Flugstunden für den Bartgeier
Lange gab es in den Alpen keine Bartgeier mehr, nun kehren sie zurück. Mit behutsamer Unterstützung von Menschen wie Franziska Lörcher.
Veröffentlicht am 9. September 2021 - 07:35 Uhr
Halb fünf Uhr morgens. Franziska Lörcher füllt einen Eimer mit fünf Kilo Knochen und Fleisch. Das Reh, das bei einem Autounfall ums Leben kam, ist voller «Madli» – nichts für den nüchternen Magen. Mit dem Kübel stapft sie durch die Dunkelheit, vorbei an hartnäckigen Schneefeldern, hoch zum Hang, an dem zwei junge Bartgeier schlafen. Möglichst leise kippt sie das Fleisch zwischen die Felsen und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. Eine Stunde später sitzt die 41-Jährige am gegenüberliegenden Hang und beobachtet, wie die Vögel mit der Sonne erwachen.
Ende Juni sind sie nach Melchsee-Frutt OW gekommen: die Biologin aus Zürich, die Bartgeier aus Frankreich und Spanien. Seither ist ein Monat vergangen. «Jetzt beginnt die spannendste Zeit», sagt Franziska Lörcher. Dann hält sie inne, zückt einen Stift und bewegt die Lippen beim Zählen. Acht, neun, zehn Flügelschläge. Donna Elvira reckt den Kopf in die Höhe und flattert, ohne sich von der Stelle zu bewegen – Flugübungen. Je öfter das Weibchen seine Muskeln trainiert, umso eher wird es ausfliegen. «BelArosa war gestern zum ersten Mal in der Luft. Ganze zwei Minuten, eine stolze Runde.»
Die Geier haben ihre Namen von Sponsoren und sind Teil eines internationalen Wiederansiedlungsprojekts. Mit dabei sind 40 Zoos und Zuchtstationen, in denen Bartgeier zwischen Dezember und März ihre Eier legen. Ein Teil der Jungtiere wird nach drei Monaten ausgewildert. Ob sie nach Frankreich, Österreich oder in die Schweiz kommen, entscheidet eine Prioritätenliste: Wie viele brüten in einem Gebiet? Welches Geschlecht und Alter haben sie? Wie ist der genetische Hintergrund? Das oberste Ziel: möglichst grosse genetische Vielfalt im Alpenraum. In der Schweiz ist die Stiftung Pro Bartgeier für Wiederansiedlung und Schutz zuständig.
Erholungsurlaub im Tierpark
Auch Donna Elvira und BelArosa mussten in der Corona-Zeit aufs Flugzeug verzichten und reisten 24 Stunden im Auto. Im Natur- und Tierpark Goldau konnten sich die beiden erholen, wurden markiert und mit GPS ausgestattet. Das neue Zuhause in Melchsee-Frutt bezogen sie am 27. Juni. Erschöpft von der langen Reise schliefen und frassen sie in den ersten zwei Tagen hauptsächlich. Noch sind die Federn der jungen Vögel dunkelbraun bis schwarz. Erst nach einigen Jahren werden der Kopf, der Hals und die Körperunterseite weiss bis rostrot. Ausgewachsen wiegt der grösste Vogel der Alpen fünf bis sieben Kilo, seine Flügel haben eine stolze Spannweite zwischen 2,6 und 2,9 Metern.
In der Schweiz wurden die ersten Bartgeier 1991 im Engadin ausgewildert. Damals schon mit dabei: Franziska Lörcher, elf Jahre alt. Im Sommerlager verliebte sich das Mädchen in die Riesen mit den roten Augen. Jahre später schrieb sie ihre Maturaarbeit über Bartgeier und studierte Biologie. Die Bachelorarbeit widmete sie zwar dem Body-Mass-Index von Spinnen, für den Master aber kehrte sie zu den Bartgeiern zurück. Heute arbeitet Lörcher je zur Hälfte für die Stiftung Pro Bartgeier und die Internationale Stiftung für Geier (Vulture Conservation Foundation).
In Melchsee-Frutt verbringt sie schon den sechsten Sommer. Für sechs Wochen tauscht sie ihre 1,5-Zimmer-Wohnung in Zürich gegen eine noch kleinere Bleibe in den Bergen – zwei Wohncontainer auf 2100 Meter Höhe, die Lörcher mit einer Kollegin teilt. In einem steht ein Kajütenbett, im anderen befinden sich ein Pult und ein portabler Gasherd. Daneben: ein paar Gewürze, der Teekocher, Kaffeepulver. Draussen: ein Toitoi-WC. «Wir haben wenig Strom, tragen das Wasser selbst rauf und duschen manchmal zwei Wochen nicht. Wenn es regnet, wird es furchtbar eng. Dann starren wir stundenlang in die graue Suppe und bewegen uns kaum.» Doch Franziska Lörcher vermisst wenig. «Glace vielleicht – und frische Gipfeli.»
Am Tag nach BelArosas erstem Flug hängt kaum eine Wolke am Himmel. Franziska Lörcher hat den Fleischkübel ausgewaschen und die schweren Bergschuhe ausgezogen. Die Sonnenbrille auf dem Kopf, setzt sie sich ans Fernrohr und notiert Beobachtungen. Ausgewilderte Bartgeier werden eng begleitet – nur so ist der Erfolg des Projekts zu beurteilen. Fortschritte dokumentiert Lörcher in Blogbeiträgen oder fängt sie mit der Webcam ein. Für die Fans in der Ferne, sagt sie.
Wenn die Vögel ruhen, tut es ihnen die Biologin gleich. Dann trinkt sie Kaffee und geniesst die Postkartenidylle: das Singen der Bergpieper, die spielenden Murmeltiere, das rauschende Schmelzwasser. Fast kitschig.
Kurze Zeit später zwitschert es aus dem Container. Ein Bienenfresser, ihr Klingelton. Eine grössere Wandergruppe kündigt sich an – Vogelfreunde mit vielen Fragen. Franziska Lörcher wird sie empfangen. Ihre Kollegin löst sie dann am Fernrohr ab. An schönen Tagen wandern bis zu 80 Leute zum Infostand der Stiftung, an diesem Mittag sind es rund zwei Dutzend. Ein Mann deutet auf den Himmel, wo ein alter Bekannter kreist. «Fredueli wurde vor drei Jahren hier ausgewildert. In den letzten Tagen schaute er öfter bei den Kleinen vorbei. Aus Neugier und Heimweh, aber auch für die Knochen», erklärt Lörcher.
Fast ausgestorben
Wilde Bartgeier sind noch immer ein seltener Anblick – vor hundert Jahren waren sie im Alpenraum ausgestorben. Einige verhungerten, weil es kaum noch Steinböcke oder Rothirsche gab. Doch die meisten starben durch Menschenhand. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine regelrechte Hetzjagd entfacht. Es hiess, Bartgeier rissen Lämmer, trieben Ziegen über die Klippen und trügen Kleinkinder davon. Dabei sind die Vögel harmlos und fressen nur, was schon tot ist.
«Trotzdem wurden sie vergiftet, abgeschossen und ausgestopft. Museen bezahlten für seltene Arten hohe Preise, und Behörden belohnten einen Abschuss», sagt Lörcher. 1913 wurde der letzte Bartgeier in Italien geschossen, erst in den Siebzigerjahren entstand ein europäisches Erhaltungsprogramm. 1997 feierte das Projekt die erste Wildbrut in den französischen Alpen. Heute wird der Bestand im Alpenraum auf 250 bis 350 Tiere geschätzt. Damit gehört die Wiederansiedlung zu den erfolgreichsten aller Zeiten.
Sie fliegen bis nach Polen
Fredueli ist weite Streifzüge schon gewohnt. Im zweiten Lebensjahr beginnt die Wanderzeit der Einzelgänger. Dabei erkunden sie die Alpen, unternehmen ausnahmsweise aber auch Fernflüge nach Holland, Polen oder Dänemark. Wenn sie das Heimweh packt, kehren die Tiere zurück in ihre Auswilderungsgebiete, wo sie meist auch brüten.
Bei Donna Elvira und BelArosa wird es erst in ein paar Jahren so weit sein. Noch beschränken sich ihre Streifzüge auf die Zentralschweiz. Bald schon suchen sie ihre eigene Nahrung – und brauchen Franziska Lörcher nicht mehr.
Dann packt sie ihren Rucksack, wie immer etwas wehmütig. «Zum Glück weiss ich, dass ich zurückkommen werde – genau wie die Vögel.» Es wird eine Weile dauern, bis sie sich wieder an die Hektik der Stadt gewöhnt. Wenigstens gibt es da Glace und Gipfeli.
Buchtipp: Hansruedi Weyrich, Hansjakob Baumgartner, Franziska Lörcher, Daniel Hegglin: «Der Bartgeier. Seine erfolgreiche Wiederansiedlung in den Alpen»; Verlag Haupt, 2021, 248 Seiten, Fr. 49.90
1 Kommentar
"Es ist wirklich schön, dass Bartgeier gerettet werden. Was in aller Welt ist aber der Unterschied zwischen Bartgeier einerseits sowie Schwein, Rind und Huhn anderseits, dass wir erstere einzeln aufpäppeln und letztere gleichzeitig ohne Skrupel im Sekundentakt töten. “Nutz”tiere sind - unabhängig ob sie extra für unsere Zwecke gezüchtet wurden - ebenso empfindungsfähig wie Bartgeier und verdienen ein Leben ohne Angst, dunkle, enge Ställe und vorzeitige Tötung.”