Liebe verführt zu riskanten Reisen
In diesen Wochen wandern Millionen von Fröschen, Kröten und Molchen zu ihren Laichplätzen. Noch immer ist unklar, wie sich die Tiere orientieren. Bekannt ist, wie man sie vor dem Unfalltod auf den Strassen bewahren kann.
Veröffentlicht am 5. März 2010 - 09:07 Uhr
Kaum ist der letzte Schnee geschmolzen, beginnt das grosse Rascheln. Zu Tausenden kommen sie jetzt fast gleichzeitig aus den Löchern und begeben sich auf Wanderschaft. Die Ersten sind die Grasfrösche und die Erdkröten. Sobald abends die Dämmerung einsetzt, hüpfen sie zielstrebig in Richtung Teich. Und lassen sich dabei durch nichts aufhalten. Durch fast nichts.
Harald Cigler steht an diesem Abend Ende Februar an der Strasse zwischen Obfelden und Maschwanden ZH. Alle paar Minuten braust ein Auto vorbei. Cigler schaltet seine starke Taschenlampe ein. «Die Amphibien kommen aus dem Wald und wollen hier die Strasse überqueren», sagt der kantonale Beauftragte für Amphibienschutz im Knonauer Amt. «Das Ziel der Tiere ist der Teich, in dem sie sich paaren wollen.»
Früher kam es hier in jedem Frühjahr zu wahren Frosch-Massakern. Deshalb stellen Kantonsangestellte jeweils im Februar einen Zaun auf. Die Tiere hüpfen dem Hindernis entlang und fallen unweigerlich in die an strategischen Stellen im Boden versenkten Eimer. Freiwillige Naturschützer tragen sie dann über die Strasse. Keine ungefährliche Sache: «Die Polizei ist sehr besorgt um die freiwilligen Helfer, da es auf dieser Strasse viele Raser gibt», sagt Cigler.
Durchschnittlich 4400 Tiere werden in jedem Frühjahr an diesem etwa einen Kilometer langen Abschnitt eingesammelt. Insgesamt versuchen in der Schweiz pro Saison rund fünf Millionen Amphibien, eine Strasse zu überqueren – die Rückwanderung mit Jungtieren nicht eingerechnet.
Besonders gefährdet durch den Verkehr ist die Erdkröte. Ihr Problem: Sie hat es nicht besonders eilig. Während Grasfrösche häufig in grossen Sprüngen über den Asphalt hüpfen, verweilt sie bis zu einer halben Stunde auf der Strasse. Sie heizt sich gern auf dem warmen Belag auf und schaut sich gleichzeitig erhobenen Hauptes nach dem anderen Geschlecht um.
Die Weibchen werden zudem von paarungsbereiten Männchen behindert, die sich an ihren Rücken klammern und sich zum Teich tragen lassen. Ab und zu sichtet man auch Weibchen mit zwei oder sogar drei Männchen im Huckepack. Die Männchen sind massiv in der Überzahl, und ihr Klammerreflex ist in der Paarungszeit derart ausgeprägt, dass sie so ziemlich alles umfassen, was sich bewegt.
Immerhin können sich die Weibchen mit einem spitzen Befreiungsruf zur Wehr setzen, sollte es ihnen zu viel werden. Dasselbe tun Krötenmänner, wenn sie aus Versehen unter ihresgleichen geraten.
Wie sich die Amphibien auf ihren Wanderungen genau orientieren, ist noch immer ungeklärt. Fest steht, dass die meisten Arten im Frühjahr unbedingt an das Gewässer zurückkehren wollen, in dem sie selbst geschlüpft sind. Es ist fast unheimlich, wie zielgenau sie ihr Laichgewässer finden – und das über Distanzen von bis zu fünf Kilometern. Schon ab den 1930er Jahren versuchten zahlreiche Forscher, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, doch noch immer hat man erst Anhaltspunkte.
Der Biologe Gaston-Denis Guex erforscht das Verhalten der Amphibien seit über 30 Jahren. Er hat unter anderem am Zoologischen Institut der Universität Zürich gearbeitet und untersucht derzeit privat, wie sich Erdkröten orientieren. Er setzt jeweils eine Kröte in einen trichterförmigen Käfig, dessen Boden mit Fingerfarbe bedeckt ist. Nach einigen Stunden sieht er anhand der Spuren, in welche Richtung die Kröte wandern wollte: Es ist immer exakt die Richtung, die zu ihrem Laichgewässer weist auch wenn er das Tier an einen mehrere Kilometer entfernten Ort verfrachtet hat. Und selbst dann, wenn der Käfig abgedeckt ist und die Kröte weder Sonne oder Mond noch Sterne sehen kann. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Erdkröten das Magnetfeld der Erde spüren. Aber warum finden sie die Richtung sogar dann, wenn man einen starken Magneten neben den Käfig stellt? «Es ist ein Rätsel», sagt Guex.
Besser erforscht ist, wie sich die Tiere bei Kurzdistanzen orientieren: «Zur Feinorientierung nutzen die Tiere alle Sinne», so Guex. Gemäss neuen Studien spielt dabei der Geruchssinn eine grosse Rolle. Denn jedes Gewässer verströmt durch seinen Algenwuchs einen eigenen Duft. Zudem haben die Rufe der Artgenossen eine grosse Anziehungskraft. Und die Tiere verfügen über ein gutes Sehvermögen.
Doch was geschieht, wenn ein Laichgewässer nicht mehr existiert? «In diesem Fall können die Tiere teilweise umdisponieren und sich ein neues Gewässer suchen», erklärt Gaston-Denis Guex. Auch sonst legen sich anscheinend nie alle Tiere auf ihren Geburtsteich fest. Ein kleiner, von Art zu Art variierender Prozentsatz ist besonders wanderfreudig. Vor allem in jungen Jahren streifen diese «Abenteurer» scheinbar ziellos umher und besiedeln eventuell neue Teiche. «Am stursten» hingegen sei die Erdkröte, sagt Guex.
Wie Erdkröten sind auch Grasfrösche ausgesprochene Weitwanderer. Um im Frühjahr die Ersten am Teich zu sein, wandern sie teilweise bereits im Herbst in dessen Richtung los. Den Schlussspurt nehmen sie dann schon im Februar unter die Füsse, bei Temperaturen um die fünf Grad. «Das ist bemerkenswert», findet Guex, «immerhin sind die Amphibien wechselwarm, ihre Körpertemperatur entspricht also der Aussentemperatur.» Auch Frostperioden von bis zu minus fünf Grad überstehen die Frösche problemlos – weil ihre Körpersäfte ein Frostschutzmittel enthalten. Während der gesamten Wanderzeit fressen die Tiere nicht. Trotzdem erreichen sie den Paarungsplatz erstaunlich fit – und ohne gross abgenommen zu haben.
Über weite Distanzen wandert auch der seltene, exotisch anmutende Laubfrosch. Zäune sind für ihn kein Hindernis, da er gut klettern kann. Molche hingegen wandern bloss 100 bis 200 Meter weit. Sie sind so klein und unscheinbar, dass Automobilisten sie kaum bemerken – auch wenn eine Strasse voll davon ist.
Die Gefahr einer solchen Ansammlung besteht an diesem Februarabend nicht. Auf der Strasse zwischen Maschwanden und Obfelden sind keine Amphibien auszumachen. «Es ist etwas zu kühl», sagt Harald Cigler. Auslöser für den Marsch der Amphibien ist einerseits ihre innere Uhr, die alle gleichzeitig in Wanderlaune versetzt. Anderseits muss auch das Wetter stimmen; laue, regnerische Nächte sagen den Amphibien zu. Bei einem Kälteeinbruch hingegen verkriechen sie sich auf halber Strecke wieder unter Wurzeln.
Harald Cigler kontrolliert noch einmal den Zaun. «Eine solche Aktion ist für alle Beteiligten ein grosser Aufwand», sagt er. Und Stress bedeute sie auch für die Amphibien: «Die Tiere sondern in den Eimern massiv Hautgifte ab», so Cigler. Das könne unter den verschiedenen Arten zu Hautverätzungen führen. Besser wäre daher, man könnte das Problem anders lösen.
Eine Möglichkeit wäre, die Strassen temporär zu sperren – die Behörden würden dies aber nur bei einem Dutzend Stellen in der Schweiz erlauben. Gut funktionieren auch Amphibientunnel. Allerdings kostet der Bau bis zu 20'000 Franken pro Tunnel, und auf einer Strassenstrecke von einem Kilometer sind bis zu 20 solcher Durchgänge nötig. Oft bleiben schliesslich doch nur Zaun und Eimer.
Etwas geht dabei allerdings gern vergessen: Die Amphibien wandern nicht nur während der wenigen Wochen, wenn entlang der Strassen Zäune stehen. Sie sind, ausser im Winter, auch sonst sehr mobil. Erdkrötenweibchen zum Beispiel kehren schon kurz nach der Paarung wieder in den nahrungsreichen Wald zurück. Die Männchen hoffen noch auf unverpaarte Nachzüglerweibchen und wandern etwas später zurück.
Bei vielen anderen Amphibienarten bleiben die erwachsenen Tiere indes länger am Gewässer, bevor sie sich wieder auf die Suche nach einem geeigneten Ort zum Überwintern machen. Und dann sind da noch die winzigen Jungfrösche und Jungkröten. Sie verlassen den Teich erst im Juni oder Juli. Befindet sich ein Wald in der Nähe, ziehen sie bevorzugt in diese Richtung. Man geht davon aus, dass sie seine dunkle Silhouette erkennen können.
Mit Eimer-Aktionen kann also immer nur ein Teil der Tiere geschützt werden. Bei stark befahrenen Strassen tragen Zäune daher wenig zur Rettung der Populationen bei – die Tiere werden einfach einige Wochen später überfahren. Abhilfe schaffen an solchen Orten nur Amphibientunnel.
Zwei Tage später steht der Amphibienforscher Gaston-Denis Guex im Wald bei Adlikon ZH. Auch er betreut gemeinsam mit seiner Frau einen Amphibienzaun. «Heute ist das Wetter perfekt», stellt er fest und schaut in den bedeckten Abendhimmel. Es regnet ziemlich stark Krötenwetter eben.
Schon bald raschelt es hinter dem Zaun. Ein Erdkrötenmännchen sucht einen Durchgang. Seine goldenen Augen leuchten im Schein der Taschenlampe. Das Tier ruft mit leisem «erp» nach Artgenossen, und diese rufen zurück – aus dem nächsten Eimer, in den sie bereits gefallen sind. Auch viele Grasfrösche sitzen darin.
Dann leuchtet Gaston-Denis Guex die Strasse aus. Sie ist übersät mit Teich- und Bergmolchen, die alle in die gleiche Richtung wandern. «Die Molche vermögen über den Zaun zu klettern», sagt Guex schmunzelnd. Schnell sammelt er sie alle ein, bevor das nächste Auto kommt.
Tipps
Amphibienschutz: Wer aktiv werden oder einen problematischen Strassenabschnitt melden möchte, kann die Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz (Karch) kontaktieren: Telefon 032 725 72 07; www.karch.ch
Amphibien am Gartenteich: Wichtig sind flache Ufer und eine naturnahe Bepflanzung. Setzen Sie keine Fische ein. Warten Sie, bis die Amphibien von selbst den Weg zum Teich finden, und sammeln Sie keinesfalls Tiere oder Laich in der freien Natur ein.
Weiter Informationen
Broschüre «Amphibien der Schweiz»; 28 Seiten, 5 Franken. Erhältlich beim Schweizer Vogelschutz (SVS), Telefon 044 457 70 20; www.birdlife.ch
Andreas Meyer u. a.: «Auf Schlangenspuren und Krötenpfaden. Amphibien und Reptilien der Schweiz»; Haupt-Verlag, 2009, 336 Seiten, 71 Franken