Die Ziegen im Labor der Evolution
Kann man ein Ökosystem, das aus dem Gleichgewicht geraten ist, wieder ins Lot bringen? Schweizer Evolutionsbiologen sind dieser Frage auf Galapagos nachgegangen. Und haben eine erstaunliche Entdeckung gemacht.
Veröffentlicht am 11. März 2013 - 08:52 Uhr
Ein Eiland funktioniert wie ein Einmachglas. Es bewahrt sein Inneres vor äusseren Einwirkungen. Der Pazifik schirmte die Galapagosinseln während Jahrtausenden von Einflüssen des 1000 Kilometer entfernten Festlands ab. Auf dem unbesiedelten ecuadorianischen Archipel konnte sich deshalb eine Pflanzen- und Tierwelt entwickeln, die nur auf diesen 13 Inseln vorkommt.
Dieser Artenreichtum auf überblickbarem Raum stellte für Charles Darwin einen Glücksfall dar. Er beobachtete Tiere, insbesondere Finken und Spottdrosseln, die sich von Insel zu Insel in wenigen Merkmalen unterschieden, aber eng verwandt sein und von gemeinsamen Vorfahren abstammen mussten. Auf Basis seiner Beobachtungen formulierte der englische Wissenschaftler 1859 seinen Erklärungsansatz für die Entstehung der Arten, die Evolutionstheorie mit ihrem Schlüsselsatz: Arten sind veränderlich, und die besten Chancen zu überleben hat, wer am besten an seine Lebensumstände angepasst ist.
Bis heute machen sich Evolutionsbiologen die isolierte Situation der Galapagosinseln für ihre Untersuchungen zunutze. Und wieder spielen Vögel eine wichtige Rolle. Diesmal sind es Galapagosbussarde, die mit Schweizer Beteiligung untersucht werden. Ihr Bestand schwankt. «Unsere Forschungen zeigen beispielhaft, wie eine natürliche Wirkungskette unterschätzt werden kann», sagt Lukas Keller, Professor für Zoologie und Galapagosspezialist an der Universität Zürich. Schuld daran, dass die Bussarde auf der Insel Santiago beinahe ausgestorben sind, ist auf den ersten Blick eine Ziege.
Entdeckt wurde der Galapagosarchipel 1535 von einem Konquistador, einem Eroberer, der mit seinem Schiff vom Kurs abgekommen und von den Meeresströmungen zum Naturparadies getrieben worden war: Tomás de Berlanga, Bischof von Panama. In seinen Berichten an den spanischen König schildert der Abgesandte Seelöwen, Robben, Flamingos und Leguane sowie Land-, Wasser- und Riesenschildkröten. Deren Fleisch soll laut dem englischen Geograf und Freibeuter William Dampier (1651–1715) zarter sein als das eines Hühnchens. Die bis zu 350 Kilo schweren Tiere dienten den Piraten als Fleischvorrat. Die spanische Bezeichnung «galápago» für Schildkröte gab dem Archipel den Namen.
Die Ziegen wurden um das Jahr 1800 von Piraten eingeführt. Diese betrachteten Galapagos nicht wie später Charles Darwin als artenreiche Arche Noah, sondern als Versorgungsstation. Sie setzten die wendigen und anspruchslosen Pflanzenfresser sozusagen als lebende Konserven auf den kargen Inseln aus. Solange die Ziegen auf den Tellern von Freibeutern und Walfängern landeten, blieben ihre Bestände klein und stellten für das Ökosystem der Inseln kein Problem dar.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich das zu ändern. Der Konservendose sei Dank, waren die Schiffsmannschaften nicht mehr im selben Mass auf frisches Fleisch angewiesen. Die Ziegen vermehrten sich ungehindert, und die ortsfremde Art begann, das natürliche Gleichgewicht auf den Inseln zu beeinträchtigen, lokale Pflanzen und Tiere zu verdrängen. Die Wiederkäuer frassen den Riesenschildkröten Gras und Kräuter weg und zerstörten ihre Gelege. Es fehlte wenig, und die einzigartige Schildkröte wäre auf Santiago ausgestorben. Die Landechsen sind sogar vollständig verschwunden. Die eingeführten Ziegen entwickelten sich auf dem Einmachglas-Eiland zum Problem.
Als Ecuador die Galapagosinseln anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums von Darwins Evolutionstheorie 1959 zum Naturschutzpark erklärte, sollten die lokalen Pflanzen und Tiere auch vor den Ziegen geschützt werden. Unterstützt von Biologen aus aller Welt, verordneten die Behörden die Ausrottung des Störenfrieds. Ziegenjäger verfolgten die Tiere mit Hunden und Helikoptern. «Diese Aktion war nichts für zarte Seelen», sagt Lukas Keller.
Um letzte verstreute Tiere zu erwischen, kamen spezielle Ziegen zum Einsatz. Sterilisierte Ziegenböcke wurden mit Sendern versehen, um weibliche Wildziegen aufzuspüren. Sie erhielten den Namen Judasziegen. Geissen wiederum versetzte man künstlich in Paarungsbereitschaft, dann liess man sie frei, um die letzten Böcke aus ihren Verstecken zu locken. Die Forscher nannten sie Mata-Hari-Ziegen. Von 1961 bis 2005 fielen rund 360'000 verwilderte Ziegen der Ausrottungsaktion zum Opfer.
«Es schmerzt, wenn so viele Tiere getötet werden», sagt Keller. «Aber aus Sicht des Naturschutzes sind solche Aktionen unumgänglich.»
Von der Ziegenausrottung erhoffte man sich die Wiederherstellung des natürlichen Gleichgewichts in Fauna und Flora. Der ecuadorianische Biologe Hernan Vargas, der mit Lukas Keller zusammenarbeitet, beobachtete auf Santiago denn auch, wie ehemals bedrängte Pflanzen wieder zahlreicher wurden. Bei den Vögeln aber erlebte das Forscherteam eine Überraschung. Die mächtigen Galapagosbussarde gerieten unter Druck. Die Zahl ihrer Jungvögel fiel unmittelbar nach der Ziegenausrottung auf null, und in den folgenden Jahren blieben die Bestände klein.
Hernan Vargas suchte nach einer Erklärung. Die fiel einfacher aus, als er gedacht hatte: Die Bussarde hatten sich in den vergangenen 200 Jahren an das Ziegenvorkommen angepasst. Statt von Nagetieren und Echsen ernährten sie sich mit Vorliebe von jungen Geissen und Ziegenkadavern. Mit der Beseitigung der Ziegen wurden die Vögel nicht entlastet, sondern in Bedrängnis gebracht. Kurzum: Die Wissenschaftler waren ausgerechnet auf Galapagos, den Inseln der Darwin’schen Evolutionstheorie, Zeugen einer raschen evolutionären Anpassung geworden, weil Freibeuter und Forscher sich in die Natur eingemischt hatten.
«Menschen haben auf Galapagos schon immer eingegriffen», sagt Lukas Keller. «Ein Naturparadies bleiben diese trotzdem.» Seit ihrer Entdeckung vor fast einem halben Jahrtausend haben wir Menschen geschätzte 750 Arten auf die Inseln gebracht, vor allem Pflanzen und unscheinbare Insekten. Im Gegensatz zu den Ziegen lassen sie sich kaum ausrotten.
«Es wird einige Jahre dauern, bis die Bussarde ihr Verhalten ändern», sagt Keller. Aussterben wird das schöne Tier kaum. Der Zürcher Evolutionsbiologe rechnet damit, dass der Vogel dank der relativen Ungestörtheit auf dem Eiland bald mit den neuen Verhältnissen zurechtkommen wird.
Ausstellung «Galápagos»
Zoologisches Museum der Universität Zürich
bis 8. September 2013
www.zm.uzh.ch