Kein Geräusch ist zu vernehmen, keine Spur zu sehen. Über den Bergwiesen liegt eine meterdicke glitzernde Schicht aus Neuschnee. Tage- und nächtelang hat es ununterbrochen geschneit, mal ruhig mit dicken Flocken, dann wieder hat Sturm den Schnee über die Landschaft gepeitscht. Jetzt aber scheint die Sonne, und alles ist in Watte gepackt. Der Neuschnee liegt so tief und locker, dass wir trotz unseren Schneeschuhen nur mühsam vorwärtskommen. Wir sind auf der Suche nach Lebenszeichen in dieser weissen Pracht auf 2300 Metern über Meer. Wie ein Tier hier oben den Gefahren und der Kälte trotzen und auch noch genügend Nahrung finden kann, ist uns ein Rätsel.

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Am Fuss eines kleinen Felsblocks stossen wir auf eine erste heisse Spur: Wir finden eine tiefe Delle im Schnee, daneben ein feines Muster aus parallelen Linien. Kleine hellbraune Stäbchen liegen in der Wanne – die typische Losung des Schneehuhns. Der Vogel muss hier viele Stunden geschlummert haben, nahezu unsichtbar dank seinem reinweissen Gefieder.

«Schneehühner vertrauen ihrer Tarnung sehr», sagt mein Begleiter Ueli Rehsteiner. Der Biologe, der beim Schweizer Vogelschutz als Artenschutzspezialist arbeitet, ist von der alpinen Vogelart seit langem fasziniert. «Man kann sich einem ruhenden Huhn oft bis auf wenige Meter nähern, bevor es abzieht.» Wir haben den Hahn oder die Henne wohl gerade verpasst.

Muskelmagen wirkt wie ein Mörser

Das Schneehuhn ist einer der ganz wenigen Vögel, die in den Hochalpen jedem noch so garstigen Wetter trotzen. Das nur 400 bis 500 Gramm leichte Huhn ist bestens an Sturm und Kälte angepasst. Sein Gefieder gibt im Winter so warm, dass es an besonders milden Tagen in den Schatten flüchten muss. Plustert sich der kleine Vogel auf, entstehen zwischen den Federn Lufttaschen, die hervorragend isolieren. Sogar die Beine und die Zehen sind befiedert. Dadurch sinkt der Vogel beim Gehen auch weniger stark in den Schnee ein.

Das Schneehuhn lebt im Winter spartanisch. Es scharrt verdorrtes Gras, Heidelbeerzweige oder Nadeln des Wacholders unter dem Schnee hervor. Dass es damit über die Runden kommt, ist seinem speziellen Muskelmagen zu verdanken. Der ist mit kleinen Steinchen gefüllt, die die schwer verdauliche Nahrung wie in einem Mörser aufschliessen. Hinzu kommt, dass sich der Darm im Winter stark verlängert – ein Phänomen, das auch bei vielen anderen alpinen Tieren beobachtet werden kann.

«Kommt der grosse Schnee, lässt sich das Schneehuhn einfach einschneien», sagt Ueli Rehsteiner. Das sei die beste Strategie gegen die Kälte, denn: «In einer solchen Schneehöhle ist es viel wärmer als draussen im eiskalten Wind.»

Punkt, Punkt, Doppelstrich – eine filigrane Hasenfährte kreuzt unsere Schneeschuh-route. «Hier versucht uns ein Schneehase zu verwirren», sagt mein Begleiter.

Verwirren? «Was wie der Spurenwirrwarr vieler Hasen aussieht, stammt in Tat und Wahrheit nur von einem einzigen.» Der Schneehase läuft nämlich gerne auf seiner eigenen Spur zurück oder hoppelt in wildem Zickzack durch den Schnee, um seine Feinde zu täuschen. Die Biologen sind sich einig: Der weiss getarnte Schneehase, der keinen Winterschlaf macht, zählt zu den Extremfällen im Tierreich. «Ein Leben in dieser Kälte braucht sehr viel Energie, und Nahrung ist fast keine vorhanden», sagt Jürg Paul Müller, Direktor des Bündner Naturmuseums und Spezialist für kleine Säugetiere. «Trotzdem schafft es der Schneehase, die kargen Monate zu überleben.

Die Tricks des Angsthasen

Viel ist über Lepus timidus (auf Deutsch «Angsthase») nicht bekannt. Sicher ist, dass der Schneehase vorwiegend nachtaktiv lebt. Der Grund: Ginge er tagsüber auf Nahrungssuche, würde er bald von Fuchs oder Steinadler gefressen, und jede Flucht würde viel kostbare Energie kosten.

So hoppelt Meister Lampe also bei Mondlicht durch den Schnee und futtert inkognito Gras, Äste von Sträuchern und Rinde. Um die wenig energiereiche Nahrung optimal verwerten zu können, hat er einen sehr grossen Blinddarm entwickelt. Der Kot wird dann noch einmal gefressen, um wirklich alle Nährstoffe und Vitamine aus den verdorrten Gräslein herauszukriegen.

Immerhin sinkt das Tier nur wenig im Schnee ein, da seine überdimensionierten Hinterbeine – ganz nach dem Schneeschuhprinzip – eine sehr grosse Auflagefläche bieten. Eine weitere Besonderheit: Die weissen Haare sind zwecks Isolation mit Luft gefüllt. Im Frühling verliert der Schneehase dann sein Winterkleid und gleicht sich seinem braunen Vetter, dem Feldhasen, an.

Der Wind frischt auf, die Sonne wird sich bald hinter den Bergen verabschieden. Wie vielen schlafenden Murmeltieren sind wir wohl schon über den Kopf gewandert? Wir stellen sie uns vor, wie sie in ihren engen und vollkommen dunklen Schlafkammern liegen, dicht beisammen im Familienverband, auf einem weichen Polster aus Gras. Manche Tiere verbringen die kalte Jahreszeit in aller Gemütlichkeit.

«Im Herbst baut sich der ganze Körper der Murmeltiere um», sagt Walter Arnold, Professor am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie in Wien. «Leber und Nieren schrumpfen im Winter um etwa einen Drittel, der Magen-Darm-Trakt sogar um die Hälfte. Die Tiere wachen während des Winterschlafs zwar alle zwei bis drei Wochen kurz auf, doch sie fressen dann nichts – ihr Körper ist jetzt nicht aufs Fressen eingestellt.»

Alles ist verlangsamt. Das Herz schlägt nur noch drei- bis viermal pro Minute, Atemzüge sind es noch zwei bis drei. Die Temperatur im Schlafkessel sinkt im Verlaufe des Winters von anfänglich etwa zehn Grad Celsius bis fast auf den Gefrierpunkt, die Körpertemperatur der Murmeltiere ist nur wenig höher. Vorräte legen die possierlichen Tiere keine an – kein Wunder, verlieren die Murmeltiere im Winter etwa einen Drittel ihres Gewichts.

Rothirsche im Stand-by-Modus

«Besonders spannend aber ist, dass auch die Rothirsche so etwas wie einen Winterschlaf kennen», sagt Walter Arnold. Der Hirsch senkt nämlich in besonders kalten Winternächten ebenfalls seine Körpertemperatur – im Inneren des Körpers wenig, in den Beinen und den äusseren Teilen des Leibes aber beträchtlich.

Dieser «kleine Winterschlaf» dauert jeweils um die acht Stunden. Die Huftiere liegen regungslos im Bergwald, wobei die Körpertemperatur in den äusseren Rumpfteilen bis auf 15 Grad Celsius sinken kann. Für andere Säugetiere wäre das tödlich. Eine Flucht mit klammen Beinen ist dann nicht möglich, die Hirsche wagen sich daher nur in diese Kältestarre, wenn sie sich absolut sicher fühlen. Arnold vermutet, dass auch die Gämsen, Rehe und Steinböcke über einen solchen Stand-by-Modus verfügen.

Neben dem «kleinen Winterschlaf» und einem dicken Winterfell zeigt der Rothirsch keine besonderen Anpassungen an den Winter. Auch die Gämsen und Steinböcke nicht. Und trotzdem überleben die Huftiere die mageren Monate weit oben in den Bergen. Hauptverantwortlich dafür ist erstaunlicherweise der Wind, dem der Laie kaum eine hilfreiche Funktion zuschreiben würde. Doch immer dann, wenn der Wind orkanartig über Hänge und Kreten peitscht, schafft er apere Stellen, an denen die Vegetarier des Hochgebirges ihre karge Nahrung finden können.

«Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass in den Hochalpen jeder Quadratmeter von hohem Schnee bedeckt ist», sagt mein Begleiter Ueli Rehsteiner. Auch die Sonne lasse den Schnee an warmen Tagen schnell schmelzen, vor allem an den Südhängen. Kein Wunder, halten sich dort die Huftiere in den Wintermonaten besonders gerne auf.

Hochbetrieb unter dem Schnee

Es wird nun richtig kalt. Mit klammen Fingern ziehen wir uns eine weitere Kleiderschicht über. Nein, lange würden wir hier oben nicht überleben, trotz Faserpelz und Gore-Tex-Jacke. Es wird Zeit zurückzugehen, zum Berghotel, wo wir uns aufwärmen können. Viele Lebenszeichen von Tieren haben wir nicht gesehen auf unserer Schneeschuhtour. Das sei auch nicht verwunderlich, meint mein Begleiter. Denn: «Viele kleinere Säugetiere bewegen sich nicht auf, sondern für uns unsichtbar unter dem Schnee.» Dort herrscht ein stabiles Klima mit einer konstanten Temperatur um den Gefrierpunkt. Schneemaus, Alpenspitzmaus und weitere kleine Heimlichtuer wuseln dort umher – sie machen keinen Winterschlaf.

Von der Alpenspitzmaus ist bekannt, dass sie sehr viel fressen muss, um ihre Körperfunktionen aufrechterhalten zu können. Das hyperaktive, Insekten jagende Tierchen vertilgt im Sommer bis zu 2000 Käfer – pro Tag. Von seiner winterlichen Lebensweise liegt allerdings noch viel im Dunkeln. Bekannt ist, dass auch diese Art zeitweise in eine Kältestarre fallen kann. Doch die Spitzmäuse, wie auch andere Kleinsäuger, erfanden im Lauf der Evolution noch einen anderen Energiespartrick: Sie verkleinern im Herbst alle ihre Organe stark – sogar die Knochen schrumpfen. Dadurch benötigen die Tiere im Winter viel weniger Nahrung als im Sommer. Trotzdem muss die winzig kleine Alpenspitzmaus täglich Hunderte Beutetiere finden – eine reife Leistung.

Meister Reineke entgeht nichts

Die Schneemäuse haben es etwas einfacher. Als Nagetiere ernähren sie sich von Gras und Wurzeln. Beides ist auch im Winter unter dem Schnee vorhanden. Dumm nur, dass ihre Feinde nicht mal im ärgsten Winter von ihnen ablassen. Der Fuchs, dem auch meterhoher Schnee nicht viel anhaben kann, findet seine Opfer anhand der Urinspuren. Zudem verfügt er über eine gute Nase und ein extrem feines Gehör. Biologen sagen ihm nach, er höre sogar Ameisen und Regenwürmer rascheln. Zielstrebig buddelt Meister Reineke im tiefen Schnee, und schon hat er die Maus gepackt. Ein noch gefährlicherer Mäusefänger ist das schlanke Hermelin: Es verfolgt die Nager bis tief in ihre unterirdischen Gänge hinein. Da gibt es oftmals kein Entrinnen.

Abends, im geheizten Berghotel, sinnieren wir darüber, welches Tier am besten an die winterliche Bergwelt angepasst ist. Sind es die Murmeltiere, welche die kalte Jahreszeit cool verschlafen? Ist es der Extremist der Alpen, der Schneeschuh laufende Schneehase? Sind es die genügsamen Steinböcke, die bei Wind und Wetter auf den Bergspitzen ausharren und ab und an verdorrte Gräslein knabbern? Oder ist es das Hermelin mit seiner extravaganten Mausjagd?

Es gäbe mindestens zwei weitere Kandidaten für die Nomination zum «Überlebenskünstler der Alpen». Der erste ist das Steinhuhn. Nur an besonders schneereichen Tagen verlässt es das Hochgebirge – und dies, obwohl die Art ursprünglich aus dem Mittelmeerraum eingewandert ist und keine besonderen Anpassungen an den Winter entwickelt hat. Der Überlebenstrick des Steinhuhns ist so einfach wie bestechend: In kalten Zeiten zieht es sich in Ställe und Heustadel zurück. Ueli Rehsteiner, der die Vögel des Dischmatals bei Davos seit Jahren beobachtet, fand dort Kotspuren in vielen Hütten. In einem Stall hielt sich ein Steinhuhn vermutlich über Wochen auf einem Fenstersims auf – mit Ausblick über die Schweizer Alpenwelt.

Tausende Insekten vertilgt

Ebenfalls nominiert: das Wintergoldhähnchen, der kleinste Vogel Europas. Es überlebt im Bergwald die kältesten Nächte, ist aber gerade mal fünf Gramm schwer. Seine Körpertemperatur hält es dabei ziemlich konstant auf 41 Grad, eine energetische Höchstleistung. Um sie erbringen zu können, muss der nervöse Winzling tagsüber Tausende Insekten fangen. So kommt es, dass das Wintergoldhähnchen abends 1,5 Gramm schwerer ist als am folgenden Morgen. Übertragen auf den Menschen, wäre das eine Gewichtssteigerung von etwa 20 Kilogramm pro Tag!

Wir lassen das Sinnieren über die «Survivalstars der Alpen» und legen uns schlafen. Die Fenster im Schlafraum lassen wir vorsorglich zu. Wir wollen nicht riskieren, nachts plötzlich in eine Kältestarre zu fallen.

Die Winterstrategien der Säugetiere und Vögel des Hochgebirges

Im Sommer bieten die alpinen Gebiete oberhalb der Waldgrenze zahlreichen Tieren einen Lebensraum. Im Winter hingegen wird das Hochgebirge für die meisten Tiere zur Todeszone. Nur wenige spezialisierte Arten schaffen es, den kargen und widrigen Bedingungen dauerhaft zu trotzen. Die anderen weichen in angenehmere Gefilde aus – sei es für den ganzen Winter oder nur bei Bedarf.

  • Tiere, die im Herbst wegziehen:

Nach Süden: Steinrötel, Hausrotschwanz, Klappergrasmücke, Steinschmätzer
Ans Meer oder an europäische Seen: Bergpieper

  • Tiere, die bei sehr schlechten Bedingungen ins Tal fliehen:

Steinhuhn, Alpenbraunelle, Mauerläufer, Schneesperling, Alpendohle, Alpenkrähe, Uhu

  • Tiere, die im Winter im Hochgebirge bleiben:


Schneehase

Der Körper des Schneehasen ist perfekt an Kälte und hohen Schnee angepasst. Damit er nicht einsinkt, sind seine Hinterbeine wie Schneeschuhe ausgebildet. Dank seinem speziellen Verdauungssystem kommt er mit einer äusserst kargen und energiearmen Nahrung aus.

Rothirsch
In besonders kalten Nächten macht der Rothirsch einen „kleinen Winterschlaf“: während er versteckt im Wald liegt, kühlen seine äusseren Körperteile bis auf 15 Grad ab. Es wird vermutet, dass auch Steinbock und Gämse auf diese Weise Energie sparen können.

Schneehuhn
Das Schneehuhn lässt sich bei schlechtem Wetter einschneien, da der Schnee gut vor dem kalten Wind schützt. Wie der Schneehase ist die Art hervorragend an den Winter angepasst. Seine Nahrung, Pflanzenteile aller Art, findet der genügsame Vogel an windverwehten Stellen und zwischen den Felsen.

Steinbock
Der Überlebenstrick des Steinbocks: extreme Genügsamkeit und ein dickes Fell. Damit schafft er es, auch die kalten Monate in den höchsten Höhenlagen zu verbringen.

Fuchs
Der Fuchs kommt in beinahe allen Lebensräumen vor und schreckt auch im Winter nicht davor ab, im Hochgebirge Mäuse zu fangen oder nach Aas zu suchen. Tagsüber schläft er meist in seinem Bau im Wald. Dank seinen sehr feinen Sinnen kann er Mäuse auch unter der Schneedecke lokalisieren.

Murmeltier
Während des Winterschlafs verliert das Murmeltier etwa einen Drittel seines Gewichts. Seine Körpertemperatur kann sich dabei bis etwa auf 4 Grad senken. Das Herz schlägt nur noch drei bis vier Mal pro Minute.

Alpenspitzmaus
Die Alpenspitzmaus muss auch im Winter täglich zahlreiche Insekten und andere kleine Tiere fangen, um zu überleben. Sie lebt zwischen Boden und Schneedecke sowie zwischen den Felsen. In sehr schlechten Zeiten fällt sie zeitweise in eine Kältestarre. Auch ist sie in der Lage, alle ihre Organe inklusive Knochen stark zu verkleinern.

Hermelin
Dank seiner hochpräzisen Jagdtechnik ist das Hermelin auch bei hohem Schnee in der Lage, Mäuse zu fangen. Es folgt den Beutetieren sogar in deren Gänge hinein. Auch das nah verwandte Mauswiesel jagt auf diese Weise.

Weitere Tiere, die im Hochgebirge überwintern: Gämse, Mauswiesel, Waldspitzmaus, Kleinwühlmaus, Feldmaus, Schneemaus, Bartgeier, Steinadler, Kolkrabe