Die Szene wirkt grotesk: Tausende von gefrässigen Termiten fallen innert Minuten über eine kleine Pflanze her – doch am Ende sind sie alle tot, aufgefressen und verdaut. Einverleibt von Nepenthes albomarginata, einer unauffälligen Kannenpflanze im Urwald Borneos.

Der Krimi nimmt seinen Lauf, wenn eine Spähertermite eine Nepenthes entdeckt. Der grüne, rund zehn Zentimeter hohe Becher zieht die hungrigen Termiten magisch an. Die Sechsbeiner haben es auf den weissen Belag am oberen Rand der Kanne abgesehen, den sie zum Fressen gern haben. Sofort legen sie eine Duftspur zu ihrem Fund, damit auch die anderen Termiten den Weg finden. Bald ist die ganze Termitenstrasse umgeleitet – Hunderte bis Tausende der Tierchen ziehen nun in Richtung Pflanze los.

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Zuerst postieren sich wehrhafte Wächter auf dem Kannenrand, um den Fund nach allen Seiten zu sichern. Doch dann breitet sich das Chaos aus. Alle wollen an der Fressorgie teilhaben. Sie drängen nach oben, schieben, überholen. Und dann beginnt eine Termite nach der anderen über den Rand in den Kelch zu fallen. Denn der Rand ist extrem rutschig, die Innenwand der Kanne spiegelglatt. Rasch füllt sich der Kelch mit Hunderten oder gar Tausenden von Tieren. Noch lange zappeln und kratzen die Todgeweihten geräuschvoll. Dann wird es still. Der saure Saft im Kelch tut seine Wirkung – das scheinbar wehrlose Pflänzchen beginnt jetzt zu verdauen.

«Gegen die Ordnung der Natur»

Die sogenannten karnivoren Pflanzen wurden lange als grausam angesehen – und auch von vielen Gelehrten als «Blumen des Bösen» verteufelt. Entdeckt wurden die räuberischen Gewächse um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Forscher namens John Ellis beschrieb damals zum ersten Mal den sekundenschnellen Fangmechanismus der Venusfliegenfalle. Doch obwohl es offenkundig war, dass die Spezies Insekten fängt, sollte es noch über 100 Jahre dauern, bis die Forschergemeinde diese Fakten akzeptierte. Das sei «gegen die gottgewollte Ordnung der Natur», verkündete Carl von Linné, immerhin Begründer der modernen Botanik, lapidar.

Wieder einmal war es der Freidenker Charles Darwin, der Licht ins Dunkel brachte. 1860 begann er sich in den Mooren von Sussex mit dem Sonnentau zu beschäftigen. Er studierte dessen «Verhalten» und fütterte ihn mit Insekten, Salz und englischem Käse. Jahre später bestätigte er dann als erster angesehener Wissenschaftler, dass einige Pflanzen Tiere fangen und verdauen können. Allerdings wurden selbst Darwins Erkenntnisse von manchen noch lange als «wissenschaftlicher Plunder» oder «tendenziöse Fiktion» angesehen.

In der Not fressen Pflanzen Fliegen

Fiktion war wohl die Geschichte vom «Menschenfresser-Baum», die vor 100 Jahren durch die Presse geisterte. Daneben wurden aber immer mehr Pflanzen gefunden, die ihren Speiseplan tatsächlich mit tierischen Proteinen aufpeppen. Heute sind über 600 solcher Arten bekannt. Die grössten Kannenpflanzen können gar Frösche, Eidechsen oder Ratten verdauen. Bis zu drei Liter Verdauungssäfte sind in ihren Bechern enthalten. Auch Einzeller oder Fischeier gehören zum Beutespektrum einiger Arten. Die meisten fleischfressenden Pflanzen sind jedoch klein und haben es auf Insekten abgesehen. Bis jetzt hat man fünf Fangmechanismen beschrieben. Sie reichen vom Leimruten-Trick über die Fallgrube bis hin zur Unterwasserreuse.

Aus Boshaftigkeit haben die Zwergkrüge, Becherpflanzen oder Hakenblattgewächse ihre Fangmethoden natürlich nicht entwickelt – obschon der termitenverdauenden Nepenthes albomarginata ein Hang zur Völlerei nicht abzusprechen ist. Eigentlich entstand die Karnivorie aus reiner Not: Fast alle fleischfressenden Pflanzen gedeihen an sehr nährstoffarmen Orten – an kahlen, felsdurchsetzten Stellen, in Hochmooren oder Sumpfwäldern. Auch die bei uns heimischen Arten – der Sonnentau, die Fettkräuter oder der Wasserschlauch – findet man ausschliesslich in Mooren. Den dortigen Nährstoffmangel kompensieren diese Pflanzen mit tierischen Proteinen. In der Not frisst der Teufel eben Fliegen.

Es sei denn, ein anderer schnappt ihm die Beute vor der Nase weg. Und das kommt gar nicht so selten vor. Schon im 18. Jahrhundert bemerkte ein Forscher, dass in den Kannenpflanzen auch Tiere leben, die sich vom pflanzlichen Verdauungssaft die Laune nicht verderben lassen. In den Kannen der Nepenthes-Arten etwa ist häufig eine Krabbenspinne anzutreffen. Farblich perfekt an die Pflanze angepasst, wartet sie am Rand der Kanne auf Beute. Normalerweise schnappt sie das Insekt, bevor es in die Flüssigkeit der Pflanze fällt. Sie kann es aber auch aus dem Gebräu herausfischen und erst dann verspeisen. Bei Gefahr lässt sich der Achtbeiner sogar am Faden herab, um sich während vieler Minuten unbeschadet im Gallensaft zu verstecken.

Selbst Tomate und Kartoffel tun es

Gewisse Insektenlarven oder Ameisen spazieren auf karnivoren Pflanzen herum, ohne in die Falle zu tappen: Im Lauf der Evolution haben sie gelernt, die botanischen Häscher als beutereichen Lebensraum zu nutzen. Sogar Kaulquappen wurden schon in Kannenpflanzen gefunden – allerdings nur in alten Bechern mit wenig Verdauungstätigkeit. Sie ernähren sich von dem, was in die Kanne fällt, und entwickeln sich dann zu kleinen Fröschen.

Auch Kulturpflanzen nähren sich an toten Tieren: Wie bei rund 300 anderen Pflanzen wachsen an Tomaten- und Kartoffelstengeln feine Haare, in denen sich Insekten verfangen. Sterben diese, bevor sie sich befreien können, fallen sie zu Boden, wo sie verrotten und von Pflanzen als Nährstoffe aufgenommen werden. Auch das sei eine Form der Karnivorie, postulieren in jüngster Zeit manche Wissenschaftler.

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Der Trick der Kannenpflanzen ist ziemlich offensichtlich – doch Insekten scheinen sich davon auch nach Millionen von Jahren der Evolution noch gut übertölpeln zu lassen. Die lianen- oder buschförmigen Pflanzen der Gattung Nepenthes formen Kannen in allen Farben. Die Becher – eigentlich umgestaltete Blattteile – sind meist mit einem Regendach (A) ausgestattet. Angelockt werden die Insekten durch Nektar, Farbmarken und verführerische Düfte. Wer allerdings den Nektar erreichen will, muss auf den Rand der Kanne (B) stehen und sich weit vornüberbeugen. Weil der Rand gerippt und sehr glatt ist, rutschen die meisten Besucher aus und fallen in den Becher. Innen ist die Kanne mit einer Wachsschicht (C) überzogen, auf der sich auch noch schuppenartige, kleine Kristalle bilden, die sich bei Berührung lösen und abrutschen. Dies verunmöglicht vielen Tierarten, sich irgendwo festzuhalten oder hochzuklettern. Ganz unten befindet sich die Verdauungszone (D). Die säurehaltige Flüssigkeit führt zur raschen Auflösung der Besucher. Der Saft soll übrigens wohlschmeckend – laut gewissen Quellen eher moderig – sein und gegen Husten und Blasenleiden wirken. Rund 100 Kannenpflanzen der Gattung Nepenthes wurden schon beschrieben (Bild oben: Nepenthes bicalcarata an ihrem natürlichen Standort auf Borneo aufgenommen). Weitere Gattungen wie etwa die Sumpfkrüge (Heliamphora) oder die Schlauchpflanzen (Sarracenia) haben ähnliche Kannen entwickelt.

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Für Charles Darwin war die kleine Venusfliegenfalle schlicht die «wunderbarste Pflanze der Welt». Die Blätter der nordamerikanischen Art bestehen aus einem normalen grünen Teil und einer beweglichen Klappfalle mit ineinandergreifenden Borsten. Angelockt wird die Beute mit Nektardrüsen und einer ultravioletten Leuchtfarbe, die für das menschliche Auge unsichtbar ist. Besucht ein Tier die Falle, klappen die beiden Hälften mit hoher Geschwindigkeit zu – das Insekt ist wie in einem Käfig gefangen. Die Pflanze registriert den Besucher mittels sechs Fühlborsten, die durch das Tier abgeknickt werden. Allerdings schnappt die Falle nur zu, wenn eine der Borsten innerhalb von 30 Sekunden zweimal abknickt oder wenn zwei Borsten gleichzeitig knicken: Fliegt ein Tier nach der Landung sofort wieder weg, schenkt sich die Pflanze den Aufwand.

Ein weiterer Trick gewährleistet, dass nur grössere Tiere gefangen werden: Bevor sich die Falle ganz verschliesst, bleibt sie noch für kurze Zeit wenig geöffnet, sodass kleine Tierchen fliehen können. Zur vollständigen Schliessung kommt es nur, wenn die Fühlborsten weiter geknickt werden oder wenn das Insekt in seiner Panik Urin oder Kot abgibt. Letzteres registriert die Venusfliegenfalle durch chemische Sensoren. Anschliessend füllt sich der Hohlraum mit Verdauungsenzymen; je nach Grösse der Beute dauert die Verdauung zwischen fünf und 35 Tagen. Sobald nichts mehr ausser dem Chitinpanzer übrig ist, nimmt die Venusfliegenfalle den Verdauungssaft wieder
in sich auf und öffnet sich erneut.

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Der Fangmechanismus des Sonnentaus ist einmalig im Pflanzenreich. Das hübsche kleine Gewächs lockt seine Beute mit glitzernden Tautröpfchen (A) an, die auf zahlreichen Tentakeln (B) sitzen. Besonders an heissen Tagen ziehen die vermeintlichen Durstlöscher zahlreiche Insekten an. Wer sich jedoch an den Tröpfchen laben will, hat Pech: Statt Tau erwartet den Besucher ein schleimiger Leim.

Bald ist die zappelnde Beute mehrfach festgeklebt. Dann beugen sich die Tentakel langsam zur Mitte und beginnen das Insekt zu umgreifen (C). Gleichzeitig setzt der Sonnentau  dazu an, Verdauungsenzyme auszuscheiden. Die Verdauung ist für botanische Verhältnisse von relativ kurzer Dauer: Ein Fleischwürfel von 1,25 Zentimetern Kantenlänge hat sich gemäss Charles Darwins Beobachtungen bereits nach 50 Stunden vollständig aufgelöst. Der Klebetrick des Sonnentaus ist eine Erfolgsgeschichte der Evolution: Rund 300 Arten existieren weltweit; in den hiesigen Hochmooren findet man deren vier, eines davon ist der Schmalblättriger Sonnentau (Bild).

Das einheimische Fettkraut fängt seine Opfer ebenfalls mit Klebstoff.

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Die Saugfallen des Wasserschlauchs erschliessen sich dem Betrachter erst unter einer guten Lupe: Die Bläschen, mit denen die Wasserpflanze kleine Krebse fängt, sind nur zwei bis vier Millimeter lang. Sie sitzen zu Tausenden an den wurzelartigen, ins Wasser ragenden Fäden (A) der karnivoren Pflanze. Im Normalzustand sind die Bläschen mit Luft gefüllt und stehen unter Unterdruck. Der Fangmechanismus wird ausgelöst, sobald ein Krebschen eines der Fühlhaare (B) berührt. Sofort öffnet sich die Klappe (C), worauf das Tier innert einer Fünfhundertstelsekunde zusammen mit Wasser in die Falle (D) hineingesogen wird. Dann schliesst sich das Tor – das Opfer ist gefangen. Jetzt saugt die Pflanze wieder das gesamte Wasser aus der Falle heraus, worauf Drüsen (E) saure Verdauungssäfte zu bilden beginnen.

In der Schweiz sind sechs Wasserschlauch-Arten heimisch: Etwa die Art Verkannter Wasserschlauch (Utricularia australis; 2. Bild in der Galerie oben), die in der Schweiz vor allem im Mittelland und im Wallis vorkommt, und je nach Gebiet als gefährdet oder vom Aussterben bedroht gilt.

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Buchtipps

Thomas Carow: «Karnivoren. Die Welt der fleischfressenden Pflanzen»; Kosmos-Verlag, 2009, 192 Seiten, 71 CHF

Wilhelm Barthlott u.a.: «Karnivoren. Biologie und Kultur Fleischfressender Pflanzen»; Ulmer-Verlag, 2004, 224 Seiten, 80 CHF

Volker Arzt: «Kluge Pflanzen»; Bertelsmann-Verlag, 2009, 288 Seiten, 44.90 CHF