen zur Normalität wird. Dafür brauche es innovative und mutige Bauherren, sagt die Architektin.