«Mensch und Tier erziehen sich gegenseitig»
Der bekannte Katzenforscher Dennis C. Turner weiss, wie Stubentiger ticken. Der Zürcher Zoologe, der seit Jahrzehnten Mensch-Tier-Beziehungen erforscht, kennt sich aber auch mit Tierfreunden und -hassern aus.
Veröffentlicht am 1. Oktober 2010 - 08:58 Uhr
BeobachterNatur: Weshalb halten Menschen Haustiere - Tiere, von denen wir keinen erkennbaren Nutzen haben?
Dennis C. Turner: Weil es menschlich ist. Heimtiere werden in allen Kulturen gehalten, auch in sogenannt primitiven Jägerkulturen - nicht nur als Jagdbegleiter, sondern als Gefährten. Denn Haustiere haben für uns sehr wohl einen Nutzen: Sie bringen viele Vorteile, auch gesundheitliche. Davon sind Menschen, die ein Heimtier halten, überzeugt, wie unsere neue internationale Studie ergeben hat.
BeobachterNatur: Aber ist es nicht so, dass Haustiere in manchen Kulturen einen hohen Stellenwert geniessen, in anderen weniger?
Turner: Der Umgang mit Haustieren ist kulturell nicht so unterschiedlich, wie wir gemeinhin annehmen. Heimtierhaltung ist zum Beispiel keine Besonderheit der westlichen Welt - im Gegenteil: Der Tierschutzgedanke ist im Koran sogar verankert. Unsere Studie widerlegt diverse Klischees, gerade im Zusammenhang mit Religion und Geschlecht. So muss auch die Vorstellung, Katzen seien Frauen- und Hunde Männertiere, revidiert werden.
BeobachterNatur: Es gibt aber auch Menschen, die mit Tieren nichts anfangen können. Wenn das nicht kulturell bedingt ist, woran liegt das dann?
Turner: Menschen, die als Kind keinen Kontakt mit Tieren hatten, haben später möglicherweise grosse Schwierigkeiten, eine gute Beziehung zu Tieren aufzubauen. Solche Menschen mit einer tiergestützten Therapie behandeln zu wollen, macht natürlich keinen Sinn. Dabei sind Tiere wunderbare Ko-Therapeuten mit einem feinen Sensorium für die Befindlichkeit des Menschen. So konnten wir etwa zeigen, dass eine Katze ähnlich wie der Ehepartner eines depressiven Patienten funktioniert: Sie ist bereit zu interagieren, wenn der Patient bereit ist, Hilfe anzunehmen. Katzen werden deshalb vor allem in der Psychotherapie eingesetzt; praktisch jede psychiatrische Klinik hält Katzen.
BeobachterNatur: Katzen wollen vom Menschen also nicht nur Futter?
Turner: Keineswegs, die Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit. Natürlich holt sich die Katze das, was sie vom Menschen braucht. Aber sie ist auch bereit, auf die Interaktionswünsche des Menschen einzugehen, sofern der Mensch die ihren erfüllt. Es ist eine symbiotische Partnerschaft, von der beide etwas haben. Bei der Mensch-Hund-Beziehung verhält es sich ähnlich, obschon vergleichbare Studien noch fehlen. Aber das wird sich bald ändern: Mit domestizierten Tieren zu forschen, ist im Trend.
BeobachterNatur: Birgt die Beziehung von Mensch und Tier nicht auch die Gefahr, dass Tiere vermenschlicht werden?
Turner: Eine Vermenschlichung des Tiers, die die Würde der Kreatur verletzt, ist strikt abzulehnen - etwa, wenn man dem Hund eine Sonnenbrille aufsetzt. Forscher vertreten aber heute die Ansicht, dass die Liebe zum Tier angeboren, der Mensch zur Vermenschlichung des Tiers geradezu prädestiniert ist. Kein Verhaltensbiologe zweifelt heute mehr daran, dass Tiere Gefühle haben.
BeobachterNatur: Einige Menschen quälen ihre Tiere - aus falsch verstandener Tierliebe.
Turner: Sie wissen es schlicht nicht besser. Ein Tierarzt sollte deshalb auch für die Beratung von Menschen geschult werden. 30 Prozent der Heimtierhalter im Westen haben Übergewicht und damit oft auch deren Heimtiere. Es sind aber immer Einzelfälle, die Schlagzeilen machen: Wenn zum Beispiel 20 Katzen in einer Drei-Zimmer-Wohnung gehalten werden, ist das ein Fall für den Tierschutz. Nicht selten hat in solchen Extremfällen auch der Mensch ein Problem: Das Herz ist am richtigen Fleck, nur der Verstand ist nicht ganz mitgekommen.
BeobachterNatur: Es gibt Menschen, für die Büsi oder Bello alles bedeutet. Ist eine solche Fixierung aufs Tier noch gesund?
Turner: Dabei handelt es sich meist um psychologisch komplexe Einzelfälle, die gern pathologisiert werden. Tierhalter könnten es nicht mit Menschen, heisst es dann. Dabei lebt die Mehrheit der Haustiere im Familienverbund mit Kindern. Normalerweise funktionieren Tiere als wichtiges Bindeglied zwischen Menschen: Sie erleichtern soziale Kontakte, gerade bei alten und behinderten Menschen.
BeobachterNatur: Wenn man Menschen und ihre Tiere beobachtet, könnte man manchmal annehmen, es sei das Tier, das den Menschen erzieht und nicht umgekehrt.
Turner: Ich würde sagen, Mensch und Tier erziehen sich gegenseitig. Wenn es in der Mensch-Tier-Beziehung jedoch Probleme gibt, liegt es meist am Menschen. Auch bei den sogenannten Kampfhunden geht die Gefahr nicht vom Tier, sondern vom Halter aus. Bis zu 95 Prozent der Männer, die wegen ihres aggressiven Hundes Probleme haben, sind bereits ohne Hund mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.
BeobachterNatur: Es gibt aber auch unerzogene Tiere - zum Beispiel Hunde, die einen anspringen, abschlecken oder es sich mit dreckigen Pfoten auf dem Sofa gemütlich machen.
Turner: Bei der Erziehung eines Hundes muss ganz klar der Mensch der Chef sein, weil er den Anführer im Wolfsrudel ersetzt. Der Hund muss lernen, dass er in der Rangordnung nach dem Menschen kommt das heisst aber nicht, dass der Mensch grob oder hart mit dem Hund umgehen muss. Die Rollen müssen einfach richtig verteilt sein im Rudel: Der Mensch zuoberst, der Hund zuunterst. Dann funktioniert die Beziehung.
BeobachterNatur: Manche Menschen lassen ihre Hunde bei sich im Bett schlafen. Spricht etwas dagegen?
Turner: Wenn Hunde im Bett schlafen dürfen, deutet das oft auf eine überstarke Beziehung des Menschen zum Tier hin. Es hängt auch damit zusammen, dass Hunde extrem soziale Wesen sind. Trotzdem rate ich davon ab, dass Mensch und Hund das Bett teilen, und zwar aus gesundheitlichen Gründen: Es besteht Gefahr von Zoonosen. Gewisse Milben können vom Hund auf den Menschen übertragen werden. Wenn der Hund schon ins Schlafzimmer darf, sollte er besser auf einer Decke am Boden liegen.
BeobachterNatur: Und wie steht es um Risiken im Zusammenleben mit Katzen?
Turner: Oft unterschätzt werden Katzenbisse, dabei sind sie sehr gefährlich: Katzen sind Fleischfresser, ihre Zähne und ihr Maul sind voller Bakterien. Wer von einer Katze gebissen wird, muss die Stelle gleich gründlich desinfizieren, sonst droht eine Blutvergiftung.
BeobachterNatur: Noch ein abschliessender Tipp für Haustierhalter?
Turner: Kurz: Im Zusammenleben mit Tieren braucht es vor allem gesunden Menschenverstand.
Dennis C. Turner, 62, ist Privatdozent der Vetsuisse Fakultät und Gruppenleiter in Verhaltensbiologie an der Universität Zürich. Der Zoologe leitet ausserdem das Institut für interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung Schweiz in Zürich und arbeitet als Gastprofessor an der Azabu-Universität in Japan. Als Katzenforscher und Autor von populärwissenschaftlichen Büchern ist der gebürtige Amerikaner weltberühmt geworden.
www.iemt.ch