«Wir müssen fürs Geld immer mehr arbeiten»
Zuerst der Rinderwahnsinn, jetzt die drohende Maul- und Klauenseuche, dazu die tiefen Milchpreise: Schweizer Landwirte haben einen immer schwereren Stand. Lohnt es sich überhaupt noch, Bauer zu sein? Ein Augenschein im Oberaargau.
Veröffentlicht am 4. April 2001 - 00:00 Uhr
Hanspeter Schmitz, 47, Bauer in Wiedlisbach BE, steht auf, nimmt sein Frühstück ein und macht sich im Stall an die Arbeit. Es ist 4.45 Uhr.
Am Vorabend hat er an einer Versammlung der Viehzüchter teilgenommen und bei seiner Heimkehr, kurz vor Mitternacht, zum letzten Mal nach seinen 14 Muni, 12 Kälbern, 30 Milchkühen und drei Pferden geschaut. «Ein einziges Mal bin ich nach dem Ausgang nicht mehr in den Stall gegangen. Prompt ist ein Tier erkrankt. Das war mir eine Lehre», sagt er. Die Siebentagewoche ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, ebenso die Tagwache um Viertel vor fünf.
Früh steht auch Thomas Hummel auf. Der Wiedlisbacher Tierarzt hat heute wieder viel Arbeit vor sich; er macht bei den Bauern in der Umgebung «Stallbesuche». Um acht Uhr trifft er auf dem Hof von Hanspeter Schmitz ein.
Wie verkraftet Schmitz seinen fast endlosen Tag? «Ich motiviere mich jeden Morgen neu, sonst wäre ich hier am falschen Platz», sagt er. Der sportlich wirkende Bauer ist hemdsärmelig an der Arbeit, obschon die Kälte ungehindert in den modernen Laufstall eindringt. Auf dem nahen Weissenstein liegt Schnee.
Enge Bindung zu den Tieren
«Ruhig, Andrea.» Schmitz redet seiner Kuh zu und drückt ihr den Schwanz hoch. Thomas Hummels behandschuhter Arm dringt bis zum Ellbogen in den Mastdarm der Kuh ein. Er «touchiert» sie, um festzustellen, ob sie trächtig ist. Andrea scheint das nicht zu schätzen; sie brüllt und scheisst hemmungslos an Hummels Arm vorbei. Seine Diagnose ist trotzdem klar: Andrea trägt ein Kälbchen in sich, drei weitere Kühe sind ebenfalls trächtig.
Hanspeter Schmitz hat eine enge Bindung zu den Tieren: Sie kennen ihn, stossen ihn an mit der Schnauze. Darüber spricht er ungezwungen. Schwieriger wirds, wenn man von ihm etwas über die wirtschaftliche Situation der Bauern erfahren will. «Selbstmitleid ist fehl am Platz», lautet seine Devise. Immerhin ein verstecktes Eingeständnis, dass es Schwierigkeiten gibt.
Schmitz hat die Rationalisierung vorangetrieben – und bedauert sie zugleich. «Wir sind Sklaven der Technik geworden. Doch es gibt keinen anderen Weg. Die menschliche Arbeit ist das Teuerste, wir müssen Maschinen und Computer einsetzen.» Die Leuchtschriftanzeigen im Melkstand zeugen davon, ebenso die Halsbänder der Kühe, die ihr Fressverhalten aufnehmen und an den Computer weiterleiten.
Maschinen und Computer sichern das Überleben der Bauernfamilie. Doch es stellen sich laufend neue Herausforderungen. So ist der Milchpreis in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. «Früher», sagt Schmitz, «hat der Gegenwert einer Kanne Milch ausgereicht, um den Coiffeur zu bezahlen. Heute muss ich gleich noch weitere 20 Liter zugeben.» Geradezu dramatisch war der Preiszerfall für Munifleisch im Gefolge der BSE-Krise. Zwölf Franken erhielten die Produzenten in den besten Zeiten für ein Kilo Schlachtgewicht; auf dem Höhepunkt der BSE-Krise waren es gerade noch Fr. 5.80. «Jetzt ziehen die Preise wieder etwas an», tröstet sich Schmitz.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein eigenes Tier von BSE betroffen werden könnte, hält Schmitz für sehr gering. Jedenfalls macht ihm das keine Angst. «Wenn sich hingegen die Maul- und Klauenseuche auf dem Kontinent ausbreitet, könnte das eine Katastrophe geben.» Mehr sagt er nicht dazu.
Zwei Stunden später wird im Radio gemeldet, jetzt sei auch ein Bauernhof in Frankreich von der Maul- und Klauenseuche betroffen. Am Abend dann die Hiobsbotschaft aus Argentinien: Im grössten Rinderland ist die Seuche ebenfalls ausgebrochen.
Vor fünf Jahren hat Schmitz den neuen Laufstall gebaut und das «Bschüttiloch» den Anforderungen des Gewässerschutzes angepasst. Beide Bauten galten damals als mustergültig – heute genügen sie den verschärften Bestimmungen noch knapp.
Rigorose Biovorschriften
Tierarzt Hummel muss weiter. Biobauer Jakob Studer hat bei ihm angerufen: Seine Kuh habe den «Scheisser». Auf gehts, Richtung Jurahöhen. Unterwegs regt sich Hummel lautstark auf: «Da predigt man den Bauern immer, sie müssten innovativ sein. Sind sie es, wie der Hanspeter, kommen die Vorschriften. Die Bauern können ihre Ställe und Jauchegruben doch nicht alle paar Jahre erneuern.»
Die Bremsen knirschen, der Alpfelenhof von Jakob Studer ist erreicht. Der Wachhund bellt laut. «Der macht vor allem Lärm», sagt Hummel und geht ungerührt zum Stall, wo rund 30 Kühe stehen. Jakob Studer und sein Nachbar bilden eine Betriebsgemeinschaft; sie betreuen das Vieh gemeinsam.
Hummel geht auf die kranke Kuh zu. Einmal mehr greift seine Hand in den Darm. Er zieht den bräunlichen Inhalt heraus. «Das kannst du waschen und nochmals verfüttern. Die hat praktisch nicht verdaut», sagt er zu Studer. Einige Medikamente sollen die Darmflora des Tiers wieder in Ordnung bringen. In ein paar Tagen wird sie sich erholt haben.
Die Vorschriften über Biohaltung sind rigoroser als bei der Integrierten Produktion. «Ansonsten aber haben die Tiere, wie alle andern, ebenfalls vier Beine», sagt Studer. Biomilch kann er etwas teurer verkaufen. Momentan sei der Markt gut für ihn: «Es gibt zu wenig Milch und noch weniger Biomilch.»
Lukrativer Kräuteranbau
Doch was wirklich einschenkt, sind die Zusatzeinnahmen aus der Kräuterproduktion. Auf dreieinhalb der rund 20 Hektaren pflanzt Studer Kräuter an. Eine arbeitsintensive Sache. Besonders das Jäten, das niemand verrichten wolle: «Spritzen kommt in einem Biobetrieb natürlich nicht in Frage.»
Studers Hauptabnehmer ist die Bonbonfabrik Ricola. Den Rest, gemischt mit Hanf, verkauft er als Tee. Kräuter und Hanf müssen zuerst getrocknet werden – an einem mäusesicheren Ort. An den Kräutern, so Studer, zeigten die Mäuse keinerlei Interesse, aber der Hanf ziehe sie «wie ä More» an.
Studers Betrieb hat noch ein weiteres Standbein: eine Indoor-Kletterwand. Wer den Betriebs- oder Vereinsausflug um eine sportliche Einlage bereichern will, ist hier an der richtigen Adresse.
Kein Zweifel, Studer ist ein innovativer Biobauer. Eine Solaranlage auf dem Dach liefert ihm die Energie für die Kräutertrocknungsanlage und das warme Wasser im Haus. Sein Jungvieh hält er im Sommer auf einer Juraalp, die zum Hof gehört.
Wird er für seine Anstrengungen wirtschaftlich belohnt? Die ernüchternde Antwort: «Ich will nicht jammern, aber wir müssen fürs Geld immer mehr arbeiten.» Nicht zuletzt auch wegen der immer neuen Vorschriften über Stallgrösse und Hygiene. Klar, dass auch Ricola Qualitätsvorstellungen bezüglich der abzuliefernden Kräuter habe – und Qualität erfordere Arbeit. Seine wöchentliche Arbeitszeit rechnet Studer schon gar nicht aus. Was ihm aber speziell zusetzt: «Dass überall über die Bauern hergezogen wird. Wir müssen uns immer rechtfertigen.»
Die Familie wird voraussichtlich auf dem Alpfelenhof bleiben. Der Sohn hat soeben die Meisterprüfung als Landwirt abgelegt. «Er will unseren Kräuteranbau noch verstärken.» Ob er auch schon an Hanf mit höherem THC-Gehalt gedacht habe? Ruth Dreifuss breche ja gerade eine Lanze für den straffreien Anbau. «Ich weiss nicht recht. Ich habe ‹gäng› gedacht, dass ich mit Hanf zum Rauchen nichts zu tun haben will.»
«Ich bin ledig, mir gehts gut»
Zukunftsängste wegen BSE kennt Studer nicht – «obwohl auch wir Biobauern keine Garantie haben, dass nicht eines unserer Tiere erkrankt». Der Gedanke an die Maul- und Klauenseuche geht ihm schon mehr unter die Haut. «Unsere Mobilität begünstigt einfach eine schnelle Ausbreitung.» Dass ihn die Maul- und Klauenseuche nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschlich hart treffen würde, ist offensichtlich. Man braucht nur zuzuhören, wenn er sich mit dem Veterinär über seine Tiere unterhält. Wie die Viecher doch raffiniert seien und seine Absperrungen umgingen – «besonders die Hanna, dieses Schlitzohr».
Der Tierarzt muss seine Tour fortsetzen. Nächste Station ist Hansueli König, der in der Bergzone der Gemeinde Günsberg SO einen Hof von 17 Hektaren bewirtschaftet. Zehn Milchkühe, zehn Rinder, drei Kälber und 28 Schweine machen den Hauptteil seiner Einnahmen aus.
Daneben baut er Kartoffeln und etwas Gerste an. «Ich bin ledig, mir gehts gut», scherzt der 37-Jährige. Die Umstellung auf Bio hat er sich schon überlegt. «Doch solange ich Getreide anpflanze, kommt das nicht in Frage.»
Ja, ja, er komme gut über die Runden, der Hof sei nicht verschuldet. Einzig an einem Hang sei noch eine Drainage nötig. Da müsse er sich nächstens mal dahinter machen, sonst komme alles herunter, die Erde sei lebendig.
König wünscht sich mehr Verständnis für die Lebensbedingungen und die Arbeit der Bauern – «damit auch ich eine Frau finde». Doch momentan hat er ganz andere Sorgen. Seine Kuh hatte eine Fehlgeburt. Nun zieht der Tierarzt einen Teil der Nachgeburt aus ihrem Innern. Ein unappetitlicher Eingriff, bei dem es übel riecht. Der Rest der Nachgeburt wird in einigen Tagen ausgestossen.
Ungefähr gleich gross ist der Hof von Priska Annaheim in Niederwil SO. Für den Veterinär «en churze Chut»: Er muss einzig einer Kuh eine Spritze verpassen. Die Bäuerin, die den Hof führt, ist gerade nicht zu Hause. Um die rund 50 Tiere, hauptsächlich Milchkühe und etwas Schlachtvieh, kümmert sich Vater Hans Annaheim.
Unbehagen über Direktzahlungen
Ja, man komme schon über die Runden, meint er. Aber auch sie arbeiteten immer mehr, um das gleiche Einkommen wie vor einigen Jahren zu erzielen. «Wenn meine Tochter verheiratet wäre und eine Familie hätte, könnte sie vom Hof nicht leben. Vielleicht wärs möglich, wenn sie die Gärtnerei noch ausdehnt», sagt Hans Annaheim. Die Direktzahlungen behagen ihm ebenso wenig wie allen andern Bauern, die Tierarzt Hummel heute aufsucht. «Man sollte doch von seiner Arbeit leben können und nicht von Subventionen.» BSE hat den IP-Bauern aufgewühlt: «Ich wusste ganz einfach nicht, dass es Betriebe gab, die den Kühen Tiermehl verfütterten. Das hätte nie passieren dürfen. Wiederkäuern gibt man doch kein Fleisch!»
Thomas Hummel fährt zurück in seine Praxis. «Die Bäuerin hier», er zeigt auf einen Hof in der Ebene, «hat eine volle Stelle ausserhalb des Hofs angenommen. Die beiden erzielen damit ein höheres Einkommen.» Und jetzt wird er laut: «Da stimmt doch etwas an der Landwirtschaftspolitik nicht mehr!» Mit seinem Engagement wäre Hummel der ideale Sprecher der Bauern.
Nachmittag. Besuch bei Viehzüchter Ernst Ryf in Rumisberg BE. «Das ist wirklich ein ganz angefressener Viehzüchter», findet Thomas Hummel.
Ernst Ryf ist im Moment mit Arbeit mehr als nur eingedeckt. «Von halb fünf am Morgen bis acht Uhr abends bin ich jetzt am Werken», sagt er. Der Grund: Seine Frau macht zum ersten Mal in ihrem Leben eine Woche Ferien – «eine günstige Gelegenheit mit dem Trachtenverein».
Beachtliche Zuchterfolge
Ryf selbst hat kein Verlangen, mal eine Woche lang Haus und Hof zu verlassen. An den Stalltüren hängen die Auszeichnungen, die er mit seinen Tieren bereits errungen hat. Ja, solche Zuchterfolge seien etwas Schönes. Gewöhnlich behält er die Tiere, bis sie zum ersten Mal kalben. Dann verkauft er sie – allein schon weil er Platz braucht. «Aber es ist ein schönes Gefühl, wenn man weiss, die junge Kuh ist nun an einem guten Platz.»
Der Preiszerfall ist allerdings auch an seinen Kühen – an den jungen wie an den alten – nicht spurlos vorübergegangen: «Ich habe für Milchkühe rund 1000 Franken weniger gelöst.» Die Bauern, die wegen der BSE-Krise weniger für ihre Schlachtmuni erhielten, könnten auch weniger für Milchkühe zahlen. Das hänge halt alles zusammen. «Aber Jammern nützt nichts, sonst müsste ich den Bettel ja gleich hinschmeissen.» Ein kleiner Trost bleibt ihm: Schweinefleisch wird wieder teurer.
Ernst Ryf stört sich an der Art, wie in der Schweiz das Fleisch deklariert wird. «Da werden Schweine aus dem Ausland importiert. Dann wird geschlachtet und das Fleisch in der Schweiz geräucht – und schon hängt ein Schweizer Schinken im Laden. Da gaukelt man den Konsumenten doch etwas vor.»
Vielfach ohne Nachfolge
Vorschriften und Auflagen kosten auch ihn eine hübsche Stange Geld. «Wenn ich nach zwölf Jahren bereits wieder ein neues und grösseres ‹Bschüttiloch› brauche, habe ich doch etwas Mühe.» Trotz allem schätzt Ryf seinen Beruf als Landwirt. Und es stellt ihn auf, dass auch sein Sohn von der Zucht begeistert ist. «Wahrscheinlich übernimmt eines meiner Kinder einmal den Hof.»
Das wird beim Ehepaar Schaad aus Oberbipp BE nicht der Fall sein. Die beiden volljährigen Söhne haben in der Informatikbranche ein gutes Auskommen gefunden. Für den Krampf der Eltern hätten sie nur ein müdes Lächeln übrig, erzählt die Mutter. Und auch die Tochter verspürt keinerlei Neigung, den elterlichen Hof zu bewirtschaften.
Angesichts dieser Situation haben sich die Eltern entschlossen, ihren Hof auf Schweinezucht umzustellen. Zurzeit tummeln sich bereits 60 Freilandferkel auf einer einstigen Wiese und fühlen sich offensichtlich sauwohl. Warum die Umstellung? Niklaus Schaad: «Die Schweine erfordern eine tägliche Arbeitszeit von zwei Stunden, die Kühe hingegen nehmen bis zu sieben Stunden in Anspruch. Zudem steigt der Preis für Schweinefleisch.»
Künftig Schweinefleisch zu einem fairen Preis zu verkaufen – das sagt auch Schaads Frau zu. Mit den meisten anderen landwirtschaftlichen Produkten hat sie nämlich Mühe: «Für das Rindfleisch erhalten die Bauern immer weniger Geld, die Milch bringt weniger ein als früher. Aber der Konsument hat bis jetzt vom tieferen Preis überhaupt nichts gespürt. Er zahlt gleich viel wie früher. Klar, versteht er die Nöte der Bauern nicht.»