«Der Bär ist ein gemütliches Tier»
Pro Natura hofft, dass sich der Braunbär bald wieder dauerhaft in der Schweiz ansiedelt. Platz sei auch in der kleinen Schweiz genügend vorhanden, sagt Artenspezialist Urs Tester – und Angst brauche die Bevölkerung nicht zu haben.
Veröffentlicht am 14. Januar 2009 - 10:02 Uhr
Pro Natura hat den Braunbären zum Tier des Jahres 2009 erkoren. Sie wolle damit die Menschen «für ein konfliktarmes Zusammenleben von Mensch und Bär» sensibilisieren, schreibt die Naturschutzorganisation. Nachdem der Bär in der Schweiz über hundert Jahre lang ausgestorben war, begannen ab 2005 wieder einzelne Tiere von Italien her einzuwandern. Viel Glück war Meister Petz dabei bisher nicht beschieden: So wurde der Bär «JJ3» im April 2008 sogar zum Abschuss freigegeben. Siehe nachfolgender Abschnitt:
Pro Natura und der WWF kämpfen daher für mehr Akzeptanz für die einheimische Tierart. Doch wie realistisch ist es, dass dereinst wieder Bären durch unsere Wälder trotten? Und wie gefährlich sind sie wirklich?
BeobachterNatur: Wie geht es dem Bären in den Alpen momentan?
Urs Tester: Viele Tiere sind es nicht mehr. Am meisten leben in Slowenien, dort wird der Bestand gesamthaft auf etwa 300 Tiere geschätzt. Im Trentino, in Norditalien nahe der Schweiz, zählt man etwa 30 Bären. In Österreich ist der Bestand auf zwei Tiere zusammengebrochen.
BeobachterNatur: Was ist in Österreich passiert?
Tester: Wahrscheinlich waren Wilderer am Werk.
BeobachterNatur: Wo kommen in Europa sonst noch Bären vor?
Tester: Derzeit leben auf unserem Kontinenten etwa 50'000 Bären, hauptsächlich in Ost- und Nordeuropa; die allermeisten in Russland. Kleinstpopulationen bestehen noch in den Abruzzen und Pyrenäen.
BeobachterNatur: Warum kommt der Mensch in einigen Ländern mit dem Bären zurecht und in anderen nicht?
Tester: Ein Zusammenleben mit dem Bären ist problemlos möglich, wie etwa das Beispiel Slowenien zeigt. Das Land ist halb so gross wie die Schweiz, beherbergt aber 300 Bären. Die Slowenen kennen das Tier und wissen, wie mit ihm umzugehen ist. Wir hingegen sind mit dem Bären nicht mehr vertraut, und es liegt in der Natur des Menschen, dass Neues Angst macht.
BeobachterNatur: Was auch kein Wunder ist, wenn es sich um ein riesiges und kräftiges Tier handelt, das durch die Wälder streift.
Tester: Genau. Dabei ist der Bär eigentlich ein gemütliches Tier. In vielen Regionen Europas kann man problemlos und ohne Vorsichtsmassnahmen wandern und zelten gehen, obwohl dort Bären leben. Bei den allermeisten Unfällen wurde das Tier vom Menschen provoziert. So geschah in Rumänien ein Unfall, weil eine Frau einem Bären mit einem Besen auf den Kopf schlug, als er Obst fressen wollte.
BeobachterNatur: Und doch entschieden die Schweizer Behörden im April 2008, JJ3 sei ein Problembär und müsse abgeschossen werden.
Tester: JJ3 hat kein einziges Mal einen Menschen angegriffen. Das Problem war, dass er nachts in den Dörfern umherstreifte, was den Leuten Angst machte. Doch wenn er in den Dörfern keine Nahrung gefunden hätte, wäre er in den Wäldern geblieben. Die Behörden hätten den ganzen Winter über Zeit gehabt, zu planen, wie sie den Bären von den Siedlungen fernhalten.
BeobachterNatur: Warum wollen die Naturschützer eigentlich, dass der Bär wieder in die Schweiz kommt? Sind die Bestände in Nord- und Osteuropa nicht genügend gross?
Tester: Natürlich würde die Art als Ganzes nicht aussterben, wenn es in den Alpen keine Bären mehr gäbe. Doch darum geht es gar nicht. Wir wollen die natürliche Vielfalt in unserem Land erhalten, und der Bär gehört nun mal dazu. Er ist eine einheimische, gefährdete Art und hat als solche bei uns ein Lebensrecht. Zudem trägt die Schweiz eine besondere Verantwortung für die Art, denn unser Land befindet sich genau im alpinen Ausbreitungskorridor von Ost nach West.
BeobachterNatur: Könnte man nicht ein paar russische Bären bei uns aussetzen, um die Ansiedlung zu beschleunigen?
Tester: Bären auszusetzen, halte ich für keine gute Idee. Es geht darum, die noch bestehenden Populationen zu erhalten und auszuweiten, damit die Art in den Alpen längerfristig eine Chance hat.
BeobachterNatur: Wie viele Bären hätten denn in der Schweiz Platz?
Tester: In den Alpen und im Jura sind durchaus noch Lebensräume für mehrere Tiere vorhanden. Das Argument, die Schweiz sei zu dicht besiedelt für den Bären, ist daher Quatsch.
BeobachterNatur: Müssten dann nicht die Viehherden mit grossem Aufwand geschützt werden?
Tester: Mit Elektrozäunen und Herdenschutzhunden ist das problemlos möglich. Zudem werden allfällige Schäden vom Staat abgegolten.
BeobachterNatur: Wann kommt der nächste Bär?
Tester: Vermutlich ziemlich bald. Alle Tiere, die zu uns kommen, wandern vom Trentino her ein. Dort geht es dem Bären momentan gut: Letztes Jahr kamen sieben Junge zur Welt.
BeobachterNatur: Profiliert sich Pro Natura mit der Aktion «Tier des Jahres» nicht auf Kosten des WWF, der sich mehr für den Bären engagiert?
Tester: Pro Natura engagiert sich mindestens so stark für den Bären wie der WWF. Wir führten in den letzten zehn Jahren eine grosse Kampagne für die Grosssäuger durch, engagierten uns stark in der Aufklärungsarbeit und lobbyierten bei den Entscheidungsträgern.
BeobachterNatur: Haben die anderen Naturschutzorganisationen denn beim Tier des Jahres nichts zu sagen?
Tester: Das «Tier des Jahres» ist eine Medienkampagne von Pro Natura. Wir entscheiden selber, welchen Tieren diese Ehre zuteil wird.
Der Bär kehrt zurück
Die Schweiz tut sich schwer mit Meister Petz: Nachdem 1904 der letzte Bär zwei Jägern zum Opfer fiel, war unser Land über hundert Jahre lang bärenfrei. 2005 war es dann wieder soweit: Ein Bär wanderte von Italien her in unser Land ein, wurde als «Lumpaz» zum Medienstar – und verschwand kurz darauf auf Nimmerwiedersehen. Es folgte Braunbär «MJ4», der ab 2007 einige Monate durch das Engadin und Münstertal streifte – und irgendwann ebenfalls wieder verschwand. Am allerwenigsten Glück aber hatte «JJ3»: Er wurde am 14. April 2008 von den Behörden zum Abschuss freigegeben und kurz darauf abgeschossen. Sein Vergehen war, dass er nachts in den Siedlungen nach Fressbarem suchte. Obwohl er sich kein einziges Mal gegenüber einem Menschen aggressiv verhalten hatte, stuften ihn die Behörden nach einigen Wochen mit Vergrämungsaktionen als «Problembären» ein.