Tiger Norbu wird langsam ungeduldig: noch fünf Stunden biszur Nachmittagsvorstellung des Zirkus Nock. Norbu streckt sich,faucht dampfenden Atem in die kalte Luft und beginnt mit dem,was er häufig tut, wenn er nichts zu tun hat - umhertigern.Sechs weitere Artgenossen dösen auf dem Boden, rührensich nicht.

Der Käfig misst gemäss Bewilligungsgesuch genau 11,4auf 2,5 Meter - macht knapp 30 Quadratmeter. Das Gesetz verlangtfür sieben Tiger mindestens 44 Quadratmeter. Weil aber dieRaubkatzen in der Manege auftreten, darf ihr Quartier vorübergehendverkleinert werden; so steht's in Artikel 42 der Tierschutzverordnung.

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Immerhin haben Norbu und seine Gefährten Anrecht auf einAussengehege, doch es fehlt. «Das bringen wir späterin Ordnung», sagt Pressesprecher Roger Keller auf der Führungdurch den Zoo, «wenn wir mehr Zeit haben und das Wetter besserwird.»

Hektik und Improvisation sind an der Tagesordnung, wenn die SchweizerZirkusse auf Tournee gehen. Das färbt auf die Haltung derTiere ab: Die Platzverhältnisse sind oft knapp, Käfigeund Gehege entsprechend klein. Zudem ist der Spardruck gross;der Existenzkampf ist auch für die Zirkusse härter geworden.Die Folgen: Nicht immer ist eine artgerechte Tierhaltung möglich.

Augenschein bei Knie in Wil SG. Schon von weitem macht die fünfeinhalbMeter lange Rothschildgiraffe auf den Zoo aufmerksam. Ihr Halsragt kerzengerade in den trüben Aprilhimmel. Bald hörtman einen der acht asiatischen Elefanten trompeten und erblicktZebras, Kamele, Wasserbüffel. In zwei Wagen samt Aussenkäfigenturnen Kapuzineraffen an Seilen und Ästen herum. Primatenbrauchen viel Beschäftigung: «Die finden sie bei uns»,sagt Fredy Knie auf dem Rundgang.

Und die übrigen Exoten, angefangen bei der Giraffe? «DasTier stammt aus einer Aufzucht», sagt Knie, «und istdie Gefangenschaft gewöhnt, ebenso die vielen Transporte.»Die Giraffe wohnt in einem Wagen, dessen Höhe verstellbarist. Beim Zügeln wird er auf die Hälfte verkleinert;der Langhals muss den Kopf einziehen und abliegen.

Visite im Elefantenzelt. Die Tiere wurden noch bis vor kurzemhäufig an Ketten gelegt. Heute haben sie freien Auslauf imZelt oder im mit Elektrozaun gesicherten Aussengehege. Nur nachtskommen noch Ketten zum Einsatz.

Verbessert wurde auch die Pferdehaltung. Die Hengste werden nichtmehr angebunden, sondern haben Boxen. Kein Zweifel: Der ZirkusKnie lässt sich seine 150 Tiere etwas kosten. Die Anlagensind gepflegt und genügen dem Gesetz. Allerdings hältKnie weiterhin Exoten wie Elefanten oder Affen.

Nock hat Emus, Lamas, Zebras, Watussirinder und Känguruhs.«Den Tieren geht es gut», sagt Roger Keller, «dennsie sind beschäftigt, treten in der Manege auf.» Negativbei Nock: kleiner Tigerkäfig, enge Pferdeboxen und ein vielzu knappes Becken für die Wasservögel. Positiv: dieAussenanlage für die Zebras.

Morgenprobe beim Zirkus Gasser Olympia in Füllinsdorf BL.Nach der Premiere vom Vorabend wird noch einmal am Programm gefeilt.Direktor Dominik Gasser führt uns aus dem geheizten Chapiteauzu den Ställen auf der Wiese. Die Käfige mit den Rotgesichtsmakakenund den Waschbären entsprechen punkto Grösse zwar demGesetz, sind aber kahl und leer. Die Tiere machen einen gelangweiltenEindruck.

Besser scheint es den afrikanischen Stachelschweinen zu gehen.Sie schnüffeln im Wagen herum, fressen alles, was sie finden.Doch der Platz ist eng, graben und scharren können sie aufdem Stahlboden nicht. «Dafür trainiere ich täglichmit ihnen», sagt Gasser, «nächstes Jahr kommensie ins Programm.»

Uber die Haltung von Wildtieren im Zirkus gehen die Meinungenauseinander. Tierschützer dramatisieren, Tierhalter bagatellisieren,die Tiere selber sind stumm. Der Biologe Ingo Rieger, der denBeobachter fachlich unterstützt hat, meint: «Die schönsteKäfiganlage nützt nichts, wenn die Tiere zuwenig Inputhaben.» Im Unterschied zu den Zoos gebe es im Zirkus mehrBeschäftigung, mehr Abwechslung und eine engere Tier-Mensch-Beziehung.Sein Fazit: «Wenn man Tiger, Elefant, Zebra, Pferd und Kamelfragen könnte, ob Zirkus oder Zoo, so würden alle denZirkus vorziehen. Davon bin ich überzeugt.»

Doch das Zirkusleben ist auch anstrengend. Die Kamele und Eseldes Zirkus Medrano etwa müssen für diverse Werbeshows,Samichlaus- und Fasnachtsumzüge antraben. Auch der prominenteSeelöwe Adolph hat viel zu tun. Er pendelt zwischen dem ZirkusConelli und dem «Conny Land» in Lipperswil, wozu ihmein Lieferwagen mit Vier-Kubikmeter-Bassin genügen muss.Gegen das enge Quartier und die lange Fahrerei protestierten dieArbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger und der WWF vergeblich.Das Zürcher Veterinäramt konnte keinen Verstoss gegendas Tierschutzgesetz feststellen. Nicht einmal der Transport wurdebeanstandet. Dabei hatte Adolph schon einmal die Tür desLieferwagens von innen aufgesprengt und war auf die Strasse gestürzt- bei Tempo 100 auf der Autobahn. Der Seelöwe zog sich glücklicherweisenur Schürfungen zu.

Aber auch die Haltung «klassischer» Manegetiere wiePferde, Elefanten oder Raubtiere stellt hohe Anforderungen andie Zirkusbetriebe. Wurden Pferde früher oft angebunden,ist heute die Boxenhaltung üblich. Knie, Nock und Gasserhaben solche Boxen; sie sind aber sehr eng. Die Pferde könnenkaum bequem liegen und sich nicht wälzen.

Bei den Raubtieren wird's noch schwieriger: Die meisten Nummernmüssen im Ausland eingekauft werden, und das Bundesamt fürVeterinärwesen muss die Einreise bewilligen. Der konkreteTierschutz ist Sache der Kantone, doch die sind damit oft überfordert.«Wie soll ein Kantonsveterinär, der sonst Büsiund Hund behandelt, einen Löwen begutachten?» fragtAntoine F. Goetschel, Geschäftsführer der «Stiftungfür das Tier im Recht».

Birgitta Rebsamen, Juristin beim Schweizer Tierschutz STS, nenntein Beispiel: Einmal habe sie beim Zirkus Gasser bemängelt,dass die Tiger kein Aussengehege hätten. Die Anlage war ausPlatznot in ein Materialdepot umfunktioniert worden. Doch bisder Kantonstierarzt angerückt sei, habe der Zirkus sein Quartierbereits in den nächsten Kanton verlegt. «Das ist keinEinzelfall», kommentiert Rebsamen, «die Kontrollen sindminimal und uneffizient.»

Der Tigerkäfig von Nock illustriert dieses Problem. Der Dompteurreiste aus Italien ein, am Zoll wurde seine Anlage als gesetzeskonformtaxiert. Im Kanton Aargau, wo der Zirkus sein Winterquartier hat,konnte Kantonsveterinär Josef Kennel nur noch feststellen:«Die Käfige sind am untersten Limit, entsprechen aberdem Gesetz. Ausserdem hat der Bund die Anlage ja bewilligt.»

Und was sagen die Zirkusse? Sie berufen sich auf die Tradition.Knie zum Beispiel ging schon 1919 mitsamt einer artenreichen «Menagerie»auf Tournee. «Grosse Raubtierschau, 300 Tiere aller Länder»,pries sich der Nationalzirkus damals an. Inzwischen wurde dieArtenvielfalt reduziert, dem Publikum gefällt's trotzdem:In guten Jahren besuchen bis zu 400000 Personen Knies Wanderzoo.

«Ein guter Zirkus kommt ohne Exoten aus», sagt BirgittaRebsamen vom Schweizer Tierschutz. Sie fordert ein totales Verbotvon fahrenden Tierschauen; keine Wildtiere und Exoten im Zirkus,statt dessen nur domestizierte Tiere wie etwa Pferde. Beim STShat sich bereits eine «Arbeitsgruppe zur Neuausrichtung desTierschutzgesetzes» ans Werk gemacht; erste Resultate sollenim August vorliegen.

Bei Knie, Nock und Gasser wehrt man sich: «Der SchweizerNationalzirkus Knie ohne Tiere? Unvorstellbar», hältKnie in der neusten, 50 Seiten starken Zoobroschüre fest.Man beschränke sich zunehmend auf Haustiere, wolle aber aufdie «wenigen mitgeführten Wildtiere» nicht verzichten.

Bei Nock tönt es ähnlich: «Wir können vollhinter unserer Tierhaltung stehen», sagt Roger Keller, «auchdie Raubtiernummer haben wir sorgfältig ausgewählt.»Dominik Gasser, der selber acht Tiger besitzt, sagt lakonisch:«Ein Zirkus ohne Wildtiere ist kein Zirkus.»

Der Biologe Ingo Rieger hat dafür Verständnis. Man könne«doch nicht dem Zirkus die Schuld geben für behördlichabgesegnete Dinge». Ausserdem sorgten die Zirkusse fürdie Gesundheit ihrer Tiere: «Schliesslich ist das ihr grösstesKapital. Und nur zufriedene Tiere lassen sich dressieren.»

Das will man zeigen. Knie hat letztes Jahr eigens eine Fachpersonengagiert, die durch den Wanderzoo führt und die Tierhaltungkommentiert. Denn auch das Publikum ist kritischer geworden. Dashat die erfolgreiche «Befreiung» der Delphine im Kinderzoovon Rapperswil in diesem Frühling erneut gezeigt.

Doch die Tourneezirkusse setzen weiterhin voll auf Tradition:Noch 1997 wollte Knie keine Grosskatzen mehr zeigen, weil das«fragwürdig» sei. Heute - nur ein Jahr später- tönt es wieder ganz anders: «1999 werden wir wiederRaubtiere zeigen», sagt Fredy Knie. Und für DominikGasser ist klar: «Wenn ich eine gute Tigernummer habe, kommtsie ins Programm.»