Die Milch wird knapp
Zum ersten Mal seit Jahren gibt es keine «Milchschwemme» mehr: Hunderte von Schweizer Milchbauern geben auf – bereits geraten erste Milchverarbeiter in Not.
Veröffentlicht am 27. Mai 2013 - 10:29 Uhr
Die Produktion von Magermilchpulver in der Schweiz ist seit Anfang Jahr um 60 Prozent eingebrochen. Auch der grösste Schweizer Milchpulverhersteller Hochdorf produziert weniger von diesem Exportprodukt. «Im Moment exportieren wir praktisch nichts», sagt Sprecher Christoph Hug. Die Bauern liefern einfach zu wenig Milch. Einige haben sogar ganz mit dem Melken aufgehört.
Zum Beispiel Urs und Silvia Huser aus Dietschwil SG. «Die Rechnung ist für uns nicht mehr aufgegangen», sagt Urs Huser. Zu hoch war die Arbeitsbelastung, zu tief der Verdienst. «Oft haben wir Anfang Monat gemolken, ohne zu wissen, was wir am Monatsende dafür bekommen. Irgendwann kam dann ein Brief mit einer rückwirkenden Milchpreissenkung.»
22 Jahre lang hat sich Huser voll auf die Milchproduktion konzentriert. Er baute einen tierfreundlichen Stall und importierte als einer der Ersten Jersey-Kühe in die Schweiz. Jersey sind kleiner und leichter als das traditionelle Braunvieh, ihre Milch ist gehaltvoller. Huser war Milchbauer aus Leidenschaft. «Ich habe sehr gern gemolken. Das war jeden Morgen eine Auszeit für mich, ich konnte herunterfahren.» Seit letztem Sommer ist es aus mit der Auszeit.
Im Frühling, wenn die Wiesen grün und die Kühe gierig nach frischem Gras sind, gibt es in der Schweiz stets besonders viel Milch. Mehr Milch, als sofort zu Käse oder Frischmilchprodukten verarbeitet werden kann. Weil der Überschuss vor allem als Butter und Magermilchpulver konserviert wird, wird die halbe Jahresmenge Milchpulver von März bis Mai hergestellt. Normalerweise.
Doch seit letztem Sommer liefern die Bauern sechs Prozent weniger. Die Preise steigen. Hat Huser zur falschen Zeit aufgehört? Er schüttelt den Kopf: «Auch wenn Milch im Moment gesucht ist, sehe ich keine Zukunft mehr. Das dauert vielleicht noch ein, zwei Jahre, bis die Grenzen aufgehen. Dann wird ein Grossteil der Milch in Osteuropa abgefüllt.»
So lange kann der Milchpulverhersteller Hochdorf nicht warten. Die Firma machte letztes Jahr 35 Millionen Franken Verlust und im Jahr davor nur deshalb Gewinn, weil es einen Geschäftsbereich verkaufte. «Wir prüfen verschiedene Optionen, auch den Import von Rohmilch», sagt Sprecher Christoph Hug. Lukrativ ist das nicht. Denn so billig wie die Schweiz verkauft kaum jemand Milch. Die Bauern haben in den letzten Jahren einen grossen Teil der Milch zu EU-Preisen geliefert – oder sogar billiger. Aus Angst, die übervollen Tanks nicht leeren zu können, schlossen einige sogar langfristige Verträge für Überschussmilch ab. Viele liefern deshalb bis heute Milch für 23 Rappen pro Kilo, während die deutschen Bauern aktuell doppelt so viel bezahlt bekommen.
Woche für Woche hängen derzeit 18 Milchbauern das Melkzeug für immer an den Nagel. Wenn das so weitergeht, hören dieses Jahr 1000 Milchbauern auf; in den letzten Jahren waren es 700 bis 800. Viele von ihnen stellen auf Fleischproduktion um, denn dort sind die Preise stabil. Die Mutterkuhhaltung boomt.
Ist die Milchproduktion in der Schweiz also ein Auslaufmodell? Peter Gfeller, bis vor kurzem Präsident des Dachverbandes der Schweizer Milchproduzenten: «Das dachte man schon öfter. Aber es ist nie so weit gekommen.» Allerdings ist ihm aufgefallen, dass neuerdings sogar erfolgreiche Viehzüchter aussteigen. Dass Bauern mit leistungsfähigen Strukturen und neuen Ställen aufhören. Dass sogar grössere Betriebe mit 100 Kühen den Milchhahn zudrehen. Bauern wie Husers, die taten, was die Agrarpolitik von ihnen verlangte: Sie versuchten, wettbewerbsfähiger zu werden.
Vielleicht war genau das der Fehler. Seit Huser nämlich eine seiner Kühe einem Bauern im Zürcher Oberland verkauft hat, ist deren Milch beinahe einen Franken pro Kilo wert. Der neue Tierhalter beliefert damit eine kleine Käserei in Girenbad.
Fragt man Huser, ob er bei diesem Preis noch weitermelken würde, überlegt er nicht lange: «Aber sicher!» Doch Huser hat in seiner Region keine Spezialitätenkäserei vor der Haustür. Die Emmentalerkäserei im Dorf wurde vor Jahren liquidiert, obwohl die Einrichtung noch intakt war. «Wir sahen für den Emmentaler einfach keine Zukunft mehr.»
Danach stellte Huser auf Bio um – und wieder zurück, als der Biomilchmarkt gesättigt war. Nach dem Ende der Milchkontingentierung lieferte Huser seine Milch an eine Produzentenorganisation (PO), später wechselte er zu einer Produzenten-Milchverwerter-Organisation (PMO). «Dort bekam ich sechs Rappen mehr – das machte bei mir 8000 Franken im Jahr aus.»
Die Konkurrenz im Milchhandel ist gross. Die PO beliefern mehrere Verarbeiter, die PMO sind dagegen exklusiv an einen oder mehrere Verarbeiter gebunden. Solange der Milchmarkt gesättigt ist, haben die PMO-Bauern bessere Preise. Jetzt hingegen, wo Milch rar ist, zahlen die Verarbeiter den PO-Bauern bis zu sieben Rappen mehr pro Kilo Milch. Damit Milch nicht zu rar wird, boten die meisten Verarbeiter «ihren» PMO-Mitgliedern an, beliebig mehr Milch zu liefern. Aus Angst, Mitglieder zu verlieren, zogen die PO nach.
Als es dann zu viel Milch gab, machten die Verarbeiter Druck auf den Preis. Die Produzenten reagierten, indem sie in die Verarbeitung einstiegen. Statt billige Milch abzuliefern, aus der die Verarbeiter billigen Käse machten, stellten sie selbst Billigkäse her. Dumm nur, dass beim Käsen Rahm anfällt, der zu Butter verarbeitet wird. Also wuchs der Butterberg derart an, dass die Bauern den Butterexport mit 34 Millionen Franken fördern mussten. Um sich auch davon ein Stück abschneiden zu können, produzierte manche PO Butter. Die Folge: Der Berg wuchs weiter an.
Peter Gfeller sagt: «Die PMO wurden instrumentalisiert. Die Zweiteilung der Bauernschaft in PO und PMO gab den Verarbeitern die Kraft, uns auseinanderzudividieren.» Die Spaltung ging bis zum Dachverband. Irgendwann ging es im Verbandsvorstand nicht mehr darum, bessere Preise für alle Milchbauern auszuhandeln, sondern darum, zu verhindern, dass die einen einen halben Rappen mehr herausholten als die anderen. Gfeller warf das Handtuch. Sein Nachfolger wird es nicht leicht haben.
Auch für jene Verarbeiter, die auf billige Milch gesetzt haben, wird es hart. Dank tiefen Milchpreisen, staatlicher Verkäsungszulage und dem Marktentlastungsfonds für Milchfett konnten sie sogar noch etwas verdienen, wenn sie Käse zu 80 Rappen pro Kilo exportierten. Auch mit subventionierter Butter wurden neue Märkte für Billigprodukte aufgebaut, die weiterhin bedient sein wollen. Gfeller: «Diesen Sommer werden wir sehen, wie gut gewisse Firmen aufgestellt sind.» Wer wenig wertschöpfungsstarke Produkte im Sortiment hat, den wird das in diesem Sommer teuer zu stehen kommen: Jede siebte Kuh ist auf der Alp, im Tal fehlt Milch, der Preis wird steigen.
Die von Bundesrat und Parlament beschlossene Agrarpolitik 2014 bis 2017 trägt ebenfalls dazu bei, dass Milch knapper wird. Ab nächstem Jahr gibt es mehr Geld für die Landschaftspflege und deutlich weniger für die Produktion von Lebensmitteln. Das macht die Bauern zwar kein bisschen wettbewerbsfähiger, verbessert aber möglicherweise ihr Einkommen, schliesslich ist Landschaftspflege weniger aufwendig, als täglich Kühe zu versorgen. Husers werden ihren Betrieb, einmal mehr, danach ausrichten. Sie werden weniger Tiere halten, weniger chrampfen, mehr Ökoflächen anlegen – und mehr Direktzahlungen erhalten. Andere Bauern tun es ihnen gleich. Vier Jahre lang sind die Verarbeiter in billiger Milch geschwommen. Nun scheint der Milchsee zu versiegen.