Christoph Küpfer hat mehr als einen Vogel
Der Schaffhauser Christoph Küpfer hat seinen Kindheitstraum wahr gemacht: Er hegt und pflegt mit Leidenschaft Falken, Wüstenbussarde, einen Uhu und eine Schneeeule.
Veröffentlicht am 20. Juli 2018 - 11:59 Uhr,
aktualisiert am 20. Juli 2018 - 11:16 Uhr
Ihr Schnabel ist so spitz und scharf wie ihre Klauen. Mit ihnen schlägt Abraxa jede Beute. Im Flug schafft sie Tempo 80, und nun blickt der Vogel kalt auf die Eindringlinge. «Hoi Meiteli», sagt Christoph Küpfer und streicht ihr über den Schnabel. «Jaja, gleich gibts Futter.» Abraxa raschelt mit ihren Flügeln, stösst bedrohliche Laute aus. Ist sie aggressiv? «Sie plaudert», sagt Küpfer. «Und bettelt. Sie hat Hunger.» Was frisst ein Wüstenbussard?
Das Essen holt er im Gartenhäuschen. Aus einem mannshohen Gefrierschrank, der mit Eintagesküken, Hasenpfoten und Wachteln vollgestopft ist. 20 Küken pro Tag verschlingen Küpfers acht Vögel im Sommer, 40 im Winter. «Das ganze Training funktioniert über das Futter», lacht der Falkner.
In den Ferien packt Küpfer das Heimweh nach den Vögeln. Dann schreibt er täglich SMS nach Hause.
Küpfer öffnet die Tür zu Abraxas Anlage und geht zu einer nahen Wiese. Ab und zu ruft er Abraxa, als wäre sie ein Hündchen. «Ja, chumm, Meitli, chumm.» Sie fliegt von Dach zu Dach hinter ihm her. Als er ihr auf seinem ledernen Handschuh Futter präsentiert, sticht sie herab, krallt sich fest und zerrupft das Bibelibein. Küpfer streicht ihr über die Federn. «Das Streicheln ist mehr für mich. Abraxa ist es egal.»
Christoph Küpfers Beziehung zu seinen Vögeln ist intensiv. Er hegt, pflegt und trainiert sie, und er investiert viel Geld und Zeit. Wenn er in die Ferien geht, packt ihn das Heimweh nach ihnen. Dann schreibt er täglich SMS nach Hause. Haben die Vögel gegessen? Geht es ihnen gut? Einen Vogel nennt er «Kamikazepilot», einen anderen «die Ruhige». Für seine Zöglinge ist er lediglich der Futterlieferant. Ist die Liebe nicht einseitig? Küpfer winkt ab. «Ach, das sind doch viele Beziehungen.»
Seit 15 Jahren ist Christoph Küpfer leidenschaftlicher Falkner. In Volieren nahe Schaffhausen hält er zwei Wüstenbussarde, einen Sakerfalken, einen Wanderfalken, eine Schneeeule, einen Uhu und das Zuchtpaar Romeo und Julia, zwei Lannerfalken. Einige der Vögel trainiert er für Flugshows, mit den Falken geht er regelmässig auf Jagd.
Küpfer ist einer von 30 Falknern in der Schweiz, die die Jagdprüfung abgelegt haben. In Europa hatte die Jagd mit Greifvögeln im Mittelalter ihren Höhepunkt. Mit den Vögeln jagten Adlige Hasen, Fasane, Enten, Rebhühner und Tauben. Mit Steinadlern sogar Rehe oder Wölfe. Küpfer jagt nur Krähen. Weil seine Greifvögel zwischen Frühling und Herbst ihr Federkleid verlieren, nutzt er dafür die drei Wintermonate. In einer Saison holte Küpfer mit Abraxa 75 Krähen vom Himmel. Das hilft Bauern, denen Krähenschwärme das Saatgut wegfressen.
«Einem Tier beim Jagen zusehen ist unheimlich eindrücklich», sagt Küpfer. Wie sich der Falke in die Lüfte schraubt und pfeilschnell zu Boden schiesst. Die Wendigkeit, die kraftvollen Flügelschläge. 200 Kilometer pro Stunde erreicht ein Falke. Krähen haben keine Chance. Landet Abraxa, nimmt Küpfer ihr die Beute weg und legt ihr ein Bibeli hin. «Vollgefressene Vögel kommen nicht zu mir zurück», erklärt er. Es sei ihm schon passiert, dass ein sattes Tier einfach in den Bäumen hocken blieb. «Dann warte ich ein paar Stunden», sagt er. «Oder fahre am nächsten Tag um sechs Uhr morgens wieder hin. Dann hat der Vogel Hunger.»
In freier Wildbahn fliegen Falken nur 30 Sekunden bis fünf Minuten pro Tag. Um zu jagen oder um einen neuen Rastplatz zu finden. Die restliche Zeit dösen sie oder pflegen ihr Gefieder. «Raubtiere sind faul. Bei mir haben sie Sicherheit und Nahrung. Nur darum bleiben sie.»
Küpfer wollte immer Falkner werden. «Warum genau, kann ich nicht sagen.» Als Kind schon habe er die Natur geliebt, in der Schule stundenlang aus dem Fenster gestarrt.  Sein Traumberuf war Wildhüter. Daraus wurde nichts. Heute ist er Projektleiter in einer Firma für Reinigungstechnik.
Die Ausbildung zum Falkner dauert lang. Nach einem Kurs und einem Praktikum erhielt Küpfer die Bewilligung, Greifvögel in einer Voliere zu halten. Nach der Falknerprüfung konnte er in Österreich bei einem Züchter seinen ersten Vogel abholen – Abraxa. «Damals war ich fast so stolz wie bei der Geburt meines Sohnes. Hoffentlich klingt das nicht schlimm.»
Nach dem Training mit Abraxa ist Karl dran, der jüngste der Falken. Auf Küpfers stämmigem Arm wirkt er klein. 670 Gramm wiegt Karl, optimales Fluggewicht. «Wenn er 20 Gramm schwerer wäre, hätte er zu viel gegessen und keine Lust zu jagen», sagt Küpfer. Wiegt er 20 Gramm zu wenig, ist er unterzuckert und zu schwach fürs Training. Noch hat der Sakerfalke eine kleine rote Lederhaube über den Augen. So kann er sich an den Kontakt mit Menschen gewöhnen, ohne Angst zu bekommen. «Daher stammt die Redewendung, dass jemand bei der Heirat unter die Haube kommt», sagt Küpfer lächelnd.
In den nächsten 20 Minuten ist er für den kleinen Karl wie ein Vater. Er bindet ein Bibeli auf den Rücken einer Krähenattrappe und schwingt sie durch die Luft. Karl beobachtet das Schauspiel einige Minuten, reckt dann die Flügel und attackiert die Attrappe. So bringt ihm Küpfer das Jagen bei und trainiert seine wichtigsten Muskeln. Ein Falke, der keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht hat, wird innert dreier Wochen jagdtauglich. In der intensiven Trainingsphase verbringt der Falkner mindestens zwei Stunden täglich mit ihm.
Bevor er sich von den Vögeln verabschiedet, geht Küpfer ins Gartenhäuschen und holt 20 Bibeli. Sorgfältig legt er sie zum Auftauen in einen Plastikbehälter. Das Futter für morgen. Er winkt zu den Volieren: «Tschüss zäme, hebed s guet! Bis morn!» Von den Vögeln kommt kein Ton.