Unser Lehrer in der Primarschule hatte immer recht. Wenn er vom Sonnensystem erzählte, hörte die Klasse ehrfürchtig zu und prägte sich die Namen der Planeten mit einer Eselsbrücke ein: Man Verachte Einen Menschen In Seinem Unglück Nie. Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun lassen sich daraus in der richtigen Reihenfolge ableiten. Pluto war zwar schon 1930 entdeckt worden, fehlte aber im Abzählvers. Das musste der Punkt am Schluss des Satzes ausbügeln, eine improvisierte Merkhilfe für den randständigen Planeten. Heute ist dieser Notgriff überholt. Pluto wurde 2006 zum Zwergplaneten degradiert.

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Wissen veraltet. Vieles, was wir in der Schule gelernt haben, ist heute falsch. Und vieles von dem, was wir heute für wahr halten, wird irgendwann nicht mehr stimmen. Der Bioinformatiker Samuel Arbesman von der Harvard-Universität in Boston hat die Geltungsdauer von Wissen untersucht. Er kommt zum Schluss, dass es eine ziemlich kurze Halbwertszeit hat. Nach wenigen Jahren bis Jahrzehnten, abhängig von der Disziplin, gilt nur noch die Hälfte von dem, was wir heute für gesichert halten.

Ursache der geringen Verfallsdauer ist die ungebremste Produktion von Wissen. Seit 300 Jahren wächst die Menge wissenschaftlicher Daten exponentiell. Die Zahl der neuen Publikationen verdoppelt sich alle 15 Jahre. Weltweit erforschen sechs Millionen Wissenschaftler alle erdenklichen Phänomene. Sie entwickeln neue Theorien und prüfen ihre Thesen. Veraltete Daten enden auf dem Misthaufen des überholten Wissens.

Ein Ende ist nicht abzusehen

«Die Theorien halten gerade so lange, bis neue Fakten auftauchen, die ihnen widersprechen», sagt Gerd Folkers, Direktor des Collegium Helveticum, eines Zürcher Forums für den Dialog zwischen den Wissenschaften. So haben Forscher kürzlich vermeldet, dass der Urwald im Amazonas-Tiefland doch nicht infolge des Klimawandels verschwinden werde, wie frühere Studien befürchten liessen. Und was die weltweite Artenvielfalt betrifft, so war die 1982 postulierte Zahl von 30 Millionen offenbar viel zu hoch gegriffen. Heute schätzen Biologen die Zahl der Tier- und Pflanzenarten auf fünf bis sechs Millionen.

Diese rasche Umwälzung ist ein Phänomen der Neuzeit. Zuvor galt 1500 Jahre lang die Bibel als Referenz gesicherten Wissens. Erst in der Renaissance wagten weitsichtige Gelehrte, die Behauptungen der Kirche zu hinterfragen. Exemplarisch zeigt sich das in der Astronomie: Weltbild folgte auf Weltbild, die Haltbarkeit der Theorien wurde immer kürzer. Im zweiten Jahrhundert stellte Ptolemäus die Erde ins Zentrum einer geozentrischen Weltsicht. Erst Anfang des 16. Jahrhunderts entwickelte Nikolaus Kopernikus die Theorie, dass die Erde um die Sonne kreist. Galileo Galilei konnte sie 100 Jahre später dank einem der ersten Fernrohre bestätigen. Dass unser Sonnensystem im Zentrum des Weltalls stehe, glaubten Astronomen aber noch lange.

Im 18. Jahrhundert berechnete Friedrich Wilhelm Herschel den Durchmesser der Milchstrasse auf 10'000 Lichtjahre. Die Zahl schien unglaublich, übertraf sie die damalige Vorstellung doch um ein Mehrfaches. Heute weiss man: Unsere Galaxie ist neunmal grösser, als Herschel glaubte.

Edwin Hubble erkannte 1929, dass sich das Weltall ausdehnt, und schuf mit dieser Beobachtung die Voraussetzung für die Urknalltheorie. Heute streiten Kosmologen darüber, ob das expandierende Universum wieder in sich zusammenfallen wird oder nicht. Ein Ende der Entdeckungen ist nicht abzusehen: «Verbesserte Instrumente werden auch in Zukunft zu neuen Einsichten führen», sagt Arbesman.

Wie die Physik erlebte auch die Biologie etliche Revolutionen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts galten Tier- und Pflanzenarten als unveränderlich. Erst Charles Darwin und Alfred Russel Wallace erkannten, dass Arten sich verändern und neue hervorbringen können. Die Vielfalt der Lebensformen war also nicht gottgegeben, sondern Ergebnis eines langen Auswahlverfahrens, in dem sich die am besten angepassten Pflanzen und Tiere durchsetzen.

Von Chromosomen und Genen wussten die beiden Väter der Evolutionstheorie nichts. Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert rückten die Träger der Erbinformation ins Zentrum des Interesses. Als Francis Crick und James Watson 1953 schliesslich die Struktur der Erbsubstanz DNA entdeckten, bestätigten sie Darwins Theorie eines gemeinsamen Ursprungs aller Lebewesen. Und lösten einen Boom der Bioforschung aus, der bis heute anhält.

Wissen + Zeitgeist = Halbwissen

Das Beispiel der Gene zeigt aber auch, wie kurz die Geltungsdauer von Wissen sein kann. Vor 60 Jahren hatten Biologen eine einfache Vorstellung davon, was Gene sind und wie sie funktionieren. Heute verkompliziert sich die Sachlage fast täglich, von Experiment zu Experiment. Die Genforschung beschäftigt sich mit unzähligen Details, die nur noch Spezialisten verstehen können. Früher habe man innert einer Stunde erklären können, was ein Gen sei, heute reiche dazu auch eine Vorlesungsreihe nicht, sagen Kenner der Materie. Für Gerd Folkers zeigt die DNA-Forschung beispielhaft, dass Fakten irgendwann überholt sind. «Wir befinden uns bei der Genetik in einer gewaltigen Umbruchphase. Wohin das führen wird, ist unklar.»

Je nach Disziplin hat Wissen eine unterschiedlich lange Geltungsdauer. Zwar gibt es in jedem Gebiet grundlegende Erkenntnisse, die sich lange halten. Albert Einstein hat das für unabänderlich geltende Gesetz von Isaac Newton zur Schwerkraft erst nach über 200 Jahren relativiert. Andere Erkenntnisse sind laufend Veränderungen unterworfen. Um zu vergleichen, wie schnell Wissen veraltet, berechnet Samuel Arbesman dessen Halbwertszeit. Diese bezeichnet in Analogie zum radioaktiven Zerfall eines Atomkerns die Zeitspanne, nach der die Hälfte der Erkenntnisse einer Disziplin überholt ist.

Arbesman untersucht, wie lange wissenschaftliche Arbeiten nach ihrer Publikation noch zitiert werden. In der Medizin kommt er je nach Fachgebiet auf Halbwertszeiten von 5 bis 45 Jahren, in der Physik sind es im Schnitt 10 Jahre. In der Psychologie oder in der Geschichte ist die Hälfte der publizierten Arbeiten bereits nach sieben Jahren überholt. Weil Sozial- und Geisteswissenschaften mehr Interpretationsspielraum zulassen, sind diese Halbwertszeiten allerdings unpräziser.

Zwischen längerfristig gültigen Fakten wie der Höhe des Matterhorns und unbeständigen wie Börsenkursen situiert Arbesman die sich fast unmerklich verändernden «Mesofacts». Diese «Zwischenfakten» bilden die Basis für Halbwissen. Sie spiegeln Erfahrung und Zeitgeist und wechseln häufig von Generation zu Generation, zum Beispiel in Fragen der Kinderpflege oder der Ernährung. Vor 30 Jahren etwa wurde hierzulande empfohlen, Babys zum Schlafen auf den Bauch zu legen. Heute rät man, sie auf den Rücken zu betten, da so das Risiko eines plötzlichen Kindstods geringer sei. Dabei ist dessen Ursache gar nicht bekannt.

Die Medizin liefert viele Beispiele dafür, wie sich gängige Praktiken infolge neuer Erkenntnis verändern. In den sechziger Jahren operierte man an Angina erkrankten Kindern aus Angst vor rheumatischem Fieber die Mandeln aus dem Rachen. Heute werden Antibiotika verabreicht; die Mandeln bleiben drin. Zwar gab es solche Medikamente schon vor 50 Jahren, aber unter Ärzten blieb die alte Doktrin noch lange fest etabliert. Ein weiteres Beispiel: Vor zehn Jahren berichteten Ärzte aufgrund einer grossangelegten Studie, dass eine Hormonersatztherapie in den Wechseljahren das Brustkrebs- und das Herzinfarktrisiko erhöhen könne. Viele Frauen setzten die damals weitverbreitete Therapie ab. Heute verordnen Ärzte die Behandlung zurückhaltender und erst nach Abklärung der individuellen Risikolage.

Etwa eine Million Studien veröffentlichen Ärzte Jahr für Jahr. Das medizinische Wissen ist im Fluss, die Behandlungsregeln ändern sich manchmal schneller als die Modetrends. Angehenden Ärzten gibt man am Ende ihrer Ausbildung gerne Folgendes mit auf den Weg: Bis in fünf Jahren sei die Hälfte ihres Wissens veraltet – leider wisse man nicht, welche Hälfte.

Das Bonmot verweist auf ein ernstes Problem unserer Wissensgesellschaft. Die exponentiell wachsende Datenflut und ihre schnelle Verbreitung im Internet erschweren es je länger je mehr, gesichertes Wissen zu identifizieren. «Wichtiges Wissen verschwindet in einer riesigen Datenwolke, vernebelt von unwichtigen Daten und Fakten», sagt Dirk Helbing, Professor für Soziologie und Datenmodellierung an der ETH Zürich. Wir laufen Gefahr, in der Datenflut zu ertrinken.

Vertrauen in die Forschung schwindet

Diese Entwicklung gibt zu denken: «Die steigende Wissensproduktion erhöht nicht die Erkenntnis, sondern die Unsicherheit», sagt Gerd Folkers. Was von den heute gewonnenen Daten und Fakten Bestand haben wird, ob in Zukunft überhaupt etwas davon übrig bleibt, ist nicht voraussehbar. Folkers bezweifelt sogar, dass wir in der Lage sind, zu erkennen, welches Wissen wichtig ist. Es fehlt ein System, um Wichtiges von Unwichtigem trennen zu können.

Die Zeiten des Universalgelehrten, der von Philosophie und Religion über Naturwissenschaften bis zur Medizin alles überblicken konnte, sind vorbei. «Stattdessen gibt es immer mehr Leute, die immer mehr von immer weniger wissen», sagt Folkers. Die Spezialisierung macht es schwierig, über mehrere Disziplinen hinweg den Überblick zu behalten. Jeder findet Argumente, die seine Meinung stützen, aber die Orientierungspunkte kommen uns abhanden. Aktuelle Debatten zur Atom- oder Gentechnik liefern dazu Anschauungsunterricht.

In der Folge leidet die Wissenschaft unter Vertrauensverlust. Laut der Umfrage «Eurobarometer 2010» misstrauen 58 Prozent der Europäer den Forscherinnen und Forschern bei kontroversen Themen. Was Wunder, wenn die Experten unterschiedlich argumentieren und es keinen Konsens gibt. Woran sollen sich Patienten halten, wenn ein Spezialist das Grippemittel Tamiflu empfiehlt, ein anderer hingegen dessen Wirksamkeit bezweifelt? Und wenn Pluto mal ein Planet, dann wieder keiner und am Schluss ein Zwergplanet ist, was ist dann eigentlich ein Planet?

Samuel Arbesman will mit seiner Arbeit nicht das Vertrauen in die Wissenschaft untergraben, sondern die Flüchtigkeit von Wissen aufzeigen. Damit wir nicht an überkommenen Lehrsätzen festhalten, muss uns bewusst sein, dass wir uns der Wahrheit immer nur annähern können.

So stimmt heute vieles nicht mehr, was der Lehrer einst erzählt hat, zum Beispiel auch über Dinosaurier. Sie waren weder Kaltblüter noch watete der Brontosaurus im Wasser, weil seine Beine angeblich die 20 Tonnen Gewicht nicht tragen konnten. Das langhalsige Tier lebte vor allem auf dem Land. Ach ja, eigentlich ist es gar kein Brontosaurus, sondern ein Apatosaurus. Zumindest war er das zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch.

In rund 7000 Jahre alten Mythen aus China und Indien wird eine Erdscheibe von Elefanten getragen, die selber auf einer Schildkröte stehen.

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Zur selben Zeit stellen sich frühe Kulturen wie die Sumerer in Mesopotamien die Erde als flache Scheibe in der Mitte des Ozeans vor.

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Im zweiten Jahrhundert denkt sich Ptolemäus die Erde als Kugel in der Mitte des Universums, umkreist von Mond, Planeten und Sonne.

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1509 erklärt Nikolaus Kopernikus das ptolemäische Weltbild für ungültig und rückt anstelle der Erde die Sonne ins Zentrum des Systems.

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1785 entdeckt Wilhelm Herschel die spiralförmige Milchstrasse. Unsere Sonne ist nur einer von Milliarden Sternen in dieser Galaxie.

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Infografik: Rebekka Heeb