Wo es Wolf und Bär gefällt
Der Bündner Bär wurde mit offenen Armen empfangen, obwohl er innert kurzer Zeit viel Schaden anrichtete. Im Alpenraum arrangieren sich die Menschen inzwischen mit den Wildtieren.
Veröffentlicht am 12. September 2005 - 10:38 Uhr
Mitten im grünen Gras liegen weisse Wollfetzen, vereinzelt sind Blutspuren zu sehen. Zehn Meter weiter das tote Schaf. Die Brust ist aufgerissen, die Rippen sauber abgeschabt. Das Euter fehlt. Am Nacken ist deutlich der Prankenhieb zu erkennen, mit dem das Tier getötet wurde. «Ein typischer Bärenriss», sagt Herdenschutzspezialist Walter Hildbrand.
Noch vor wenigen Jahren wäre nach einem solchen Ereignis ein Aufschrei durch die Schweizer Bergwelt gegangen. Heute herrscht Pragmatismus vor: Schadensbegrenzung statt Ausrotten – die zunehmende Präsenz von Herdenschutzhunden in den Alpen ist ein Indiz dafür, dass sich die Menschen mit den Grossraubtieren zu arrangieren suchen.
Nachdem der ins Münstertal eingewanderte Bär bei Fuldera ein Kalb gerissen hatte, wurden Walter Hildbrand, Kathrin Rudolf und Lanker Urban auf die benachbarte Alp Minschuns gerufen. Noch während der Anreise erfuhr die schnelle Eingreiftruppe, dass der Bär ein zweites Schaf gerissen hatte.
«Wir fanden eine total verwilderte Herde vor. Die Schafbesitzer glaubten nicht, dass es uns gelingen würde, die Tiere nachts einzupferchen», erzählt Hildbrand. Wie vielerorts in der Schweiz beweiden hier die Schafe die höher gelegenen Alpen, die die Kühe schon verlassen haben. Sie schlagen sich bis Ende Oktober allein durch und entfremden sich in dieser Zeit stark von den Menschen.
Am späten Abend sind die 250 Tiere endlich im Pferch, kurz vor Mitternacht legen sich die Herdenschützer schlafen – doch 40 Minuten später ist auf Minschuns der Teufel los. Die Hunde jaulen und toben, in der Herde bricht Panik aus. Die Schafe reissen die Elektrozäune nieder und springen in die Nacht: Der Bär ist zu Besuch. Gewissheit für seine Visite gibt es am nächsten Morgen. Dem Petz ist es gelungen, ein Schaf von der Herde abzudrängen. Er hat es knapp 400 Meter von der Alphütte entfernt getötet und angefressen.
In der nächsten Nacht sucht der Bär Alp Minschuns erneut auf. Wieder Panik: Jedes Tier drängt in die Mitte der Herde, diese dreht sich um sich selbst, immer schneller, wird zum Tornado und treibt so den Hang hinauf. Im Licht eines Scheinwerfers steigt Walter Hildbrand den Schafen hinterher, als er vor sich plötzlich den Schatten eines Riesen erblickt. Schreck – bis er merkt, dass es sein eigener Schattenwurf ist. Ein dritter Riss ist dem Bären auf Minschuns nicht gelungen. Der Herdenschutz hat sich bewährt.
Der Bär als touristischer Segen
Das aus Italien eingewanderte Tier richtete im Münstertal innert kurzer Zeit viel Schaden an. Trotzdem wird der Bär als Glücksfall betrachtet, als touristischer Segen, als Ausdruck intakter Natur. Rund 100 Jahre nach ihrer Ausrottung kehren Grossraubtiere in den Schweizer Alpenraum zurück: Nachweislich leben hierzulande derzeit vier Wölfe und 100 Luchse. Der Bär hat das Münstertal inzwischen zwar wieder verlassen. Doch was sind schon Landesgrenzen für ein Wildtier? Der Petz wird wiederkommen. Die Bergbewohner wappnen sich dafür.
Seit drei Jahren betreibt Walter Hildbrand in Jeizinen (Gampel) im Wallis ein Herdenschutzzentrum. Im Auftrag des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) unterhält er eine rasche Eingreiftruppe; dazu gehören zwei Hirtinnen, ein Hirte, sechs Hütehunde und 12 Abruzzenschutzhunde. Hildbrand, der als Schafzüchter selbst viele Verluste hinnehmen musste, eignete sich sein Grundwissen in den italienischen Abruzzen an, wo die Koexistenz von Schaf, Bär und Wolf seit Jahrhunderten Alltag ist.
Laut Hildbrand ist Herdenschutz mit Hunden psychologische Kriegsführung: «Schutzhunde kämpfen nicht gegen Bären. Mit ihrem Gebell unterbrechen sie den Jagdinstinkt des Räubers. Es ist wie beim Ladendiebstahl: Ist der Dieb entdeckt, plant er nur noch seinen Rückzug.» Es ist ein Konzept, das sich nach heftigem Widerstand in der Schweiz etabliert.
Im Umgang mit den Bären profitiert man nun von den Erfahrungen mit dem Wolf, der seit Mitte der neunziger Jahre in die Schweiz drängt. Zum Beispiel in der Surselva. Am 5. Mai 2002 war klar: Ein gezielter Biss am Hals eines Rehs, zertrümmerte Rippenknochen – das konnte nur ein Wolf sein. Später ergab eine DNA-Analyse, dass das lichtscheue Tier über die italienische Grenze kam. Es ist ein Phänomen, das schon oft beobachtet wurde: Ein Rüde verlässt sein Rudel und dringt allein in Pionierland vor.
«Wir hätten nie gedacht, dass er hier bleiben würde», sagt Wildhüter Georg Sutter, dessen Jagdbezirk bei Ilanz der Wolf als Revier auserwählt hat. «Aber hier lebt er ja auch wie im Schlaraffenland.» Die guten Wildbestände bieten reichlich Nahrung, das Tier lebt unbehelligt und leidet laut Sutter nicht unter dem Sozialstress, der das Leben im Rudel prägt.
Keiner kennt den Wolf der Surselva so gut wie der Bündner Wildhüter. Bereits im Jahr 1999 rief der Kanton Graubünden die Arbeitsgruppe Grossraubwild ins Leben und legte fest, dass die Auswirkungen einwandernder Raubtiere genau dokumentiert werden sollen. Spuren, Sichtungen, Risse und Fotos aus Fotofallen – es ist eine aufwändige Detailarbeit, die der 64-Jährige mit Passion erledigt.
Feinsinnige Jagdstrategie
«Wolfskot. Eindeutig», sagt Sutter, nachdem er am Häufchen gerochen hat. Zufällig ist er auf einem Wanderweg im Val Frisal ob Brigels auf Kot gestossen. Die Spur ist ein bis zwei Wochen alt, wegen des Regens ist ihr Alter nicht genau bestimmbar. Auf der Schafalp im Tal riss der Wolf im Juni vier Schafe. «Ist er an einem Ort einmal erfolgreich gewesen, kommt er wieder. Das kann zum Problem werden», sagt Sutter, der für eine konsequente Behirtung der Schafe mit Herdenschutzhunden einsteht.
Der Wolf wütete auch schon im Nachbardorf Waltensburg – 2002 riss er in der Schafherde von Martin Cadonau auf Alp Mer 24 Tiere, 2003 deren zehn. Im Jahr 2004, nachdem Cadonau Schutzhunde angeschafft hatte, erwischte der Wolf nur noch drei Schafe, und in diesem Jahr gab es noch keine Verluste. Martin Cadonau war anfangs ein vehementer Wolfsgegner, heute vertritt er eine pragmatische Haltung. «Wir hätten es sicher einfacher ohne Wolf. Aber wir müssen lernen, mit ihm zu leben.»
«Dieses rasche Umdenken in der Bevölkerung erstaunt mich», sagt Georg Sutter. Als klar gewesen sei, dass der Wolf in der Surselva lebe, sei es an Informationsveranstaltungen teils sehr emotional zugegangen. Jetzt, bloss dreieinhalb Jahre später, werde die Präsenz des Wolfs sachlicher beurteilt. «Auch ich bin kein fanatischer Wolfsfreund», sagt Sutter. Doch seine Faszination für den Surselver Einzelgänger kann er nicht verbergen. Seine Aufzeichnungen ergaben, dass der Wolf einmal im Monat sein Revier durchstreift und darum bemüht ist, das Wild nicht zu vergrämen. «Er verfolgt eine sehr feinsinnige Jagdstrategie», lobt Sutter.
Seine Beobachtungen überzeugen auch die Jäger – neben den Schafbesitzern die vehementesten Wolfsgegner. Entgegen ihrer Befürchtung verändert sich der Wildbestand im Wolfsgebiet nicht negativ. Sutter: «Die Natur kommt zurück – auch wegen des hohen Wildbestands.»
Für Daniel Mettler, Herdenschutzkoordinator im Auftrag des Buwal, birgt die Rückkehr von Wolf und Bär eine riesige Symbolik. Dennoch dürften die grossen Raubtiere nicht verharmlost werden: «Die Probleme sind mit dem Herdenschutz nicht gelöst. Wir dürfen nicht vergessen: Der Alpenraum ist Touristenland», erklärt Mettler.
Die Bündner haben es richtig erkannt: Egal, ob man dafür ist oder dagegen – Bär, Wolf und Luchs sind zurück in der Schweiz. Und es scheint ihnen hier zu gefallen. Wie die Bergbauern werden sich auch die Feriengäste daran gewöhnen und ihr Verhalten anpassen müssen.