«Mir gefallen Nacktschnecken»
René Heim hat eine neue Tierart entdeckt. Zehn Jahre hat der 56-Jährige am Naturmuseum Luzern geforscht. Nun bringt ihm sein «Sarner Schnegel» wissenschaftliche Ehre.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2009 - 18:50 Uhr
«Es war ein Zufall. Ich bin zwar schon eher der Feldforscher und deshalb oft draussen in der Natur, aber als ich am 3. Oktober 1999 auf dem Glaubenberg im Kanton Obwalden unterwegs war, hielt ich nicht Ausschau nach Tieren. Ich war auf Pilzsuche. Irgendwann sah ich unter einem Pilz eine Nacktschnecke, die ich nicht recht einordnen konnte. Das verwirrte mich. Allerdings: Die Schnecke war sehr jung, und bei jungen Schnecken ist es immer schwierig, die Art zu bestimmen. Ich packte sie ein und dachte: «Mal sehen, was daraus wird.» Ich hatte keine Ahnung, dass das ein Sarner Schnegel war, ein Limax sarnensis – eine Tierart, die ich soeben entdeckt hatte.
Die Schnecke liess mich ratlos. Nach zwei Wochen fuhr ich erneut an den Fundort zurück, um zu sehen, ob es dort noch mehr dieser Tiere gibt. Tatsächlich: Ich entdeckte einige weitere junge Schnecken, die genauso aussahen. Ich nahm auch sie nach Hause, und je grösser sie wurden, desto weniger geheuer war mir das Ganze. Ich kontaktierte Ueli Schneppat, einen befreundeten Tierpräparator und Schneckenkenner. Wir nahmen die Tiere unter die Lupe und stellten fest: Das waren Nacktschnecken aus der Familie der Schnegel. Bloss: Das waren keine Schnegel, wie sie in der Literatur beschrieben waren. Sie sahen anders aus, hatten eine andere Musterung. Langsam dämmerte uns, dass wir es vermutlich mit einer unbekannten Art zu tun hatten.
Im Frühling darauf suchten wir nach weiteren Tieren und wurden fündig: Wir konnten die Spezies in alpinen Wäldern der Zentralschweiz, in Graubünden, im Tessin, im Wallis, im Berner Oberland und im Norden Italiens nachweisen. Gleichzeitig durchforsteten wir Museumssammlungen in ganz Europa, um herauszufinden, ob diese Art schon früher irgendwo entdeckt und beschrieben worden war.
Wir fanden unseren Schnegel tatsächlich in einigen Sammlungen – aber immer waren die Tiere fälschlicherweise einer schon bekannten Art zugeordnet worden. Niemand hatte genau genug hingeschaut und erkannt, dass es sich um eine neue Art handelte. Klar, es ist manchmal schwierig, den Sarner Schnegel von blossem Auge von anderen Arten zu unterscheiden, selbst Fachleute haben da Mühe. Doch wenn man ein Exemplar aufschneidet, zeigt sich, dass sich seine Anatomie von anderen Arten unterscheidet. Zudem bewiesen DNA-Analysen, die Barbara Nitz von der Zoologischen Staatssammlung in München durchführte, dass sich die Art auch genetisch von allen anderen unterscheidet. Das ist eine neue Tierart, kein Zweifel.
Allerdings dauerte es fast zehn Jahre, bis wir uns völlig sicher waren. In dieser Zeit hatten wir über 1000 Tiere beobachtet, 300 davon genau untersucht und vermessen und über 50 aufgeschnitten und anatomisch untersucht. Diesen Herbst nun publizierte das «Journal of Molluscan Studies» den Fund, ein wissenschaftliches Magazin über Weichtiere. Damit hat der Name Limax sarnensis – oder eben Sarner Schnegel – Eingang in die Wissenschaft gefunden.
Der Name stammt von mir. Wer eine neue Art entdeckt, darf ihr einen Namen geben, er darf sie bloss nicht nach sich selbst benennen; eine internationale Kommission wacht darüber, dass sich da niemand ein Denkmal errichtet. Andere auf den Sockel heben, das darf man hingegen – manche Wissenschaftler taufen eine Neuentdeckung nach dem Namen eines Forscherkollegen, in der Hoffnung, der revanchiere sich dann, wenn er selber etwas entdeckt. Aber mir ging es nicht darum, mich zu verewigen. Ich entdeckte die neue Tierart auf dem Gebiet der Gemeinde Sarnen, darum fand ich den Namen gerechtfertigt. Ausserdem klingt er gut. Sarner Schnegel.
Stolz auf meinen Fund bin ich schon, denn es ist selten, dass heutzutage in Europa noch so grosse Tiere entdeckt werden. Der Sarner Schnegel misst immerhin 18 Zentimeter. Ein Mitarbeiter hat mir aus dem Tessin einen mitgebracht, der gar 23 Zentimeter lang wurde. Ein ziemlicher Apparat, über 50 Gramm schwer. Ein schönes Tier.
Manche Leute haben Mühe mit Nacktschnecken, finden sie eklig und schleimig, aber mir gefallen sie. Natürlich, eine braune Rossschnecke finde auch ich nicht speziell schön. Aber eine rötlich gefärbte Schnecke, das ist ein herrlicher Anblick. In den Karpaten gibt es gar einen blauen Schnegel. Oder nehmen wir den Sarner Schnegel: Er kann ganz weiss sein, gemustert oder ganz dunkel. Das finde ich faszinierend. Mein Blickfeld hat sich verändert, nach all den Jahren, in denen ich mich mit Schnecken befasst habe. Früher habe ich den Vögeln nachgesehen, jetzt blicke ich eher auf den Boden. Ich bin nun auch häufiger nachts in Wäldern unterwegs. Da bekommt man nichts von dem mit, was ausserhalb des Lichtkegels der Stirnlampe liegt. Höchstens mal ein Paar leuchtende Fuchsaugen.
Zu entdecken gibt es noch eine Menge. Ich schätze, allein in der Schweiz gibt es drei Schnegel-Arten, die noch nicht beschrieben wurden. Europaweit sind es noch viel mehr. Die Wissenschaft hat diese Tiere zu wenig beachtet. Forscher haben sie zu wenig genau untersucht und fälschlicherweise einer Art zugeordnet, die sie bereits kannten. Da wartet viel Arbeit auf uns. Spannende Arbeit.
In älterer Literatur finden sich verrückte Hinweise auf frühere Funde. Bei Genua soll zum Beispiel einmal eine über 40 Zentimeter lange Schnecke gesichtet worden sein. Wobei: Ich frage mich, ob man diese Art jemals wird nachweisen können. Vielleicht hat sie jemand auch einfach mit einer Blindschleiche verwechselt.»