Die Gletscher-Detektive am Eiger
Felsstürze und Eislawinen häufen sich. Darum werden die Berge genauer überwacht als je zuvor. Wie beim Eigergletscher.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2017 - 14:18 Uhr,
aktualisiert am 22. Dezember 2017 - 14:05 Uhr
Zwischenstation Eigergletscher, der rote Zug hält. Touristen fotografieren das berühmte Panorama mit Eiger, Mönch und Jungfrau. Dann verschwindet die Zahnradbahn durch eine Kurve im Tunnel.
Die Passagiere wissen nicht, in welcher potenziellen Gefahr sie gerade waren. Oberhalb der Haltestelle befindet sich ein Hängegletscher in der Westflanke des Eigers. Wenn er abbricht, sind der Bahnhof, eine Skipiste und die Schienenstrecke bedroht. Zur Sicherheit überwacht ihn modernste Technik.
Aus gutem Grund: Eine Million Menschen reisen jährlich an der riskanten Stelle durch. So viele Passagiere befördert die Jungfraubahn zum «Top of Europe»: 3454 Meter über Meer, die höchstgelegene Bahnstation Europas.
Mit Bahn und Wintersportanlagen verzeichnete die Jungfraubahn Holding AG im ersten Halbjahr 2017 das beste Ergebnis ihrer über 100-jährigen Geschichte, der Semestergewinn betrug 17 Millionen Franken. Das Jungfraujoch ist ein touristischer Hotspot, setzt laut Schweiz Tourismus «jedem Besuch in der Schweiz die Krone auf».
Doch die Alpen bröckeln, die Berge scheinen nicht mehr sicher zu sein. Es taut da oben, Fels und Eis brechen weg. Wie im August in Bondo im Bergell, als drei Millionen Kubikmeter Gestein ins Tal donnerten. Oder im September am Weissmies oberhalb von Saas-Grund, wo ein grösseres Stück der Zunge des Triftgletschers abbrach.
«Es ist nicht so, dass heute viel mehr passiert», relativiert Stefan Margreth vom Davoser Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). «Das, was passiert, wird einfach viel besser erfasst – und medial ausgeschlachtet.» Doch mit dem Klimawandel verschärfe sich die Situation.
Der bärtige Wissenschaftler lässt sich nicht von mulmigen Gefühlen leiten, sondern von nüchternen Fakten. Er steht neben dem Tunnelportal der Jungfraubahn und blickt zum Hängegletscher am Eiger hoch, etwa zwei Kilometer in Luftlinie entfernt. Eine ideale Distanz zur Überwachung des Gefahrenherds – «Detektieren», wie das im Fachjargon heisst.
Der Gletscher von oben – Videoaufnahmen eines Drohnenflugs über den Hängegletscher am Eiger:
Drohnenflug am Eiger: Der Gletscher von oben
Filmmaterial: Geotest AG; Bearbeitung: Beobachter
Margreth, 55, ist Leiter der SLF-Forschungsgruppe Schutzmassnahmen. Im Herbst 2015 habe sich hier eine kritische Situation ergeben, erzählt er. Hinter der Gletscherfront bildete sich eine Spalte, die eine Eislamelle mit 80'000 Kubikmeter Volumen abtrennte; das entspricht etwa 80 Einfamilienhäusern. Die Jungfraubahn reagierte umgehend und beauftragte ihn, ein Gutachten über die Risikosituation zu erstellen.
Das Beurteilen von Gefahren, vor allem im Zusammenhang mit Lawinen, gehört zu Margreths Kernaufgaben. Der Gletscherdetektiv macht Expertisen für Gemeinden, Kantone oder Private. Etwa über die Vorhersehbarkeit von Naturkatastrophen, wie nach dem Lawinenunglück von 1999 im österreichischen Galtür mit 31 Toten. Oft beauftragen ihn auch Betreiber der Skigebiete, Liftprojekte zu begutachten, denn ohne Abschätzung der Naturgefahren geht keine Bahn in Betrieb. Das Team aus Davos geniesst hohes Renommee – auch auf unerwartetem Terrain. So musste Margreth unlängst im notorisch schneearmen Hamburg die Gefahr von Dachlawinen bei der Elbphilharmonie abklären.
Der gebürtige Schaffhauser, den es schon immer in die Berge zog, ist in der Jungfrauregion mehr im Element. Mit dem ersten Schneefall hat die kritische Zeit begonnen. Denn ein Gletscherabbruch ist vor allem gefährlich, wenn viel und instabiler Schnee unterhalb des Hängegletschers liegt und vom herunterstürzenden Eis mitgerissen wird (siehe «Kleine Lawinenkunde» weiter unten). Dadurch bekommt die Lawine massiv mehr Wucht.
Was in einem solchen Fall passiert, spielt Stefan Margreth mit der Simulationssoftware RAMMS durch, die das Davoser Institut entwickelt hat. Anhand von definierten Eingangsgrössen, insbesondere der abbrechenden Eismasse, berechnet das Modell verschiedene Szenarien, wie weit, wie schnell und mit welchem Druck eine Lawine vorstiesse. Zentral ist die Frage, ob davon auch Gebäude und Bahnlinie betroffen wären. Die Darstellungen auf dem Bildschirm in gelben, blauen und roten Zonen zeigen: «Die Wahrscheinlichkeit ist relativ gering, aber es kann passieren.»
Hightech-Anwendungen wie das RAMMS-Programm, seit fünf Jahren grossflächig im Einsatz, haben die Beurteilung von Naturgefahren revolutioniert. Heute sind so verlässlichere Aussagen über Risiken möglich. Aber ein Allheilmittel sei das nicht, sagt Margreth. Man müsse das Gelände auch persönlich begehen, etwa um zu analysieren, wie topografische Schlüsselstellen die Fliessrichtung einer Lawine beeinflussen. «Eine Gefahrenbeurteilung ist eine Kombination von Fakten, Modellierung, Interpretation und Vermutung», sagt er. Und: «Ganz ausschliessen lässt sich das Risiko im Gebirge nie.»
Exakt den gleichen Satz sagt 1900 Höhenmeter weiter unten Lorenz Meier. Der Physiker ist Chef von Geopraevent im Zürcher Technopark. Die Firma übernimmt die technische Überwachung heikler Orte in den Bergen, gestützt auf die Anforderungen, die Spezialisten wie diejenigen des SLF erarbeiten. Rund 70 ihrer hochsensiblen Warn- und Alarmsysteme hat Geopraevent derzeit fest installiert – wann immer sich Gestein oder Gletscher auffällig bewegen und es im Gebirge zu rumpeln droht, registrieren das die Server in Zürich-West in Echtzeit.
Vom Hängegletscher am Eiger gibt es reichlich Material. Vor knapp zwei Jahren begannen die Messungen, seither liessen sich mehrere Eisabbrüche aus den Daten der Kontrollsysteme vorhersagen, verblüffend genau bezüglich Zeitpunkt und Ausmass. Dies ermöglicht es, je nachdem geeignete Massnahmen vorzubereiten. Das heisst für die Jungfraubahn: entscheiden, ob die Züge fahrplanmässig durchfahren können oder ob sie an einem sicheren Ort gestoppt werden müssen. Dazu ist es bisher nicht gekommen.
Wenn das Eis schneller fliesst, ist das ein Anzeichen für einen bevorstehenden Abbruch. Lorenz Meier zeigt ein Beispiel von Anfang März 2016: Normalerweise ist der Hängegletscher am Eiger mit einem Tempo von fünf Zentimetern pro Tag unterwegs. Am 2. März beschleunigte er plötzlich auf 15 Zentimeter, am 4. März sogar auf über 25 – bis sich um 10.57 Uhr eine Lawine löste. 49 Sekunden nachdem der Alarm ausgelöst worden war, nebelten die Ausläufer der Staublawine den Tunneleingang der Bahn ein. Im Video sieht der Lawinenniedergang ziemlich dramatisch aus – aber nur für Laien. «Keine grosse Sache», findet Lorenz Meier, ganz Profi. «Nur ein paar tausend Kubikmeter, ungefährlich.»
Die Daten für den Alarm lieferte damals ein interferometrisches Radar. Es detektiert millimetergenau jede Bewegung am Berg, bei jedem Wetter, Tag und Nacht. Diese Lösung hat aber einen Nachteil: Sie geht schnell ins Geld. Permanente Radarüberwachung kostet jährlich zwischen 100'000 und 200'000 Franken. Ein Grund dafür, dass in der Schweiz nur eine Handvoll dieser Geräte im Einsatz sind, eines davon aktuell am Piz Cengalo im Sturzgebiet von Bondo.
Am Eiger wurde das Radar Ende Mai 2017 auf Geheiss der Jungfraubahn wieder abgebaut. Nur zwei Tage zuvor hatte der Hängegletscher kurzzeitig auf 45 Zentimeter pro Tag beschleunigt. Am frühen Morgen des 29. Mai brach ein Stück ab.
Seither überwachen Webcams die Lage. Sie sind deutlich günstiger im Betrieb, aber in der Nacht und bei Nebel nicht zu gebrauchen. Dass die Finanzen bestimmen, mit welchen Mitteln für Sicherheit gesorgt wird, ist für Geopraevent-Chef Lorenz Meier tägliches Brot. «Die Frage der Wirtschaftlichkeit steht heute bei allen Schutzmassnahmen im Vordergrund», sagt er. «Zu welchem Preis lässt sich wie viel Risiko senken?»
Falls sich die Situation am Eiger derart zuspitzt, dass sich ein Überwachungsradar erneut aufdrängt, liegt das nicht in Meiers Verantwortung: Geopraevent misst die Daten und bereitet sie auf, interpretiert sie aber nicht. Für diese Auslegung ist die Berner Umweltberatungsfirma Geotest zuständig. Ihre Geologen und Glaziologen beurteilen aufgrund der Messwerte die Gefahrenlage und leiten daraus Handlungsempfehlungen für den Auftraggeber ab; beim Hängegletscher am Eiger ist das die Jungfraubahn.
Das Sicherheitskonzept von Geotest umfasst 20 Seiten. Darin ist im Detail aufgeführt, wer bei welcher Bedrohungslage was zu tun hat. Und auch, was im Gebiet der Haltestelle Eigergletscher zu unterlassen ist. Beim Maximalszenario etwa, wenn bis zu 100'000 Kubikmeter Eis abzubrechen und durch eine instabile Schneedecke zu donnern drohen, läuft gar nichts mehr – sämtliche Gebäude werden gesperrt, alle Personen evakuiert, der Bahn- und Skibetrieb eingestellt.
Ohne Schneedecke würden die Sicherheitsvorkehrungen gelockert. Die Züge könnten noch verkehren, aber nur mit speziellem Rollmaterial. Falls eine Lawine niederginge, müssten die Loks schnell genug sein, um innert 40 Sekunden den gefährdeten Bereich vor dem Tunnel zu durchqueren.
Gabriel Roth, Betriebsleiter der Jungfraubahn, ist begeistert vom Einsatz des Radars. «Das System hat hervorragend funktioniert. Wir sind sehr genau über die Gletscherereignisse informiert worden.» Falls das Risiko steige, werde das Radar umgehend wieder installiert – auch wenn die Radaranlage mehr als doppelt so teuer sei wie die Kameras. «Man muss die ganze Palette der technischen Möglichkeiten nutzen. Sonst kann es dann ganz schief rauskommen, wenn etwas passiert.» Bei bis zu 5500 Gästen pro Tag sei sich die Jungfraubahn ihrer Sorgfalts- und Sicherheitspflicht «extrem bewusst».
Mit der geplanten V-Bahn würde sich das Problem bei der Station Eigergletscher aber von selber lösen. «Wir verlängern das Tunnelportal um 70 Meter. Damit ist die Bahn sicher vor einem möglichen Gletscherabbruch», sagt Betriebsleiter Roth. Diese Massnahme hatte Wissenschaftler Stefan Margreth vom SLF in seinem Gutachten zur V-Bahn empfohlen. Die eine neue Bahn soll die bestehende Seilbahn von Grindelwald auf den Männlichen ersetzen. Die zweite zur Station Eigergletscher führen, wo die Gäste auf die Jungfraubahn umsteigen können, um aufs Joch zu gelangen. Eröffnung soll Ende 2020 sein. Bis dahin wird weiterhin auf Kameras oder Radarsysteme zur Überwachung gesetzt.
Gletscherdetektiv Stefan Margreth ist froh, wenn durch den verlängerten Tunnel die Gefahr weitgehend gebannt sein wird. «Die Arbeit wird uns aber nicht ausgehen», ist er überzeugt. Er setzt die Sonnenbrille auf und geht zurück zur Station Eigergletscher, besteigt das rote Bähnchen und fährt in Richtung Sonnenuntergang zurück ins Bündnerland.