Wo die wilden Elefanten leben
Im grössten Nationalpark Thailands haben es wilde Elefanten auf Ananasfelder und Motorräder abgesehen. Ein Projekt mit Unterstützung des Zürcher Zoos will die Menschen vor den Elefanten schützen - und umgekehrt.
Veröffentlicht am 7. Mai 2014 - 13:21 Uhr
Der erste Elefant, den wir zu Gesicht bekommen, trottet im Kreisverkehr und wird von Autos und kitschig lackierten Reisebussen überholt. Er trägt einen goldenen Kopfschmuck und auf dem Rücken eine Sänfte, die zu filigran wirkt für die zwei bleichen Touristen darin. Wir sind auf dem Weg in den Kaeng-Krachan-Nationalpark, fünf Stunden und eine Weltanschauung entfernt. Dort leben wilde Elefanten in Freiheit, und es braucht Glück, um einen zu entdecken. Hier im thailändischen Touristenort Ayutthaya tragen sie Kostüme und warten auf Kundschaft. Es bleibt ihnen wenig anderes übrig. Seit das Roden von Wäldern verboten ist und sie nicht mehr gebraucht werden fürs Holzschleppen, gibt es nicht mehr viel zu tun.
Den Elefanten im Kreisverkehr haben wir längst hinter uns gelassen, die Sträucher entlang der Landstrasse werden dichter und die Häuser weniger. Es ist nicht mehr weit bis zum Kaeng-Krachan-Nationalpark, der dem neuen Elefantengehege im Zoo Zürich seinen Namen geliehen hat. Der Nationalpark rund 200 Kilometer westlich von Bangkok, nahe der Grenze zu Burma, ist der grösste von 127 in Thailand.
«Wir wollen in Zürich ein möglichst authentisches Schaufenster in die Natur sein und unseren Zoobesuchern aufzeigen, was in der Wildnis vor sich geht», sagt Zoodirektor Alex Rübel, der uns, eine Gruppe Schweizer Journalisten, auf der Reise in den Nationalpark begleitet. Dort setzt sich die Naturschutzorganisation Wildlife Conservation Society für die wilden Elefanten ein – mit Unterstützung des Zoos Zürich. «Wir wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch einen wirksamen Beitrag leisten zu konkreten Projekten mit Bezug zu unseren Tieren», sagt Alex Rübel.
Manoon Pilosungnoen, der Leiter des Elefantenschutzprojekts, und sein Team wollen uns zeigen, wofür die Spenden aus der Schweiz verwendet werden. Manoon, Spitzname Ki, ist ein höflicher Thailänder Anfang 30, mit Hosen und Frisur im Millitary-Look, dafür mit umso freundlicherem Gesicht. Beim Eingang in den Nationalpark tauschen wir unseren Minivan gegen Pick-ups ein und streifen uns Stoffsocken über, die wir unterhalb der Knie festknoten sollen. Unsere einheimischen Begleiter fürchten die Zecken offenbar mehr als die Tiger, Leoparden, Malaienbären oder Gaurs, die riesigen Rinder, die hier durch die hügeligen Wälder streifen.
Je tiefer wir in den Regenwald fahren, desto undurchdringlicher wirkt er: Sträucher scheinen mit riesigen Farnen verwachsen zu sein, haushohe Bambusstämme sind wie Streichhölzer geknickt. «Das waren Elefanten», sagt Ki. Ob wir einen sehen werden? Ein paar Minuten später türmt sich am Strassenrand ein imposanter Haufen Elefantendung, kompakte Kugeln, manche so gross wie Handbälle. Ein Bächlein quert die staubige Strasse, dahinter wirbeln Hunderte von gelben, weissen und braunen Schmetterlingen durch die Luft wie Blätter im Herbstwind. Es ist drückend heiss, und aus dem Dickicht dröhnt ein Durcheinander aus Zirpen, Zischen und fremden Tierrufen, in das sich frühmorgens ein Zwitschergewitter entlädt und abends die Frösche einstimmen. Jemand glaubt, einen Elefanten zu riechen.
Ohne Vierradantrieb kämen wir nicht weit auf der Strasse, die auf 974 Metern über Meer ihren Höhepunkt findet: Der «Panoen Thung Scenic Point» wurde vor Monaten extra für den König errichtet. Das Staatsoberhaupt hatte damals seinen Besuch angekündigt, bei dem es möglicherweise Lust verspüren würde auf eine Aussicht wie diese. Hier kann man den Blick über den Regenwald schweifen lassen oder mit dem Feldstecher in ihn eintauchen. Ein Nashornvogel fliegt davon und steckt seinen grossen gelben Schnabel ins grüne Dickicht. In der Ferne reihen sich Bergketten aneinander, bis sie im Dunst über Myanmar verblassen. Der König weiss nichts von dieser Aussicht. Ihm kam kurzfristig etwas dazwischen.
3000 bis 3500 wilde Elefanten soll es in Thailand noch geben, vielleicht auch weniger; die meisten leben geschützt in Naturparks. Die 3200 bis 4200 Elefanten in Menschenhand dagegen gelten vor dem Gesetz als Sachen, mit denen die Besitzer tun können, was sie wollen. Sogar ihr Elfenbein verkaufen. Wird ein Elefant mit weisser Haut geboren, ist er heilig und gehört dem König. Ob er weiss genug ist, entscheidet ein königliches Komitee.
Viele Tiere enden als touristische Attraktion oder in einer der Auffangstationen, von denen es in Thailand ungefähr 100 gibt; eine davon in der alten Königsstadt Ayutthaya. Rund 80 ausrangierte oder «schwierige» Elefanten leben dort. Eine der Elefantenkühe – ein ehemaliger Kriegselefant – hat mehrere Menschen auf dem Gewissen. «Sie ist nicht gerade die Freundlichste», sagt die Australierin Ewa, als wir das Camp besuchen. Die Fotokünstlerin – roter Pagenschnitt, Elefantentattoo auf dem Oberarm, dazu ein T-Shirt, wie es hier alle tragen: schwarz mit einem weissen Elefanten auf rotem Hintergrund – kam vor Jahren, um Elefanten zu retten. Heute leitet sie das Camp.
Beim Eingang schrubben drei blondierte Mittfünfzigerinnen in schwarzen T-Shirts, Grösse XL, Flipflops und Shorts einen Elefanten mit Wasser ab und freuen sich wie Kinder, die zum ersten Mal einen Gartenschlauch in den Händen halten. Sie zahlen 330 Franken für drei Tage und zwei Nächte; ein ebenso langer Aufenthalt in einem Fünfsternehotel in Bangkok würde sie halb so viel kosten. «You make a real difference to the lives of our elephants», wirbt das Camp auf seiner Website.
Ein paar Schritte weiter führt ein Elefant mit seinem Rüssel einen Pinsel und malt drei ewiggleiche Sujets: eine Wiese mit farbigen Blumen, einen Elefanten im hohen Gras oder einen Elefanten vor zwei spitzen Bergen. In einem hohen Unterstand schwanken ein halbes Dutzend Kolosse gelangweilt hin und her. 57 Babys seien in den vergangenen 14 Jahren geboren worden, so viele wie in keinem anderen Camp, sagt Ewa. Freilich gebe es hier nicht für alle Tiere etwas zu tun. Manche würden für Elefantenshows ausgeliehen. Für Touristen, die auf ihnen reiten wollten. Oder für inszenierte Bullenkämpfe.
Ki tut sich schwer mit solchen Einrichtungen, die nicht wilde, sondern domestizierte Elefanten erhalten wollen. Die Zucht an einem Ort, der wenig gemein habe mit der Natur, sei ein heikles Thema, sagt er so diplomatisch wie möglich. Die Lüftung im Auto kommt nun kaum mehr gegen die Hitze im Nationalpark an. Bei jedem Stopp wechseln mehr von uns von ihrem weichen Sitzplatz auf die harte Ladefläche. Elefanten dürften von hier am besten zu erspähen sein. Doch die Chancen sind gering: Etwa 200 Elefanten leben auf rund 3000 Quadratkilometern, was ungefähr der Grösse des Tessins entspricht. Nur ein paar tausend Menschen gibt es hier, weit verstreut. Die meisten haben noch nie einen Elefanten zu Gesicht bekommen.
Ganz anders im Dorf Pa La-U, das mitten im Nationalpark liegt. Die einzige Zufahrt, die Hauptstrasse 3219, führt durch das Elefantengebiet. In der Abenddämmerung schälen sich die grauen Riesen aus dem Dickicht. Manche attackieren Autos, weil sie etwas Fressbares darin vermuten. Einer der Bullen, so erzählt uns ein Parkwächter, habe es auf Mofas abgesehen, und man stellt sich den Moment in der Abenddämmerung vor: Hier der drei Meter hohe Koloss und dort der Motorradfahrer, der nur diese eine Strasse hat.
Noch unberechenbarer sind die Elefanten bei Dunkelheit. Mitten in der Nacht seien sie gekommen und hätten alles zertrampelt, was sie angepflanzt habe, erzählt eine aufgebrachte Dorfbewohnerin. Alles hätten die Tiere gefressen, Ananas, Mangos, Kokosnüsse. Ihre Ernte sei völlig zerstört.
Manche Bauern haben deshalb auf Milchwirtschaft umgestellt. Andere versuchen sich mit Waffen zu verteidigen, denn 83 Wildhüter seien nicht genug, um den grossen Nationalpark zu überwachen. Zumal sie auch gegen Wilderer kämpfen müssen. 20 konnten sie im vergangenen Jahr fassen, auch dank des Zürcher Zoos, der die Wildlife Conservation Society mit Überwachungsgeräten und Datenbanken unterstützt. Die Fotos von Wilderern, die wie Jagdtrophäen präsentiert werden, bekommen wir bei jeder Gelegenheit zu Gesicht. Man zeigt uns auch das Foto des 22-jährigen Parkwächters, der im vergangenen Jahr sein Leben lassen musste im Kampf gegen die illegalen Jäger.
Hier im Dorf Pa La-U müssen die bedrohten Elefanten vor sich selber geschützt werden, um nicht als Opfer von Notwehr zu enden. «Elefanten und Menschen sollen miteinander leben können, ohne einander zu bedrängen», sagt Alex Rübel. Ein Schutzzaun aus massiven Stahlpfosten und dehnbaren Drähten könnte eine Lösung sein. Doch allein das Material für die rund 13 Kilometer würde rund 30'000 Franken kosten. Viel Geld in einer Gegend, in der es eine Mahlzeit für zwei Franken gibt.
Vorerst behelfen sich die Bauern mit einem elektrischen Zaun. Sobald Elefanten auf ihren Wanderungen den Draht berühren, werden Wachtposten in der Nähe alarmiert. Mit Scheinwerfern und Petarden versuchen sie, die Tiere zurück in den Wald zu treiben. Jede Nacht von 17 Uhr bis 3 Uhr früh harren sie auf ihren Posten aus, alle paar hundert Meter entlang der Hauptstrasse.
Auf einer der Holzpritschen sitzen zwei Männer, knapp 20-jährig, in der Tarnkleidung des Militärs. Auf der anderen Strassenseite verläuft der Zaun, ein paar Schritte weiter ist in einer Art Vogelhäuschen die Alarmanlage angebracht. Jemand zupft am Draht, und sofort heult die Sirene los, als hätte jemand versucht, ein Auto zu knacken. Tatsächlich steckte der Elefantenalarm früher in einem BMW. Die Petarden entpuppen sich als Knallkörper, die aussehen wie Golfbälle mit Zündschnur. Einer der Männer kramt eine Steinschleuder hervor, entfacht ein Feuerzeug und schiesst die Kugel in den dunklen Wald. Es knallt, und er lächelt. Lassen sich Elefanten von so etwas tatsächlich vertreiben? «Manchmal schon, manchmal nicht», sagt Ki. Unruhe kommt auf. Eine Gruppe von etwa 20 Elefanten soll im Anmarsch sein. Wir klettern auf die Pick-ups und rasen los. Vorneweg die Patrouille, die hier jeden Abend ihre Runden dreht, wir dicht dahinter. Nach wenigen Minuten verlassen wir die Hauptstrasse und biegen ab in ein Dickicht aus Farnen, Lianen und Bambus. Der Weg ist gerade breit genug. Immer wieder müssen wir uns ducken, damit uns die Sträucher nicht ins Gesicht peitschen.
Ein plötzlicher Stopp. Die Ranger drehen die Scheinwerfer ab. Es ist stockfinster. Nur eine kleine Grube trennt uns vom Wald, in dem wir Äste knacken hören. Dicke Äste. Ansonsten ist es still, blau leuchtende Glühwürmchen tanzen durch den Wald wie Laserlichter. Wir harren aus, starren ins Dunkel. Nichts. Wir fahren weiter, halten erneut. Gebrüll. «Ich komme mir vor wie im Godzilla-Film», scherzt ein Journalist. Ki ist unruhig: «Es ist nicht sicher hier. Bleibt bloss im Wagen!» Normalerweise sei immer nur eine Nachtpatrouille auf dem schmalen Waldweg unterwegs, um notfalls sofort fliehen zu können. Vor uns versperren zwei Pick-ups den Weg und hinter uns ein Auto, und ein paar Meter entfernt lauert möglicherweise eine Horde von 20 Riesen.
Es ist eindrücklich, wilde Elefanten zu sehen. Manchmal ist es noch eindrücklicher, sie nicht zu sehen. Die Ranger mahnen zum Rückzug. Bei der nächstbesten Gelegenheit verlassen wir den Wald.
Diese Reportage wurde vom Zoo Zürich unterstützt.
Die sechs asiatischen Elefanten haben ihr neues Daheim schon bezogen, ab 7. Juni wird der neue Kaeng-Krachan-Elefantenpark auch den Besuchern offenstehen. So naturnah wie möglich sollen sich die Tiere darin bewegen können; draussen in der Wald- und Flusslandschaft oder in der 5400 Quadratmeter grossen Innenanlage, deren Dach von weitem an eine Mischung aus Schildkrötenpanzer und Fussballstadion erinnert. Höhepunkt ist ein 800'000 Liter Wasser fassendes Becken. Besucher können die Elefanten beim Schwimmen beobachten, Unterwassersicht inklusive.
Der Elefantenpark ist nach dem Vorbild des thailändischen Nationalparks Kaeng Krachan gestaltet. Dort unterstützt der Zoo Zürich ein Projekt der Organisation Wildlife Conservation Society, die sich für wild lebende Elefanten einsetzt. Mindestens 30'000 Franken jährlich will der Zoo überweisen, und zwar langfristig. «Für ein Umdenken braucht es mindestens eine Generation Zeit», sagt Direktor Alex Rübel.
Weitere Informationen:
Kaeng-Krachan des Zoo Zürich
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Am 17. Juni 2014 bekam Elefantenkuh Indi ihr drittes Kalb. Sehen Sie im Video die Geburt.