Spuren im Stein
Wo Dinosaurier durchs Land zogen: Vor etwa 65 Millionen Jahren ausgestorben, sind die «schrecklichen Echsen» noch immer präsent. Überdauert haben versteinerte Knochen. Und Fussspuren, die sie im nassen Grund hinterlassen haben – wie jene von Lommiswil.
Veröffentlicht am 6. November 2009 - 14:38 Uhr
Solothurn liegt am Meer, behauptet der Schriftsteller Franco Supino. In gross aufgemalten Lettern stand die These eine Zeitlang auf der Uferpromenade. «Solothurn lag am Meer», hält Silvan Thüring entgegen. «Aber das ist rund 145 Millionen Jahre her.» Der 31-jährige Paläontologe betreut die Fossilien im Solothurner Naturmuseum und weiss alles über die fernste Vergangenheit der Gegend.
Einst dehnte sich hier eine weite, flache Lagunenlandschaft aus, im Süden lag ein Ur-Ozean, die Tethys. «Damals war es hier warm – tropisch», sagt Thüring und schildert das Mesozoikum (250 Millionen bis etwa 65 Millionen Jahre vor unserer Zeit) wie andere ihren letzten Sommerurlaub auf den Bahamas.
An diesem Nachmittag allerdings gibt sich Solothurn eher herbstlich kühl, trotz blauem Himmel und Sonnenschein. Die Aare fliesst breit und gemächlich, über der Stadt thront die St.-Ursen-Kathedrale. «Und durch die seichten Gezeitentümpel stapften Dinosaurier», sagt Thüring. Es mag an den schmalen Gassen liegen, jedenfalls fällt es schwer, sich Solothurn am Strand vorzustellen – von Dinosauriern ganz zu schweigen.
Aber Thüring hat Beweise. Das marine Leben von damals hat sich im Jurastein verewigt. In den Sedimentschichten finden sich unzählige Versteinerungen: Seelilien und Turmschnecken, Meereskrokodile und Schildkröten.
«Letztere sind so zahlreich, dass diese Schichten weltweit als ‹Solothurner Schildkrötenkalk› bekannt sind», sagt Thüring. «Unsere Regale sind voll von diesen Fossilien.» Der Wissenschaftler mustert einen fragmentierten Panzer. Die meisten Exemplare wurden in den nahen Steinbrüchen zutage gefördert, wo früher der begehrte Solothurner Stein abgebaut wurde. Dem Geschäft mit dem Jurakalk verdankt Thüring auch den Nachweis, dass im Umland von Solothurn einst Dinosaurier ihrer Wege gingen.
Von der Bahnstation Lommiswil führt ein Kiesweg in den Wald hinauf. Thüring hebt alle paar Meter einen Stein am Wegrand auf und prüft ihn kritisch. Paläontologen gehen stets über ihre Forschungsgrundlagen. «‹Jura› bezeichnet nicht nur das Wo, sondern auch das Wann – und eine Kaffeemaschine», sagt Thüring und blickt den bewaldeten Hang hoch. Der Name des Erdzeitalters geht auf den deutschen Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) zurück, der das Kalkgestein des Juras erforschte. Die hiesigen Hügelzüge standen dem weltweit übernommenen Begriff Pate. Das macht Lommiswil zum wahren «Jurassic Park» – auch wenn hier kein furchterregender T-Rex-Schädel gefunden wurde, sondern nur die Fussabdrücke von riesigen Pflanzenfressern in einer Wand des Lommiswiler Steinbruchs.
«Es ist eigentlich wie ein Sechser im Lotto, wenn das passiert», sagt Thüring. «Damit Spuren so erhalten bleiben, müssen viele Faktoren stimmen.» Es brauche eine weiche Unterlage, die später aushärtet. In Lommiswil stapften Dinosaurier durch Ablagerungen von feinstem Kalk, der aus dem übersättigten Lagunenwasser auf den Grund rieselte. Im Schlamm wuchsen Algen, anschliessend trocknete der Grund aus. «Stellenweise sind in der Wand wabenförmige Muster zu erkennen – das sind versteinerte Trockenrisse.» Nach dem Erhärten wurde die Schicht von neuen Sedimenten zugedeckt. «Dann braucht es Zeit, viel Zeit – und schliesslich das Glück, dass die Spuren irgendwann entdeckt werden», sagt Thüring und bückt sich nach einem weiteren Kiesel.
Entdeckt hat die Spuren Thürings Diplomvater, der Paläontologe Christian A. Meyer, damals selbst wissenschaftlicher Mitarbeiter im Naturmuseum Solothurn. Fussabdrücke gehören zu den Ichnofossilien. So nennen Paläontologen alle fossilen Spuren von Leben, deren Verursacher nicht mit versteinert wurden. Zu diesen zählen auch Wühlgänge von Sedimentbewohnern und die kleinen Klumpen, die Thüring «Koprolithe» nennt – versteinerte Exkremente. «So ein Häufchen kann man auch einmal einem ungeliebten Kollegen widmen», sagt Thüring. Denn auch Paläontologen benennen Funde nie nach sich selber, sondern nach einem Forscher, dem man Ehre angedeihen lassen will.
Nicht steil, aber stetig führt der Weg zum Steinbruch hinauf. Nach 20 Minuten Fussmarsch öffnet sich eine Lichtung. Aus dem alten Steinbruch steigt eine Kalkwand auf. Über die rund 100 Meter hohe Platte führen mehrere Reihen von Vertiefungen. «Elefantenspuren» nannten sie die Steinbrucharbeiter in leiser Ahnung. «Es waren Sauropoden», sagt Thüring, «möglicherweise Brachiosaurier, jedenfalls grosse Vegetarier.» Gegen 20 Meter Länge, schätzt Thüring, sechs Meter Hals und ungefähr gleich viel Schwanz, als Gegengewicht, damit sie nicht vornüberkippen – deshalb hatten die Riesen auch nur einen sehr kleinen Kopf.
Die Fährten verraten aber noch mehr. «Es ist ein wenig wie in der Kriminalistik», sagt Thüring. «Als Faustregel gilt: Fünf mal die Fusslänge ergibt die ungefähre Schulterhöhe des Tieres.» Die hier müssen um die fünf Meter gross gewesen sein. Die Schrittbreite zeigt, wie massig das Wesen war, aus der Schrittlänge «liest» Thüring die Marschgeschwindigkeit. «Ab einer gewissen Geschwindigkeit übertreten die Hinterfüsse die Vorderfüsse. Diese Herde war eher langsam unterwegs, so mit acht bis zehn Kilometern pro Stunde.» Die Form der Trittsiegel könne auch Hinweise auf die Art geben. Thüring macht den Eindruck, als könne er selbst einen Linkshänder an seinem versteinerten Fussabdruck erkennen.
Doch nur das geschulte Paläontologenauge erkennt in den Trittsiegeln Hinter- und Vorderfüsse. Aus der Nähe betrachtet, verkommen die Abdrücke zu gewöhnlichen Löchern, eindrücklich sind sie trotzdem – der schieren Dimensionen wegen. Die grössten haben einen Durchmesser von 120 Zentimetern. Winzig klein dagegen die Eidechse, die über die Felswand huscht und blitzschnell in einem Fussabdruck verschwindet. Ein kleiner Saurier?
«Nicht eigentlich», sagt Thüring. «Vögel sind die näheren Verwandten.» Es gebe Millionen Jahre alte Fussabdrücke von Raubsauriern, die aussehen wie riesige Vogelspuren. So sind sich die Forscher einig, dass nur die Vorfahren der Vögel das Massenaussterben der Saurier vor 65 Millionen Jahren überlebten. Und dass Vögel mit den Krokodilen näher verwandt sind als mit jeder anderen Tiergruppe: Sie haben einen gemeinsamen Vorfahren. Die Vorfahren der Eidechsen dagegen haben sich bereits Millionen Jahre früher abgespaltet. «Der Archaeopteryx, eine Art Urvogel, erschien im Jura», sagt Thüring und meint damit die Epoche, nicht die Gegend.
Paläontologen haben viel Wissen «ausgegraben». Ihr Fach ist die Lehre vom ausgestorbenen Leben – was ein bisschen widersinnig klingt. Doch Stück für Stück versuchen die Forscher, die vergangene Flora und Fauna nachzuzeichnen. Was Thüring persönlich dazu brachte, «totes» Leben zu erforschen, kann er nicht genau sagen: «Mein Bruder und ich, wir haben schon als Kinder immer Steine gesammelt.» Auch den «Nutzen» seiner Wissenschaft für die Gesellschaft kann er nicht plakativ definieren. «Unsere heutigen wissenschaftlichen Kenntnisse helfen uns, langfristige Entwicklungen zu verstehen. Wir können zeigen, dass unser CO2-Ausstoss klimatische Verhältnisse verursachen könnte, wie sie vor 45 Millionen Jahren herrschten.» Und ein Paläontologe weiss, was es bedeutet, wenn die Natur aus den Fugen gerät: «Arten verschwinden – wie damals die Dinosaurier.»
Dank den versteinerten Überresten hat die Paläontologie heute eine erstaunlich genaue Vorstellung von den einstigen Welten, von den riesigen Echsen über Ursäuger und Farne bis hin zu fossilen Bakterien. Doch ausgestorben bleibt ausgestorben. «Es ist undenkbar, jemals brauchbare DNA zu finden, mit der Dinosaurier wieder zum Leben erweckt werden könnten», sagt Thüring. Das wäre auch nicht sinnvoll – «ausser für die Filmindustrie».
So schön die Bilder sind, die uns die Welt vor Millionen Jahren im Film präsentiert, in der Wissenschaft bleibt vieles offen. «Es gibt Dinge, die könnten so oder so gewesen sein, wieder andere werden wir nie erfahren», sagt Thüring. Niemand weiss beispielsweise, wie intelligent die Tiere waren – weil Weichteile wie ein Gehirn nie erhalten bleiben. Über die geistigen Fähigkeiten der Saurier streitet man deshalb gerne in Thürings Zunft: «Hohlräume sind immer Anlass für Spekulationen.» Einzelne Wissenschaftler vermuten sogar, dass die Saurier ein zweites Nervenzentrum im Becken hatten. «Vielleicht dachten sie teilweise mit dem Hinterteil, ganz dumm können sie aber nicht gewesen sein», sagt Thüring. «Immerhin dominierten sie über 150 Millionen Jahre lang die Erde. Wir Menschen hingegen…»
Der Wissenschaftler zuckt mit den Schultern. Geologische Zeiteinteilungen haben eine Unschärfe von plus/minus fünf Millionen Jahren. In diese Zeitspanne passt die Menschheitsgeschichte locker ein paar Mal hinein. Die Geschichte der Menschheit ist auf dem grossen Zeitstrahl ein winziger Augenblick, vernachlässigbar und vergänglich. Thürings Erzählung wird zu einer Lektion in Demut.
Plötzlich schiesst ein Steinbrocken die Wand hinunter. Kleine könnten wehtun, grössere töten. «Für Besucher ist der Zugang gesperrt – wegen der Steinschlaggefahr», erklärt Thüring. Darum hat der Kanton gemeinsam mit dem Naturmuseum 1994 eine Besucherplattform gebaut. Von dort aus sieht man die Spuren sowieso viel besser – und am deutlichsten in der flachen Abendsonne. Aus der Ferne erkennt selbst der Laie, dass die Vertiefungen mehr in regelmässiger denn zufälliger Anordnung verlaufen. Die Spuren ziehen sich über die steile Kalkwand wie winters Tierfährten durch den Schnee.
«Als diese Spuren entstanden, war hier natürlich alles flach», sagt Thüring und steigt ein paar Meter in der Spur hoch. Das zu glauben ist nicht selbstverständlich. Vom Steinbruch sieht man über das ganze Mittelland bis zu den Alpen.
Die heutigen Gebirgszüge entstanden durch die Verschiebung der Kontinentalplatten. Gewaltige Schubkräfte trieben Afrika nach Norden gegen Europa. Die Gesteinsschichten wurden emporgehoben, übereinandergeschoben und verfaltet. Da, wo sich einst die Tethys am Horizont verlor, türmen sich heute die Alpen. «In der letzten Phase der Alpenfaltung wurden die Jurazüge aufgeworfen, vor ungefähr zehn bis zwei Millionen Jahren», sagt Thüring und fügt bei, dass an menschlichen Massstäben gemessen die enormen Zeiträume manchmal «schon sehr abstrakt» seien.
Auf der Dino-Plattform wird erlebbar, dass die Welt einiges älter sein muss, als religiöse Bücher und Mythen erzählen. Der Reformator Huldrych Zwingli etwa hielt Versteinerungen für Beweise der biblischen Sintflut. Thüring schüttelt den Kopf: «Man sollte Wissenschaft und Religion nicht vermischen.» Aber selbst gläubige Menschen können sich der Faszination nicht ganz entziehen. So bedankte sich Thürings Diplomvater in einem kurzen Aufsatz über die Entdeckung ausdrücklich bei drei Steinbrucharbeitern, die ihn «trotz religiöser Zweifel, was das Alter der Dinosaurier angeht», unterstützt hatten.
Indem sie die Menschheitsgeschichte den Äonen gegenüberstellt, gewinnt die Paläontologie auch eine philosophische Note. Zusammen mit Thürings geologischen Erläuterungen betrachtet, führt einem ein banaler Steinbrocken die eigene Vergänglichkeit vor Augen. Die Spuren in der Wand im Lommiswiler Steinbruch aber haben all die Zeiten und Gewalten überdauert – ein ewiges Denkmal. «Nicht ganz», wendet Thüring ein, «denn jetzt, da sie abgedeckt sind, werden die Spuren innert ein paar Jahrhunderten verwittern.» Geologisch gesehen, ein Augenaufschlag.
Anreise: Per Zug nach Solothurn, mit der Bahn weiter nach Lommiswil (Halt auf Verlangen). Der Weg zur Plattform ist signalisiert. Nach 20 Minuten erreicht man den alten Steinbruch. Die Dinosaurierspuren sind von der Platt-form aus am besten erkennbar.
Vorsicht: Das Betreten des Steinbruchs ist gefährlich und darum verboten. Im Naturmuseum Solothurn sind Abgüsse der imposantesten Trittsiegel ausgestellt.
Rückweg: Der Weg führt vom Steinbruch aus weiter nach Oberdorf (20 Minuten). Von dort fahren stündlich Züge nach Solothurn.
Verpflegung: Im Restaurant Kreuz – nur 100 Meter vom Naturmuseum Solothurn entfernt – können sich Familien günstig und gut verpflegen.
Weitere Infos und Buchtipps
Naturmuseum Solothurn: Informationen über die Fährte von Lommiswil unter www.naturmuseum-so.ch
Christan A. Meyer: «145 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Das Leben
in einer tropischen Meereslagune»; Vogt-Schild-Verlag, Solothurn 1994,
72 Seiten, CHF 20.–
Société Jurassienne d’Emulation: «Jurazeit… Jura. Metamorphosen einer Landschaft» (d/f/e); inkl. DVD, Porrentruy 2008, 112 Seiten, CHF 33.–
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