Leben am Limit
Kaum ein Ort unserer Welt ist zu unwirtlich, als dass ihn nicht Lebewesen besiedelt hätten. Doch wie schaffen es Tiere, in extremer Hitze oder Kälte zu bestehen? Welche Anpassungen haben sie im Lauf der Evolution befähigt, die höchsten Berge, die tiefsten Meeresgräben zu erobern?
Veröffentlicht am 6. November 2009 - 08:33 Uhr
Wenn der Schneesturm mit 300 Kilometern pro Stunde über die Antarktis fegt und die Temperatur auf minus 60 Grad sinkt, dann gibt es für die Kaiserpinguine nur noch eines: zusammenrücken, auf die Fersen stehen und auf bessere Zeiten hoffen. Einige tausend Kilo-meter nördlich, in der Sahara, kämpfen die Tiere mit ganz anderen Problemen: Sie müssen einer Bodentemperatur von bis zu 80 Grad trotzen und – wichtiger noch – täglich an genügend Wasser kommen.
Die hasenähnlichen Säugetiere, die an den höchsten Gipfeln des Himalajas leben, sollten hingegen besser mit dünner Luft und Nahrungsmangel umgehen können. Noch lebensfeindlichere Bedingungen herrschen ganz unten, in der Tiefsee, mit einem Wasserdruck, der jeden Menschen sofort zermalmen würde. Auch eisige Temperaturen und vollständige Dunkelheit gilt es in diesem Hades zu meistern. Pflanzen können hier nicht wachsen. Doch wenn es keine Pflanzen gibt, was sollen dann die Tiere fressen?
Sie haben andere Nahrungsquellen gefunden – und das äusserst erfolgreich. Mehr als zehn Millionen Tierarten, vermuten die Forscher, «warten» in den dunklen Meeresgräben auf ihre Entdeckung.
Die Beispiele zeigen: Es gibt auf dieser Welt kaum einen Ort, an dem sich nicht Leben findet. Je extremer der Lebensraum, umso spezialisierter die Lebewesen – und umso rekordverdächtiger ihre Leistungen. Bloss: Was sagen wir zu jenen Wesen, die schlicht Alleskönner sind? Denen weder Frost noch Hitze noch extremer Druck noch Wassermangel etwas anhaben kann?
Das millimeterkleine, achtbeinige Bärtierchen ist ein solches Genie. Es überlebt Temperaturen von minus 273 Grad ebenso wie von 150 Grad plus – und kann vollständig austrocknen. Ohne den kleinsten Tropfen Wasser übersteht es mindestens zehn Jahre. In dieser Phase zeigt es keinerlei messbaren Stoffwechsel mehr. Zwei Tropfen Wasser genügen, um es aus der Totenstarre zu erlösen. Im Binokular zeigt sich Erstaunliches: Das anspruchslose Wesen beginnt zu quellen und zu spriessen. Nach zehn Minuten tapst es auf Stummelbeinchen umher, als wäre nichts gewesen.
Dieses Wunder können die im Folgenden porträtierten Tiere zwar nicht vollbringen. Aber auch sie sind Meister ihres Fachs – und haben es mit ihren Strategien ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft.
Vermummung, fasten, sich Fett anfressen zur rechten Zeit: Nur perfekt angepasste Tiere haben an den Polen eine Chance.
Schnee und Eis, Wind und Kälte – und sonst nichts. Das sind die Bedingun-gen, mit denen Lebewesen klarkommen müssen, wenn sie die Antarktis dauer-haft besiedeln wollen. Kein Wunder also, finden die Forscher im Inneren des Kontinents nur Moose, Flechten und gerade mal zwei Blütenpflanzen. Dazu Milben und winzige Springschwänze, die stets in einer Balance zwischen Erfrieren und Verhungern schweben – und nur deshalb nicht zu Eis erstarren, weil in ihrem Körper ein alkoholisches Frostschutzmittel pulsiert.
Die einzigen grösseren Tiere, die an diesem unwirtlichen Ort dauerhaft auszuharren imstande sind, sind die Kaiserpinguine. Sie besitzen die dickste Fettschicht aller Vögel und das dichteste Federkleid. Im tiefsten Winter brüten sie in Kolonien auf dem Packeis. Zu fressen gibt es hier nichts – doch daran haben sich die Vögel im Lauf der Evolution angepasst.
50 Tage verstreichen allein zwischen Balz und Eiablage. In dieser Zeit verlieren die Vögel bereits einen Viertel ihres Gewichts. Während die Weibchen nun erlöst sind und ins Meer zurückkehren, fasten die Männchen weiter – jemand muss sich schliesslich um das Gelege kümmern. Ein Ei pro Paar. Dieses legt sich der Vater auf die Füsse und bedeckt es mit der Speckfalte an seinem Bauch. Um keine Wärme zu verlieren, stellt er sich auf die Fersen. Und wenn der Wind über die Kolonie fegt, rücken alle zu einer grossen Gruppe zusammen. Natürlich drängelt jeder in die warme Mitte – was die ganze Kolonie in eine andauernde Bewegung versetzt.
Am Ende der viermonatigen Brutzeit haben die Männchen bis 30 Kilogramm Gewicht verloren und wiegen gerade noch 10 bis 15 Kilogramm. 120 Tage lang haben sie gefastet, wenn die Weibchen zurückkehren und die Aufzucht übernehmen. Jetzt bleibt den ausgezehrten Männchen noch ein Hindernis zu bewältigen: Der Packeisgürtel ist angewachsen. Der Weg ins Meer misst manchmal bis 100 Kilometer.
Mit Schnee und Eis, Wind und Kälte müssen auch die Tiere am Nordpol vorliebnehmen. Hier gehört der Eisbär zu den am besten angepassten Kältespezialisten. Er hält problemlos Temperaturen bis minus 40 Grad aus, und auch im bis minus 1,9 Grad kühlen Eiswasser vermag er stundenlang zu schwimmen. Sein Fell ist derart dicht, dass er sogar mit Infrarotkameras kaum zu sehen ist. Und wird es noch kälter, kommt ein Spezialeffekt zum Einsatz: Wie andere arktische Tiere verfügt der Eisbär über das «braune Fett» – womit die Tiere ihre Wärmeproduktion auf Turbomodus bringen können.
Die Männchen jagen auch im Winter, die Weibchen hingegen verkriechen sich in schützende Schneehöhlen, wo sie bis acht Monate Winterruhe halten. Und fasten. Pro Tag verlieren sie etwa ein Kilogramm Gewicht. In dieser Zeit kommen die Jungen zur Welt, welche die Mütter mit extrem nahrhafter Milch säugen. Der Fettgehalt beträgt etwa 33 Prozent – menschliche Muttermilch zum Vergleich hat nur etwa 4 Prozent. Was Wunder, werden die Jungtiere in Kürze bärenstark. Die Mutter dagegen fühlt sich zu Beginn des Sommers wohl ziemlich ausgezehrt. Zum Glück findet sie jetzt sehr viel zu fressen. Pro Saison kann eine Bärin das Vierfache ihres Gewichts zulegen – für ein Landsäugetier ist das Weltrekord.
Im Winter lange hungern, im Sommer kurz und tüchtig schlemmen – das ist die Devise der meisten Tiere, die an den Polen leben. Die Küstenseeschwalbe macht es besser. Sie fastet gar nicht und schlemmt dafür zweimal. Den nahrungsreichen Sommer verbringt sie rund um den Nordpol, wo sie ihre Jungen aufzieht. Wird es etwas kühler, geht sie auf die grosse Reise – zum Südpol, 18'000 Kilometer entfernt. Wenn die Vögel ankommen, ist auch dort Sommer – und erneut ist Schlemmen angesagt. Kurze Zeit später gehts zurück nach Norden. So fliegt die Seeschwalbe ein Leben lang von Sommer zu Sommer – und braucht weder zu frieren noch zu fasten.
Sogar in der Sahara muss es Wasser geben. Jedenfalls leben dort Tiere. Und nicht alle können ihr Wasser selber produzieren.
Tiere bestehen zu mindestens zwei Dritteln aus Wasser – und diesen Wert konstant zu erhalten ist überlebenswichtig. In der Sahara, dem «öden Land», wie es die Einheimischen nennen, wird das schnell zum Problem. Doch dass unter der brennenden Sonne, zwischen Sand und Steinen tatsächlich genügend Wasser gefunden werden kann, beweisen einige spezialisierte Tierarten jeden Tag.
So zum Beispiel der Dornschwanz – ein Reptil, das wochenlanges Dursten überlebt und kleinste Wasserquellen anzuzapfen weiss: Während er in seinem unterirdischen Bau sitzt, vermag seine Haut über Poren noch die geringste Luftfeuchtigkeit aufzunehmen. Das so gesammelte Wasser wird in feinen Hautkanälen zum Mund geleitet. Tropfenweise stillt das Reptil seinen Durst.Der Dornschwanz hat in der Anpassung an seinen Lebensraum eine weitere Fähigkeit entwickelt: Er vermag in seinem Körper aus Fett Wasser herzustellen. Für einen Liter Wasser verbraucht er allerdings etwa ein Kilogramm Fett.
Natürlich hat das Reptil auch das Wassersparen perfektioniert. Statt in flüssigem Urin stösst es die überschüssigen Salze in trockenem Zustand durch die Nase aus. Und um auch beim Atmen möglichst keine Feuchtigkeit zu verlieren, durchströmt die Luft seine Lungen zwei- statt nur einmal.
Fast ohne Wasser kommen auch einige Vogelarten aus. Die Wüstenläuferlerche etwa kann wochenlang aufs Trinken verzichten. Ihr reicht das in der Nahrung vorhandene Wasser – sie jagt zur Hauptsache Schwarzkäfer. Von den Mendesantilopen, den Dünen- und den Dorkasgazellen ist bekannt, dass sie überhaupt nie trinken müssen. Auch sie beziehen die lebensnotwendige Flüssigkeit aus Pflanzennahrung. Und der australische Frosch Cyclorana alboguttata überlebt gar fünf Jahre, ohne zu trinken und zu fressen. So lange muss er manchmal in seinem Erdloch warten, bis sich Down Under wieder einmal eine Regenwolke ins Landesinnere verirrt.
Für jene Tiere, die täglich Wasser brauchen, bleibt indes nur der Gang an eines der seltenen Wasserlöcher. Dort finden sich jeden Morgen Tausende Tiere ein. So etwa die Flughühner, die oft stundenlange Anflugswege haben. Den Küken im Nest bringen sie das kostbare Nass in einem speziellen Tank zurück – im flaumigen Brustgefieder. Bis 80 Gramm Wasser kann dieses aufnehmen. Und etwa 30 Gramm kommen nach dem Transportflug immerhin beim Nachwuchs im Nest an.
Wo Menschen längst Sauerstoffmasken brauchen, leben Tiere optimal angepasst - oder verblüffen als Rekordflieger.
Für Geier ist gute Flughöhe ziemlich wichtig. Auf der Suche nach Aas müs-sen sie grosse Gebiete überblicken. Ein afrikanischer Sperbergeier ist denn auchals der am höchsten fliegende Vogel, der je gesichtet wurde, registriert. Im November 1973 kollidierte er auf 11'274 Metern über Meer mit einem Flugzeug – dieses musste notlanden, der Geier ist Geschichte.
Besonders höhentauglich sind auch die Streifengänse: Auf dem Zug zwischen Brut- und Wintergebiet überqueren sie den Himalaja. Dem Sauerstoffmangel in diesen Höhen begegnen sie mit speziellen roten Blutkörperchen. Diese sind auch bei tiefem Luftdruck in der Lage, sehr schnell Sauerstoff aufzunehmen.
Wer allerdings dauerhaft auf dem Dach der Welt leben will, braucht nicht nur mit der Höhe klarzukommen, sondern auch mit andern Widrigkeiten: mit extremer Kälte, wenig Nahrung und häufigen Wetterumstürzen. Die auch im Himalaja lebenden Alpendohlen lösen diese Probleme elegant, indem sie sich an den Abfällen der Expeditionen gütlich tun und bei Sturm und Kälte in tiefere Gegenden ausweichen. Weniger vornehm ist vielleicht, dass ihnen auch schon abgestürzte Alpinisten als Nahrungsquelle gedient haben sollen.
Die Springspinne namens Euophrys omnisuperstes hingegen ernährt sich von zufällig herangewehten Insekten. Das genügt anscheinend, um auch auf 6700 Metern über Meer zu siedeln. Ein Frostschutzmittel in den Körpersäften sorgt dafür, dass sie die garstigen Temperaturen übersteht.
Unter den Säugetieren sind indes die Pikas oder Pfeifhasen die absoluten Höhenspezialisten. Zwei Arten kommen am Mount Everest bis auf eine Höhe von 6125 Metern vor. Einen Winterschlaf machen die Tiere in der Grösse eines Meerschweinchens nicht. Sie haben eine andere Anpassung an den eisigkalten Lebensraum gefunden: Nach Art der Bergbauern legen sie im Sommer mehrere grosse Heuhaufen an, die ihnen später als Nahrungsquelle dienen. Der Kälte entgehen sie, indem sie sich in Tunnels unter dem gut isolierenden Schnee bewegen.
Die Tiefsee ist eine teuflische Zone - trotzdem wimmelt sie von Leben. Ein paar Weltmeister warten noch auf Entdeckung.
Fast immer, wenn Meeresforscher die Netze tiefer als 6000 Meter absenken,fangen sie bislang unbekannte Lebewesen. In den scheinbar total lebensfeind-lichen Tiefseegräben leben viel mehr Kreaturen, als man je dachte – vor allem anheissen Quellen, bei Vulkanschloten und Lagerstätten von Methanhydrat.
Bisherige Rekordhalter im Tauchen ohne Sauerstoffflasche sind: Herbert Nitsch (Mensch, Tauchtiefe 214 Meter); der Pottwal (Säugetier, 2000 Meter); namenlose weisse Fische, die zu den Scheibenbäuchen (Liparidae) gehören (7700 Meter); der Flohkrebs Hirondellea gigas (gefunden am tiefsten Punkt der Meere, zirka 11'000 Meter). Sie alle müssen den extremen Wasserdruck ertragen: In 7000 Metern Tiefe entspricht dieser etwa dem Druck von 1600 Elefanten auf dem Dach eines Mini Coopers.
Nicht nur mit Druck, sondern mit wahrhaft höllischen Zuständen muss der Pompeji-Wurm leben können. Der vielleicht erstaunlichste aller Würmer siedelt bei Temperaturen von bis 80 Grad Celsius an sogenannten Schwarzen Rauchern – an natürlichen Kaminen von heissen vulkanischen Quellen, aus denen konstant Schwefel und andere Gifte strömen.
Damit der Kopf geschützt ist, sitzt der Wurm in einer hitzeresistenten Höhle; zudem «strickt» er sich eine schützende Decke aus fädigen Bakterien. Der Hinterleib hingegen ist der unbekömmlichen Chemikaliensuppe schutzlos ausgesetzt. Und was frisst der Wurm? Bakterien, natürlich.
Mark Carwardine: «Extreme der Natur»; National Geographic, 2008, Fr. 36.90
Auch unter den einheimischen Tieren gibt es Weltrekordhalter. Einige Beispiele.
- Wiesenschaumzikade: Dieses häufige Insekt, das auch bei uns vorkommt, hält den Weltrekord im Hochsprung. Das Tier ist nur 5 Millimeter gross, hüpft aber bis zu 70 Zentimeter hoch. Bei einem 1,8 Meter grossen Menschen entspräche das einem Sprung von 210 Metern. Beim Abspringen erreicht die Zikade eine Beschleunigung, die 550-mal grösser ist als die Erdbeschleunigung.
- Gletscherfloh: Es ist kaum zu glauben, aber dieses gerade mal 1,5 Millimeter kleine Urinsekt lebt im Inneren von Gletschern. Noch bei Temperaturen von minus 16 Grad bewegt sich der Floh aktiv durch Schnee und Eis. Möglich machen das Frostschutzmittel in den Körpersäften. Nahrungsmangel hat der kleine Hüpfer nicht: er ernährt sich von Pollen und anderen organischen Teilchen, die herangeweht werden und in grosser Menge im Gletscher gespeichert sind.
- Mauersegler: Der Vogel, der auch bei uns häufig an Häusern brütet, ist Weltrekordhalter im Dauerflug. Bis zu zwei Jahren kann er ununterbrochen in der Luft verbringen. Er jagt, schläft und paart sich in der Luft, nur zum Brüten landet er.
- Wanderfalke: Mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern ist dieser kleine Greifvogel das schnellste Tier der Welt. Regelmässig zu beobachten sind seine Sturzflüge zum Beispiel in Zürich oder Basel, wo der Wanderfalke an Kaminen brütet und Stadttauben jagt.
- Steinadler: Diesem einheimischen Greifvogel sagen die Biologen die beste Sehkraft nach. Während die Augen des Menschen 200 000 Sehzäpfchen pro Quadratmillimeter aufweisen, sind es beim Adler fünfmal mehr. Damit kann der Vogel eine Maus noch aus einer Höhe von 1,5 Kilometern erspähen.