Vampirfledermäuse gelten nicht gerade als Geschöpfe der Freundlichkeit und des Mitgefühls. Schliesslich ernähren sie sich zu 100 Prozent von Blut. Umso erstaunter war Gerald Wilkinson, als er beobachtete, wie die Fledertiere miteinander umgehen.

Der amerikanische Biologe hatte sich in einem hohlen Baum in einer Kolonie von Gemeinen Vampiren (Desmodus rotundus) installiert. Nächtelang lag er im Kot der Tiere, in ständiger Angst vor Angriffen der Blutsauger. Die Vampire liessen ihn unbehelligt, warteten dafür aber mit einer Sensation auf. Denn Wilkinson entdeckte, dass die Fledertiere einander uneigennützig helfen: Immer, wenn sie mit vollen Mägen in die Kolonie zurückkehrten, würgten sie etwas Blut heraus und übergaben es den hungrigen Artgenossen.

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Vampirfledermäuse fliegen schlafende Rinder an, um ihnen unbemerkt 20 bis 30 Milliliter Blut abzuzapfen. Mindestens in jeder dritten Nacht benötigen sie eine warme Mahlzeit. Jüngeren Fledermäusen mit wenig Erfahrung gelingt es aber manchmal über längere Zeit nicht, ein Opfer zu finden; sie können nur überleben, wenn ihnen andere über die Runden helfen. Erstaunlich ist, dass nicht nur eigene Junge oder Partner mit einer Blutspende bedacht werden, sondern auch nicht verwandte Artgenossen.

Die Frage ist: Was haben die Tiere davon?

Vampire sind nicht die einzigen Tiere, die ein altruistisches, also uneigennütziges Verhalten zeigen. Weibchen von Hausmäusen säugen neben ihren Jungen auch solche von anderen Müttern. Adoleszente Graufischer – eine afrikanische Eisvogelart – verzichten auf eigene Junge, um Genossen bei der Jungenaufzucht zu helfen. Und Schimpansen adoptieren sogar fremde Junge.

«Wir entdecken im Tierreich immer wieder neue Formen von Altruismus», sagt Barbara König, Professorin für Verhaltensforschung an der Universität Zürich. «Doch wie dieses scheinbar selbstlose Verhalten entstehen konnte, zählt zu den ganz grossen Fragen der Biologie.»

Gemäss der Darwin’schen Evolutionsbio-logie haben auch soziale Verhaltensweisen nur Bestand, wenn sie dem Individuum von Nutzen sind. «Unnütze» Verhaltensweisen, die bloss anderen Vorteile bringen, werden im Räderwerk der Evolution ausselektiert. Nur wer seine Kräfte optimal einsetzt und sich besser durchsetzen kann, überlebt und kann seine Gene weitergeben. Die Fragen, die bei Altruismus ständig im Raum stehen, lauten daher: Was haben Tiere davon, wenn sie Futter teilen? Was bringt es ihnen, wenn sie zugunsten anderer auf eigene Junge verzichten? Oder anders gefragt: Können Tiere eigentlich auch ohne «Hintergedanken», ohne Nutzen für sich selbst, selbstlos sein?

Die Protoypen des Altruismus schlechthin sind die Ameisen. Laurent Keller, Leiter des Ins-tituts für Ökologie und Evolution an der Universität Lausanne, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den kleinen Sechsbeinern. In einem grün gestrichenen Gebäude namens Biophore auf dem Universitätscampus erforscht er ihr Verhalten. Hinter verschlossenen Türen, in klimatisierten Laborräumen, krabbeln Tausende von Ameisen durch weisse Einheitskisten. «Es braucht wenig, damit sie ihre Staaten aufbauen», sagt Laurent Keller. «Ein Röhrchen mit etwas Wasser, einige Maden als Futter und ein geschütztes Plätzchen für die Königin genügen.»

Sterben fürs Volk: Kamikazeameisen

Wer wie Laurent Keller genau hinschaut, macht bei den meisten Ameisenarten eine ausgeprägte Arbeitsteilung mit bis zu 15 «Berufen» aus: Ammen versorgen und pflegen die Larven. Andere kümmern sich nur um die Königin. «Müllabfuhr-Ameisen» bringen den Abfall und die Toten in Kompostkammern. Aussendienstlerinnen gehen gemeinsam auf Treibjagd oder kümmern sich um den Unterhalt der Ameisenstrassen. Einige Arten betreiben auch «Viehzucht», indem sie Blattlauskolonien unterhalten, oder sie züchten Pilze.

Soldatenameisen greifen jeden Eindringling an, der nicht zum Staat gehört. Die Soldaten der südostasiatischen Art Camponotus cylindricus sterben gar für ihr Volk: Kommen die Tiere mit Feinden in Kontakt, explodieren sie. Dabei überziehen die selbstlosen Kamikazeameisen den Angreifer mit einem klebrigen, giftigen Sekret.

Um die Fortpflanzung hingegen kümmert sich bei allen Arten nur eine oder eine geringe Zahl von Königinnen. Erstaunlicherweise wird das von den anderen toleriert: Weder kommt es je zu einem Aufstand gegen die Übermutter, noch wandern Tiere ab und gründen einen eigenen Staat. «Ameisenstaaten basieren auf Verwandtenselektion», sagt Laurent Keller. «Sie können sich nur gebildet haben, weil die Ameisen eines Staates nah miteinander verwandt sind.»

Das Prinzip der Verwandtenselektion hat der Biologe William Hamilton in den sechziger Jahren entdeckt. Er erkannte, dass ein Weibchen nicht selber Junge haben muss, um seine Gene weitergeben zu können. Wenn es zum Beispiel einer Schwester bei der Jungenaufzucht hilft, kann sein Fortpflanzungserfolg ebenso gross sein – weil die Schwester zur Hälfte die gleichen Gene in sich trägt. Kann die Schwester dank der Hilfe zwei Junge mehr aufziehen, entspricht dies einem eigenen Jungtier; hätte die Schwester vier Junge mehr, könnte das Weibchen rein rechnerisch zwei eigene Gensätze weitergeben.

Kooperative Nacktmulle: Der Vorderste gräbt den Tunnel, die anderen schaufeln und drücken die Erde nach hinten: Nacktmulle haben eine effiziente Form der Arbeitsteilung entwickelt. Die ostafrikanischen Nager gelten aber auch sonst als Inbegriff der Selbstlosigkeit: Alle Tiere arbeiten im Dienst eines bis zu 300 Mitglieder zählenden Staates – die Fortpflanzung wird einer einzigen Königin überlassen. Diese wird vier- bis fünfmal pro Jahr trächtig und kann jeweils bis zu 27 Jungtiere austragen. Neben der Königin und den Arbeitertieren findet man in den Nacktmullstaaten auch männliche und weibliche «Soldaten». Ihnen fällt die gefährliche Aufgabe zu, die Kolonie vor Schlangen und anderen Feinden zu schützen.

Quelle: Fabian Rüdy
Indirekte statt direkte Fortpflanzung

Bei den Ameisen sind die Arbeiterinnen einer Kolonie sogar zu drei Vierteln miteinander verwandt. «Das ist der Grund, warum sich ausgerechnet bei ihnen altruistische Systeme bilden konnten», sagt Ameisenforscher Laurent Keller. Die «Uneigennützigkeit» der Arbeiterameisen entpuppt sich also als pures Eigeninteresse: Je mehr Eier die Königin legt, umso mehr eigene Gene kann die einzelne Arbeiterin an die nächste Generation weitergeben.

Und weil das System «Staat» dank der Arbeitsteilung besonders produktiv ist, zahlt es sich doppelt aus, auf indirekte statt auf direkte Fortpflanzung zu setzen: Die grösste bekannte Ameisenkolonie besteht aus 45 000 zusammenhängenden Nestern. 300 Millionen Arbeiterinnen wuseln darin herum. Und man schätzt, dass weltweit eine bis zehn Billiarden Ameisen leben – rund eine Million Mal mehr als Menschen.

Auch die Termiten- und Bienenstaaten basieren auf dem Prinzip der Vetternwirtschaft. Bei den Wirbeltieren ist dieses Staatswesen nur noch bei zwei Tierarten bekannt: beim Graumull und beim ostafrikanischen Nacktmull.

Die haarlosen, maulwurfähnlichen Nacktmulle legen im Wüstenboden gemeinsam Tunnelsysteme von mehreren hundert Metern Länge an. Als Grabschaufeln dienen vier einzeln bewegliche Nagezähne. Sie sind dem Mund vorgelagert, damit die faltigen Graber keinen Staub schlucken. Tunnelbau wird im Akkord und in der Gruppe verrichtet: Der Vorderste gräbt und schaufelt die Erde nach hinten, die Nächsten schieben und drücken sie weiter, und der Letzte befördert sie an die Oberfläche.

Nacktmullstaaten bestehen aus bis zu 300 Tieren. An der Spitze steht wie bei den Ameisen eine Königin, die sich gemeinsam mit einem Harem aus etwa drei Männchen um den Nachwuchs kümmert. Bis zu 150 Junge wirft die Herrscherin pro Jahr. Die anderen Mulle machen sich altruistisch als Arbeiter oder Soldaten nützlich.

Alle Mitglieder einer Kolonie sind nah mit-einander verwandt. Damit hat Altruismus auch bei den Nacktmullen viel mit Eigennutz zu tun: Indem die Tiere der Königin zudienen, können sie ihren eigenen Fortpflanzungserfolg steigern.

Der Basar der Einsiedlerkrebse: Krebse der Art Coenobita clypeatus müssen sich immer wieder ein neues Schneckenhaus als Heim suchen. Finden sie eines, das nicht exakt passt, bieten sie es anderen an. Diese reihen sich der Grösse nach auf. Dann beginnt eine Kettenreaktion: Sobald einer in das Haus passt, kann jeder der Reihe nach umziehen.

Quelle: Fabian Rüdy
Bestrafungssysteme für «Betrüger»

Mit den Beispielen der staatenbildenden Arten ist freilich noch nicht erklärt, warum Tiere manchmal auch Nichtverwandten helfen. Handeln sie tatsächlich selbstlos, oder steckt ebenfalls egoistisches «Kalkül» dahinter?

«Kooperation und Altruismus ist auch zwischen Nichtverwandten möglich», sagt Barbara König. «Aber das Hauptproblem ist dabei immer, dass die eine Partei die Zusammenarbeit ausnützen könnte.» Geschieht dies, hat die Kooperation keinen Bestand. Die Konsequenz: «Teamwork funktioniert längerfristig nur, wenn alle Beteilig-ten in gleicher Weise profitieren und es keine Möglichkeiten für Betrüger gibt, das System auszunutzen.»

Einen sozialen Wohnungsbasar, der resistent ist gegen Betrüger, haben karibische Einsiedlerkrebse der Art Coenobita clypeatus entwickelt. Sie hausen in Schneckenhäusern, die genau ihrer Grösse entsprechen. Da die Tiere schnell wachsen, müssen sie immer wieder umziehen. Finden sie nun aber ein leeres Haus, das nicht genau passt, warten sie stundenlang auf weitere, ihnen nicht bekannte Artgenossen. Dann reihen sich die Krebse der Grösse nach auf und beginnen, das Heim zu testen. Sobald einer genau ins Schneckenhaus passt, zieht er um. Da dadurch wieder ein Häuschen frei wird, setzt sich innert Sekunden eine Kettenreaktion in Gang: Der Reihe nach ziehen die Tiere in die nächstgrössere Schale um, und auch der ursprüngliche Finder des Schneckenhauses kann auf diese Weise profitieren.

Nicht ganz so reibungslos funktioniert die Zusammenarbeit bei den Putzerfischen, die sich gemeinsam um die dermatologische Reinigung von Kundenfischen kümmern (siehe «Symbiose», Seite 42). Trotzdem funktioniert die Team-arbeit, weil die Putzerfische ein effizientes Bestrafungssystem entwickelt haben.

Die Putzerfische ernähren sich von den Parasiten anderer Fische. Statt bloss Parasiten abzupicken, würden einige von ihnen aber lieber die gehaltvolle Schleimschicht der Klienten fressen. Die darf aber nicht angerührt werden, weil die Kundenfische sonst das Weite suchen würden. Vergreift sich nun trotzdem ein Putzerfisch, bestrafen ihn seine Artgenossen durch aggressives Nachstellen. Damit ist garantiert, dass die Ko-operation längerfristig stabil bleibt.

Wer sozial handelt, ist im Vorteil

Als wichtigster Garant für eine erfolgreiche Zusammenarbeit unter Nichtverwandten gilt aber der sogenannte reziproke Altruismus. Er zeigt sich etwa bei den Vampirfledermäusen. Gerald Wilkinson hat herausgefunden, dass die Tiere einander nur deshalb Blut spenden, weil sie später ebenfalls mit Blut bedacht werden. Das Prinzip funktioniert auf der Basis des «guten Rufs»: Jede Fledermaus weiss, welche Tiere in ihrer Bekanntschaft besonders sozial und welche eher egoistisch handeln. Möglich ist das, weil die kleinen Säuger einander individuell erkennen. Tiere mit gutem Ruf erhalten eher Hilfe, Egoisten hingegen können nicht lange mit Goodwill rechnen. Die Kooperativen sind somit erfolgreicher, womit das «Helfer-Gen» erhalten bleibt.

Ob die Vampire Mitgefühl empfinden, wenn sie anderen helfen, ist nicht bekannt. Fest steht, dass Empathie nicht zwingend nötig ist, damit Altruismus entstehen kann. «Mitgefühl ist aber dann nützlich, wenn man sich in einem kom-plexen sozialen Gefüge behaupten muss», sagt Barbara König. «Je besser ich mich in jemand anders hineinfühlen kann, desto besser kann ich mich in der Gesellschaft bewegen und die Ko-operationsmöglichkeiten nutzen.»

Was zählt, ist ein guter Ruf

Bewiesen sind empathische Fähigkeiten bei Menschenaffen und beim Menschen. Dabei zeigen Affen und Menschen immer wieder altruistische Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick schwer zu erklären sind: Schimpansen adop-tieren nicht nur fremde Junge, sie haben auch einen Gerechtigkeitssinn, trösten einander und schlichten Streit. Menschen retten Unbekannte aus reissenden Flüssen oder spenden Armen Geld. Ist solches Verhalten tatsächlich damit zu erklären, dass man sich einen guten Ruf verschaffen will? Um später in einer Notlage ebenfalls mit Hilfe bedacht zu werden?

Die Fähigkeit zur Kooperation sei beim Menschen nicht erst in den letzten 1000 Jahren entstanden, sondern viel früher, hält der berühmte Verhaltensforscher Frans de Waal in seinem neuen Buch «Das Prinzip Empathie» fest. Seit je habe Homo sapiens in kleinen Gruppen gelebt, in denen jeder jeden gekannt habe. Dabei sei ein guter Ruf immer enorm wichtig gewesen. Denn wer aus der Gruppe verstossen worden sei, habe keine Überlebenschance gehabt. Gleichzeitig sei Teamarbeit überlebenswichtig für die ganze Gruppe gewesen. Die Fähigkeit, anderen zu helfen, ist also durchaus aus Eigeninteresse entstanden. Der Satz «Die eine Hand wäscht die andere» bringt das Prinzip am besten auf den Punkt.

Das bedeutet aber nicht, dass der Mensch ständig kalkuliert, inwiefern ihm eine Handlung persönlich hilft. «Evolutiv entstanden ist nur die Fähigkeit zur Kooperation und zum Mitgefühl», sagt Frans de Waal. Was das Individuum in konkreten Situationen mit diesem genetischen Erbe macht, ist von zahlreichen kulturellen und persönlichen Faktoren abhängig.

Vetternwirtschaft, Bestrafungssysteme, reziproker Altruismus – dies sind die drei Hauptmechanismen, die Kooperation und Altruismus evolutiv entstehen liessen. Selbstlosigkeit ganz ohne Eigennutz? Das ist in den Gesetzen der Natur nicht vorgesehen. «Es ist doch schön, dass ausgerechnet die Evolution altruistisches Verhalten hervorgebracht hat», sagt Barbara König, die Zürcher Verhaltensforscherin. «Aber wissen Sie, was noch erstaunlicher ist? Ausgerechnet das Gegenteil, die Boshaftigkeit, kann mit der Evolutionstheorie nicht erklärt werden.» So gibt es zum Beispiel Möwen, die offenbar grundlos fremde Junge töten. «Warum, weiss niemand», so Barbara König. «Kosten auf sich zu nehmen, um jemand anderem grundlos zu schaden – das ergibt aus evolutiver Sicht überhaupt keinen Sinn.»