Wiederkehr der Wisente
Vor 100 Jahren wurde der Wisent in Europa beinahe ausgerottet. Heute siedelt man den Büffel an einigen Orten wieder an. Vielleicht bald auch im Schweizer Jura.
Veröffentlicht am 11. Februar 2013 - 09:06 Uhr
Das Erste, was man im Wald vielleicht sieht, sind Hufabdrücke. Undeutliche Spuren im feuchten Gras. Kothaufen, die noch dampfen. Vielleicht gar Schlafkuhlen, von denen ein herber Geruch ausgeht. Dann plötzlich ein rotbraunes Auge. Dampfender Atem. Lange, spitze Hörner. Ein zotteliges, archaisch anmutendes Kraftpaket, das hinter einem Baum hervortritt.
Was würde passieren, wenn man in freier Wildbahn tatsächlich einer Wisentherde begegnete? Würden die Könige des Waldes ängstlich im Unterholz verschwinden? Würde die Leitkuh die Hörner senken, schnaubend, scharrend, zum Angriff bereit?
Christian Stauffer zögert mit seiner Antwort. Seine Nase ist gerötet vom eisigen Dezemberwind. Er steht vor dem Wisentgehege des Tierparks Langenberg und betrachtet seine Büffel: zwölf ausgewachsene Kolosse, vier hochbeinige Kälber. Die dunklen Gestalten kauen stoisch vor sich hin. Stauffer schaut sie an, 16 Augenpaare erwidern seinen Blick. «Die sind nicht gefährlich», sagt er. «Wenn man ihnen nicht zu nahe kommt.»
In einigen Jahren schon könnte der Wisent frei durch Schweizer Wälder stapfen. Christian Stauffer und sein Mitstreiter Darius Weber haben sich das Ziel gesetzt, die Urtiere wieder anzusiedeln, im Jurabogen mit seinen ausgedehnten Waldgebieten. «Der Wisent gehört hierher», sagt Stauffer. «So wie auch das Wildpferd oder der Elch einst hierhergehörten.»
Christian Stauffer hat Erfahrung mit der Auswilderung von Wildtieren. Er ist der Leiter des Wildnisparks Zürich, zu dem neben dem Tierpark Langenberg auch der Naturerlebnispark Sihlwald gehört. Seit 1996 beteiligt sich Stauffer bei der Wiederansiedlung der Przewalski-Pferde in der Mongolei. Nun sollen es die europäischen Büffel sein. «Die Wisente sind wahnsinnig eindrücklich», sagt er. «Sie verkörpern für mich wie kein anderes Tier die Wildnis.»
In der Tat wirken die Zotteltiere, die sich Stauffer jetzt neugierig nähern, nicht im Geringsten wie zahme Milchkühe – obwohl sie mit den Vorfahren des Hausrinds, den Auerochsen, nah verwandt sind. Mit über drei Metern Länge und einem Gewicht von bis zu 900 Kilogramm sind die Wisente die grössten und schwersten Landtiere in Europa. Und dann ist da ihr selbstbewusster Blick. Der wuchtige Widerrist. Der lange Bart, der beiden Geschlechtern wächst. Der Moschusgeruch, der an das wilde Leben im grossen, dunklen Forst erinnert.
Urig wäre es, aufregend, wenn diese Riesen wieder durch die Schweizer Wälder stapfen würden. Findet Christian Stauffer. Und es wäre ein weiteres wichtiges Kapitel in der dramatischen Geschichte des Niedergangs und der Rettung des Wisents. Die Augen des Tierpark-Direktors beginnen zu leuchten.
Der Niedergang des Europäischen Büffels beginnt vor rund 6000 Jahren. Damals ziehen die Tiere noch durch grosse Teile Europas. Doch der Mensch holzt die Waldflächen ab und bejagt die Tiere mit immer effizienteren Waffen. Damit geht es langsam, aber sicher auch den Büffeln an den Kragen.
Im Mittelalter ist Bison bonasus in den meisten Ländern ausgestorben. Und wo die Art noch vorkommt, ist sie gefürchtet: «Der Wisent ist ein schreckliches Tier mit grausamem Gebaren, feuerwerfendem Blick, verbogenen Hörnern, schwarzem Haar, struppiger Stirn und klotzigem Leib», schreibt 1502 der Hofdichter des Kaisers Maximilian I. in Wien. «Begegnet ihm ein feindlich gesinntes Wesen, reisst er es hoch mit seinen Hörnern, um es in die Luft zu schleudern. Ist er böse, vernichtet und zermalmt er alles ringsherum.»
In Freiheit überlebt die Art schliesslich nur in zwei Gebieten: im Kaukasus und im Wald von Bialowieza in Ostpolen. Dort hätschelt man sie, damit Könige, Kaiser und Zaren sie exklusiv bejagen können.
1915 zählt man in Bialowieza noch 770 Wisente. Dann kommt der Weltkrieg, und Wilderer fallen ein. 1919 stirbt der letzte polnische Wisent durch eine Gewehrkugel. 1927 ist auch im Kaukasus Schluss: In Freiheit ist die Art ausgestorben.
«Gott sei Dank gab es die Zoos», sagt Christian Stauffer. «Sonst gäbe es die Wisente heute nur noch im Museum.»
Tatsächlich setzte man die letzte Hoffnung in die 57 Tiere, die noch in Zoos und Tierparks lebten. Ein polnischer Zoologe und ein deutscher Zoodirektor engagierten sich schon in den zwanziger Jahren dafür, dass man diese weltweit letzten Wisente vermehrte. Allerdings erwiesen sich nur zwölf Tiere als geeignet für die Zucht.
«Das ist eine sehr schmale genetische Basis», sagt Christian Stauffer. Man befürchtete deshalb Inzuchtprobleme. Doch das Experiment gelang: Immer mehr Kälber kamen zur Welt, und immer mehr Tiere konnten in den verschiedenen Regionen Osteuropas freigelassen werden.
Heute ziehen wieder über 3000 Wisente in rund 30 Populationen freilebend durch die Wälder (siehe Karte). Und seit einigen Jahren gibt es Bestrebungen, die Art in Mitteleuropa neu anzusiedeln. Projekte oder Ideen existieren in Deutschland, in den Niederlanden, in Frankreich und der Schweiz.
Die grösste Schwierigkeit bei all den Projekten: die mangelnde Akzeptanz gegenüber den zotteligen Urtieren in der Bevölkerung. Der Widerstand kommt von Spaziergängern, Förstern und Freizeitsportlern, denen eine Begegnung mit den Büffeln nicht unbedingt wünschenswert erscheint. Man kennt Wisente höchstens aus dem Zoo, wo sie Respekt einflössen.
Wisente trotten auf der Suche nach Nahrung in Herden von 10 bis 20 Tieren durch den Forst. Mal fressen sie Gräser, mal Pilze, dann wieder Brennnesseln oder Brombeersträucher. Rund 50 Kilogramm Futter verputzt ein ausgewachsenes Tier pro Tag. Dabei wird der Wald kräftig umgestaltet. Die Förster mögen Vorbehalte haben, der Natur dient es: Wo Wisente leben, steigt die Artenvielfalt.
Die Herde bestehe aus einer Leitkuh, weiteren Kühen und Jungtieren, erklärt Christian Stauffer. Die Bullen streifen – ausser zur herbstlichen Paarungszeit – alleine herum. «Als Spaziergänger würde man die Tiere nur mit viel Glück zu Gesicht bekommen», sagt Stauffer.
Schritt eins seines Plans ist es, die Wisentherden zunächst in einem eingezäunten Waldstück im Jura zu halten, Schritt zwei, die Zäune allmählich abzubauen. «Wir rechnen mit zehn Jahren für die Umsetzung», sagt Christian Stauffer.
Viele Dinge sind zu klären. Wo befinden sich die geeignetsten Laub- oder Mischwälder? Wie gross wären die Schäden an den Bäumen? Blieben die Wisente in den Wäldern oder gingen sie auf die Felder? Würden sie für den Menschen zur Gefahr?
Wie viel Kraft in diesen Büffeln steckt, zeigt sich just in diesem Augenblick im Tierpark Langenberg: Ein Tierpfleger öffnet von aussen ein Gatter, durch das die Wisente auf eine grosse Weide können. Sofort trotten alle Kolosse los. Die Kälber halten sich in der Mitte der Gruppe, beschützt durch ihre Mütter.
In gewaltigem Tempo galoppieren die Büffel nun dem Leitstier hinterher. Bis zu 60 Kilometer pro Stunde können sie erreichen – allerdings nur über kurze Distanz. Sie schlagen Haken, wälzen sich lustvoll im Dreck, besteigen einander. Allzu nah möchte man ihre ungebändigte Energie nicht erleben.
«Darum gehen auch die Tierpfleger nie ins Gehege», sagt Stauffer. «Viel zu gefährlich.» Es sei jedoch wichtig, zwischen Wisenten in Gefangenschaft und solchen in Freiheit zu unterscheiden. «Im Gehege können sie vor einem Menschen nicht flüchten. Das macht sie nervös, und sie würden den Eindringling vielleicht angreifen. In Freiheit könnten sie wegrennen. Diese Option ziehen sie einem Kampf vor.»
Unfälle oder Probleme gebe es in den Wisentregionen praktisch nie, betont der Tierparkdirektor. «Heikel wird es höchstens, wenn man einem Kalb zu nahe kommt.» Oder wenn ein Wisent vor ein Auto renne. «Dann hat man keine Chance.»
Zusammenstösse zwischen Wisent und Mensch gelte es bei einer Wiederansiedlung zu verhindern. «Man könnte die Tiere mit einem virtuellen Zaun überwachen», erklärt Darius Weber, Stauffers Mitstreiter in diesem Projekt und Mitinhaber eines der renommiertesten Schweizer Ökobüros, der Firma Hintermann und Weber. Den Büffeln würden GPS-Sender umgehängt, die ihre Standorte ermittelten. Wollten die Tiere ihr Waldgebiet verlassen, erhielten sie vom Gerät einen leichten Stromstoss. «So wäre sichergestellt, dass sie in ihrem Gebiet bleiben, ohne dass Zäune aufgestellt werden müssten.»
Was hält man im Bundesamt für Umwelt von diesen Plänen? «Es wäre sehr wichtig, weitere freilebende Wisentgruppen aufzubauen, um die weltweit bedrohte Art zu erhalten», sagt Reinhard Schnidrig, Chef der Sektion Jagd, Wildtiere und Waldbiodiversität. Eine Freisetzung erachte er jedoch in der dicht besiedelten Schweiz als eher schwierig. «Aber warum nicht das Schwierige zu denken wagen?» Realistisch sei in einem ersten Schritt eine halbnatürliche Haltung. Dabei könnten die Büffel ebenfalls in einem grösseren Waldgebiet umherwandern, dieses bliebe allerdings wisentsicher eingezäunt und wäre zugleich für andere Wildarten wie Reh und Wildschwein durchlässig.
Ähnlich klingt es bei WWF und Pro Natura. «Eine Wiederansiedlung des Wisents hat bei uns derzeit keine Priorität», sagt Roland Schuler, Mediensprecher von Pro Natura. Ob man ein solches Projekt aktiv unterstützen würde, könne man noch nicht sagen. «Trotzdem: Sag niemals nie.»
Christian Stauffer und Darius Weber lassen sich durch derlei Einschätzungen nicht beunruhigen. Interessiert schauen sie nach Norden, wo gerade die ersten Wisente Mitteleuropas in die freie Wildbahn entlassen werden.
Im Rothaargebirge im Süden Westfalens lebte bisher eine achtköpfige Bisonherde in einem grossen Waldgehege. Jetzt wird der Zaun abgebaut, und die Zotteltiere trotten erstmals seit 1746 wieder ungehindert durch Deutschland.
Ermöglicht hat dies Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, der einen 4300 Hektar grossen Waldteil zur Verfügung gestellt hat. Der Fürst ist fast täglich im Forst unterwegs, um die Herde auf ihren ersten Schritten in Freiheit zu begleiten. «Wir werden von diesem Projekt viel lernen können», sagt Christian Stauffer.
Im Tierpark Langenberg kehrt langsam Ruhe ein. Friedlich liegen die Büffel dicht an dicht im Schnee, kauen vor sich hin und putzen sich mit ihren Zungen virtuos die Nase. Atmen sie aus, bilden sich in der kalten Luft flüchtige Wölkchen.
Wie damals, als Stauffer das erste und einzige Mal einer wildlebenden Herde gegenüberstand. «Plötzlich sahen wir ihren dampfenden Atem», sagt er. «Das war ein unglaublich schönes Gefühl.»
Zu der Gruppe der Rinder zählt man weltweit zwölf Arten. Einige werden im Volksmund auch Büffel genannt. Fünf Arten werden als Nutztiere gehalten, so etwa das Yak oder der Wasserbüffel.
Der Wisent wird auch Europäischer Bison genannt. Früher existierten zwei Unterarten von Bison bonasus: der Flachlandwisent und der Bergwisent. Heute gibt es nur noch Flachlandwisente und Mischformen aus beiden Unterarten. Die reinen Bergwisente, die einst den Kaukasus besiedelten, sind ausgestorben.
Der Amerikanische Bison ist eng mit dem Wisent verwandt: Die beiden Arten gehören zur selben Gattung und teilen sich denselben Vorfahren. Dieser «Urbison» lebte ursprünglich in Eurasien. Einige Herden wanderten aber während der letzten Eiszeit nach Nordamerika, wonach sich die Art dort zum Amerikanischen Bison (Bison bison) weiterentwickelte. Heute existieren zwei Unterarten: der breit gebaute, an die Bedingungen in der Steppe angepasste Präriebison, den man aus Indianerfilmen kennt, und der Waldbison, der schmaler gebaut ist.
Der Auerochse wird auch Ur (Bos primigenius) genannt. Er trottete früher wie der Wisent durch Europas Wälder. Mit bis zu einer Tonne Körpergewicht war er noch bulliger und auch gefährlicher, aggressiver. Im Jahr 1627 starb der letzte seiner Art. Und doch leben die Gene des Auerochsen millionenfach weiter: im Hausrind, dessen Vorfahre er ist. Die Domestikation vom Auerochsen zur Milchkuh fand schon vor rund 10'000 Jahren statt.
Klaus Nigge und Karl Schulze-Hagen: «Rückkehr des Königs. Wisente im europäischen Urwald»; Tecklenborg-Verlag, 2004, 168 Seiten, CHF 75.60