Schützen oder schiessen?
Seit 40 Jahren lebt der Luchs wieder in der Schweiz. Doch noch immer sorgt seine Anwesenheit für Streit. Denn er frisst Rehe und Gämsen. Und selten auch ein Schaf.
Veröffentlicht am 3. Februar 2012 - 09:34 Uhr
Ein Mittwoch im Dezember, 9 Uhr, Schneegestöber. Mari schläft in einem abgelegenen Waldstück oberhalb von Oberwil im Simmental, gut versteckt unter den Ästen eines Baums. Das Luchsweibchen hat zwei halbjährige Junge bei sich. Die drei Raubkatzen sind wohl-genährt.
Zur selben Zeit im Tal. Ein schwarzer Subaru mit einer langen Antenne auf dem Dach fährt durch Dörfer mit dunkelbraun gestrichenen Chalets, Sägewerken und Gasthöfen, die «Adler», «Hirschen» oder «Jäger» heissen. Bei Reidenbach biegt der Wagen auf einen Feldweg ab. Bauern mit Zipfelmützen schauen ihm misstrauisch hinterher. Ein Herdenschutzhund kläfft.
Das Auto fährt in den Wald, bei einem Holzstapel steigt ein Mann aus. Kurze Haare, feldgrüne Hose, Faserpelz. Er kniet nieder, schnüffelt, fast wie ein Hund. Er wischt den Dreck von seiner Hose und sagt: «An dieser Holzbeige hat vor kurzem ein Luchs markiert.»
Andreas Ryser freut sich, Luchsspuren zu finden. Seit Wochen versucht der Bio-loge, in dem Gebiet einen Luchs zu fangen, um ihn mit einem Senderhalsband zu versehen. Weiter oben hat er eine Falle aufgestellt: eine mannshohe Holzkiste, hinten und vorne offen, mit Tannzweigen getarnt. Durch die Mitte des Kastens ist ein Faden gezogen. Berührt ihn ein Luchs, krachen die Türen zu.
Zurzeit tragen lediglich zwei Luchse einen Sender, darunter das Weibchen Mari. Dank dem technischen Hilfsmittel wissen die Forscher der Schweizer Raubtierforschungsstelle Kora, wo die Tiere sich aufhalten und wie sie den Raum nutzen.
Die Daten sind wichtig – nicht nur, um Informationen über die Lebensweise des Luchses zu sammeln. Sondern auch, um den Konflikt um das Raubtier zu entschärfen. Um den Streit von der emotionalen auf die sachliche Ebene zu bringen. Um Gerüchte durch Zahlen zu ersetzen.
«Mich stört es nicht, wenn jemand gegen den Luchs ist», sagt der Luchsforscher Andreas Ryser. «Aber die Diskussion soll nicht auf Märchen basieren, sondern auf Fakten.»
«Fakt ist: Wir haben viel zu viele Luchse hier», sagt David Matti, Jäger aus Saanen. «Ein unhaltbarer Zustand, ganz klar.»
«Fakt ist: Die Tiere sorgen doch selber dafür, dass sie nicht zu zahlreich werden», sagt Ernst Zbären, Naturfotograf aus St. Stephan.
«Tatsache ist doch, dass die Raubtiere hier keinen Platz mehr haben», sagt Arthur Kauer, Schafzüchter aus Oberwil.
Exakt 40 Jahre ist es her, dass in der Schweiz die ersten Luchse wiederangesiedelt wurden. Gerade mal 110 Tiere leben heute in den Schweizer Alpen, 30 weitere im Jura. Aber noch immer erscheinen in den Lokalzeitungen der Westalpen und der Jurakantone regelmässig Briefe von empörten Lesern, die den Luchs weghaben wollen. Denn der hat ein Problem: Er ist ein Raubtier. Und er frisst Rehe und Gämsen. Und sehr selten auch mal ein Schaf.
«Gerade kürzlich», sagt Andreas Ryser, «hat ein Wildhüter wieder Morddrohungen erhalten.» Einem Jäger, der für den Luchs ist, haben Unbekannte einen Zettel an die Windschutzscheibe geheftet: «Luchsfreunde sind hier unerwünscht.» Und dem kleinen Buben eines Wildhüters haben sie gesagt: «Wenn wir deinen Vater sehen, dann erwischt es ihn.» Einem haben sie vor einiger Zeit gar das Haus angezündet.
«Ich gebe zum Thema Luchs keine Auskunft», sagt einer der Wildhüter. «Schliesslich will ich noch weiterleben.» Ein anderer schreibt: «Wir dürfen nichts dazu sagen. Der Luchs ist Chefsache.»
Mittwoch, 16 Uhr. Durch die dichten Schneewolken dringt kaum noch Licht. Mari und ihre Jungen sind jetzt in Bewegung: Dank Senderhalsband kann das Luchsweibchen stets geortet werden. Wahrscheinlich wandert die Familie zu einem gerissenen Reh, um zu fressen.
Ein Luchs reisst um die 50 Huftiere pro Jahr. Hochgerechnet macht das in der Schweiz jährlich 8000 Rehe oder Gämsen, die der Raubkatze zum Opfer fallen. Im selben Zeitraum geraten 54 000 Rehe und Gämsen vor die Jägerflinte. Tendenz: stag-nierend.
«Dass hier im Tal einige frustriert sind, muss man auch verstehen», sagt David Matti. Er ist Präsident des 80 aktive Mitglieder zählenden Jagd- und Wildschutz-vereins Saanenland. Der 38-jährige Rechtsanwalt und Notar, weisses Hemd, Strickpullover, sitzt in seiner Anwaltskanzlei in Saanen. «Stellen Sie sich einen alten Jäger vor. Der hat 40 Jahre lang seine Rehe gehegt und gepflegt. Dann kommt der Luchs und macht alles zunichte. Dass der Jäger keine Freude hat, ist ja wohl klar.»
Früher, sagt Matti, sei das Gleichgewicht zwischen den Rehen und den Jägern intakt gewesen. Die Waidmänner fütterten im Winter die Rehe, retteten im Sommer die Kitze, schossen im Herbst einen Teil der Tiere ab. Doch dann wurden im Simmental und im Saanenland die Huftiere plötzlich scheuer. Der Luchs war da. In den neunziger Jahren brach der Rehbestand auf ein Drittel ein. Gleichzeitig zählte man im Gebiet 2,1 Luchse auf 100 Quadratkilometern – für die Schweiz ein neuer Rekord. Ab da durfte jeder Jäger nur noch zwei Rehe pro Jahr erlegen statt wie früher drei.
Das war kein grosser Unterschied. Aber er reichte aus. Die Emotionen gingen hoch. Wilderer schossen Dutzende von Luchsen ab. Ein Wilderer schickte dem Berner Jagd-inspektor vier abgehackte Luchspfoten. Ein anderer deponierte einen Luchska-daver vor einem Einkaufszentrum. Bald brach die Population der gefährdeten Katzenart innert kürzester Zeit auf die Hälfte ein.
David Matti schaut gedankenverloren aus dem Fenster. «Heute bestreiten wir Jäger ja gar nicht mehr, dass der Luchs eine Daseinsberechtigung hat», sagt er. «Und wir haben inzwischen gelernt, dass mit Anschuldigungen und Emotionen nichts zu erreichen ist.» Trotzdem, meint er, sei das Gleichgewicht noch lange nicht wiederhergestellt. Der Rehbestand sei längst nicht auf dem richtigen Niveau, der Luchs noch immer viel zu zahlreich vertreten.
Derzeit zählt man 1,9 Luchse auf 100 Quadratkilometern. Macht 24 Luchse in einem Gebiet, das vom Thunersee bis fast zum Genfersee und von Adelboden bis nach Greyerz reicht.
«1,1 Luchse – das ist für mich die Grenze», sagt Jäger Matti.
Donnerstag, zwei Uhr morgens. Kein Mond, keine Sterne, es regnet in den Neuschnee hinein. Mari und ihre beiden Jungen sind seit Stunden unterwegs. Dabei kommen sie auch ganz in die Nähe der Falle. Das Weibchen markiert an Scheiterbeigen, Ställen und Steinen, wittert die Duftmarken der Artgenossen. Die Ranzzeit bahnt sich an. Mari beginnt sich für das andere Geschlecht zu interessieren.
Luchse haben riesige Territorien von 100 bis 200 Quadratkilometern. Dabei überlagern sich die Reviere der Männchen und der Weibchen. Neben den erwachsenen Tieren streunen adoleszente «Nomaden» durch die Wälder, die rund 20 bis 30 Prozent der Population ausmachen. Doch die Sterberate ist hoch: Nur jeder vierte Luchs wird älter als zwei Jahre.
Einen Anhaltspunkt über die Todesursachen liefert die systematische Untersuchung der toten Luchse. Es zeigt sich, dass der Mensch für mindestens 60 Prozent der Todesfälle verantwortlich ist. Neben vielen Verkehrsunfällen ist vor allem die Wilderei ein Problem. 21 Prozent der knapp 300 Tiere, die man in den letzten 40 Jahren tot auffand, waren illegal abgeschossen oder vergiftet worden. Das entspricht rund 60 gewilderten Luchsen. Die Dunkelziffer dürfte allerdings viel höher sein: Als die Kora im Jura Forschungsarbeiten durchführte, schossen Wilderer zwölf besenderte Luchse ab. Zehn dieser Tiere hätte man nie gefunden, hätten sie keinen Sender getragen.
«Luchse zu wildern ist recht einfach», weiss der Biologe Andreas Ryser. «Entweder man begegnet der Raubkatze zufällig und drückt ab, oder man findet ein gerissenes Reh und wartet, bis der Luchs zum Fressen zurückkommt.»
Schwierig scheint es hingegen, die Wilderer zu finden: Bloss vier Luchsfrevler konnten in den letzten 40 Jahren identifiziert und belangt werden, obwohl die Wildhüter jeden Fall anzeigen.
Aber auch legale Tötungen fordern ihren Tribut: Acht Luchse haben die kantonalen Behörden bisher «aus der Wildbahn entfernt», weil sie zu viele Schafe rissen. Und in Zukunft will man die Luchse auch dann dezimieren, wenn den Kantonen zu viele Jagdgelder entgehen. Neben der Jägerschaft waren sämtliche Kantone für diese neue Regelung. Im Juli soll sie in Kraft treten.
«Traurig», murmelt Ernst Zbären. «Furchtbar.» Der rüstige Naturfotograf sitzt am Donnerstagmorgen am Küchentisch in seinem «Heimetli» in St. Stephan zwischen Zweisimmen und Lenk.
Der Luchs, sagt er, sei doch im Grunde ein gutmütiger, lieber «Tscholi». Harmlos und wunderschön. Dass er Rehe fresse, liege in der Natur der Sache. «Aber wer den Luchs deswegen aus der reichen Schweiz weghaben will, ist doch einfach engstirnig.»
Ernst Zbären lernte Maschinenschlosser, machte aber seine Passion bald zum Beruf und wurde Fotograf. Er engagierte sich im Naturschutz und in der Politik, wurde auch Grossrat für die Grünen. «Je älter ich werde», sagt er, «desto mehr fasziniert mich die Natur.» Den Luchsen konnte er auf seinen Streifzügen durch das Sim-mental mehrmals begegnen. Manchmal gleich oberhalb des Hauses. Einmal beob-achtete er sogar, wie die Jungen mit der Mutter spielten. «Wunderbar.»
Er senkt den Kopf, schaut auf den Tisch. «Wissen Sie», sagt Zbären, «es gibt ja auch hier einige Leute, die für den Luchs sind. Aber die können das nicht öffentlich sagen.» Denn die Region sei eben politisch unmöglich, «brandschwarz, dunkelgrau und rostig».
«Das ‹Strübste› ist ja der Teufel», murmelt der Fotograf. «Und ein Grüner, das ist hier der Bruder des Teufels.»
Donnerstag, 13 Uhr, Dauerregen. Mari und die beiden Jungen schlafen heute in einem anderen Kanton: in den Freiburger Alpen, mehrere Kilometer vom Schlafplatz im Simmental entfernt. Die Batterien des Senders werden schwächer. Wenn das Weibchen nicht bald in die Falle tappt und die Batterien nicht erneuert werden können, weiss bald niemand mehr, wo sich die Luchsfamilie aufhält. Ob sie überhaupt noch lebt.
«Es ist schon unglaublich», sagt Fridolin Zimmermann, «wie viele Emotionen der Luchs noch immer weckt.» Der Kora-Luchsforscher, ein Kollege von Andreas Ryser, ist ebenfalls auf Waldwegen im Simmental unterwegs. Der Wald hat an diesem Nachmittag eine eigenartige dunkelrote Farbe angenommen, der Schnee ist im Regen der Nacht ertrunken. Zimmermann ist unterwegs, um Fotofallen zu kontrollieren: kleine Apparate mit Bewegungsmeldern, die Bilder schiessen, wenn ein Tier vorbeischleicht. An 82 Standorten in den Westalpen sind derzeit Fotofallen angebracht. Die meisten stehen an bekannten Luchswechseln – auch an jenen von Mari. 60 Tage lang knipsen die Apparate. Dann berechnen die Forscher, wie viele Luchse es in einer Region gibt.
«Die Luchsdichte mag lokal recht hoch sein», sagt Fridolin Zimmermann. «Aber das bedeutet nicht, dass die Art in den Alpen nicht mehr gefährdet ist.»
Der Niedergang des Luchses begann im 17. Jahrhundert. Auf alle Raubtiere machte man gnadenlos Jagd. Das Abholzen der Wälder dezimierte die Huftiere, die Beutetiere des Luchses. 1894 wurde in der Schweiz der letzte Luchs geschossen, europaweit blieben nur noch einige hundert Tiere übrig. Die Karpaten sowie Teile Skandinaviens und des Baltikums bildeten letzte Refugien.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich die Populationen etwas ausweiten. Ab den siebziger Jahren siedelte man dann den Luchs auch im Alpenbogen wieder an. Heute ist die Art im Jura, in den Westalpen, im westlichen Balkan und im Bayerischen Wald erneut präsent. Da die kleinen Populationen aber nicht miteinander vernetzt sind, ist der Luchs in ganz Süd-, West- und Mitteleuropa immer noch selten und gefährdet.
«Wenn wir den Luchs erhalten wollen», sagt der Biologe Fridolin Zimmermann, «dann müssen wir die Bestände zwingend ausweiten und miteinander in Kontakt bringen.» Das aber ist alles andere als einfach. Weil der Luchs viele Jahre braucht, bis er neue Regionen besiedelt. Weil man den Leuten die Raubkatze nicht aufzwingen kann. Und weil der Luchs noch immer abgeschossen wird. «Gäbe es keine Wilderer», sagt Zimmermann, «ginge es bestimmt viel schneller.»
«Wilderer? Ja, hoffentlich gibt es die noch», sagt Arthur Kauer, Präsident der Schafzuchtgenossenschaft Oberwil. Er jedenfalls würde einen Wilderer nicht anzeigen, wenn er einen zu Gesicht be-käme. «Ich würde ihm aber auch nicht auf die Schulter klopfen.»
Kauer sitzt im Wollpullover in einem Restaurant in Zweisimmen. Er nippt an einem Kaffee Crème. Der Mann ist freundlich, redet eloquent. Draussen ist es Nacht geworden.
Im Winter ist Arthur Kauer Zimmermann. Im Sommer führt er bis zu 600 Schafe auf die Alp. Rund 90 Tiere gehören ihm, die restlichen werden ihm anvertraut. Hirt zu sein sei für ihn kein Beruf und schon gar kein Hobby, sagt er. Es sei eine Passion.
Arthur Kauer verlor beinahe jedes Jahr Schafe durch den Luchs, fünf maximal. «Die sind nicht sofort tot, die sind zerfetzt und leben noch eine Zeit lang», sagt er. «Und hinten hängt noch das gehäutete Gigot heraus.» Das schmerze dann die Schäferseele, auch wenn der Staat für die Schäden aufkomme.
Allerdings haben die Probleme mit dem Luchs nachgelassen: Schweizweit reissen die Luchse noch 20 bis 40 Schafe pro Jahr. Und auf Kauers Alp haben sie letztes Jahr überhaupt keine Schafe mehr geholt. Der Grund sind wohl die Schutzhunde, die jetzt die Herden bewachen. Aber seine Meinung über den Luchs hat Kauer deswegen nicht geändert.
«Luchse», sagt er, «sind zwar wahnsinnig schöne Tiere. Aber ein Raubtier gehört einfach nicht hierher.» In Sibirien oder Kanada könne der Luchs leben. Da habe er noch Platz. Aber in der Schweiz? Da sei der Mensch doch überall. Da sei doch alles geregelt. Da könne doch die Natur gar nicht mehr spielen. «Glücklicherweise», so Kauer, «stehen die Menschen im Sim-mental zusammen. Alle, mit denen ich spreche, sind auf unserer Seite.»
Donnerstag, 21 Uhr, Regen, Nebel, Dunkelheit. Die Luchsfamilie ist hoch über den Dörfern auf Pirsch. Noch treffen die Standortdaten via Satellit bei der Forschungsstelle ein. Aber Maris Sender ist schwach. Und auch in dieser Nacht meidet das Tier alles, was nach Falle riecht.
Schafzüchter Arthur Kauer bestellt noch eine Stange. «Wissen Sie», sagt er, «eigentlich ist der Luchs bei uns Schäfelern doch gar kein Thema mehr.» Er nippt am Bier. «Solange er meine Schafe in Ruhe lässt, soll er von mir aus leben.» Aber was jetzt geschehe, sei fatal. Eine riesige Belastung. Eine Bedrohung. Vermutlich der Untergang der Schafzucht. «Denn jetzt, jetzt kommt der Wolf.»
Urs Breitenmoser und Christine Breitenmoser-Würsten: «Der Luchs. Ein Grossraubtier in der Kulturlandschaft»; Salm-Verlag, 2008, 588 Seiten (2 Bände), CHF 136