Das sinnlose Leiden im Labor
Sind Tierversuche in der Forschung so unverzichtbar, wie uns das jahrelang eingetrichtert wurde? Immer mehr Studien ziehen das stark in Zweifel - doch die Zahl der benutzten Tiere steigt und steigt.
Veröffentlicht am 18. Februar 2008 - 10:03 Uhr
Die Zahl der Tierversuche nimmt in der Schweiz seit drei Jahren stetig zu. Im Jahr 2006 wurden laut Bundesamt für Veterinärwesen (BVET) in Labors von Universitäten und der chemischen Industrie insgesamt 716'000 Tiere für Vergiftungs- und Medikamententests verwendet. Darunter 2340 Schafe und Ziegen, 2419 Hunde, 432'933 Mäuse, 61'182 Vögel, 480 Schweine und 441 Affen. Wie viele der Tiere ihr Leben lassen mussten, ist unbekannt. Die Versuche scheinen viele Schweizer nicht zu stören: 48 Prozent befürworten Tierversuche, 46 sind eher dagegen, wie eine im Januar veröffentlichte Studie der Stiftung Animalfree Research zeigt. «Die meisten wissen wohl nicht, dass viele Tierversuche unnötig sind», sagt Markus Deutsch, Arzt für Innere Medizin von den Ärztinnen und Ärzten für Tierschutz in der Medizin.
«Schlechte» Qualität der Versuche
Tatsächlich sind in den letzten Jahren in Fachzeitschriften mehrere Studien erschienen, die laut Deutsch «das bisher auch von der Ärzteschaft weitgehend akzeptierte Konzept des unverzichtbaren Tierversuchs massiv in Frage stellen». Die letzte Studie erschien kürzlich im renommierten «British Medical Journal». Die Wissenschaftler untersuchten, ob die Resultate sechs unterschiedlicher Tierversuche mit den klinischen Effekten beim Menschen übereinstimmten. Darunter waren Tests für Wirkstoffe, die bei Hirnschlag und Knochenschwund helfen sollten. Die Wissenschaftler kritisieren folgende Punkte:
- Die methodische Qualität der Tierversuche sei «schlecht».
- Es seien «starke Hinweise» vorhanden, dass in Testergebnissen das Ausbleiben erwarteter Effekte verschwiegen wurde.
- Die Bedeutung der Tierversuche sei insgesamt «in Frage gestellt». Denn die Ergebnisse «widersprechen zu oft» den klinischen Resultaten.
Das drastische Urteil entlockt selbst der mit sieben Medizinprofessoren besetzten Redaktion des offiziellen Fortbildungsorgans der Ärztevereinigung FMH ungewohnt kritische Töne. Im «Schweizerischen Medizin-Forum» schrieben sie: «Der ahnungslose Bürger nimmt an, dass die Resultate aus Tierversuchen mit jenen aus klinischen Studien am Menschen mehr oder weniger übereinstimmen.» Doch die Studie lasse an dieser Meinung zweifeln. «Die Diskrepanzen zeigen, dass der Tierversuch nichts oder nur wenig mit der menschlichen Krankheit zu tun hat.»
Bereits im Jahr 2004 hatten Wissenschaftler im «British Medical Journal» eine Untersuchung veröffentlicht, die der Frage nachging, ob es für den Nutzen von Tierversuchen Beweise gibt. Schon damals lautete das Fazit: «Viele Tierversuche sind von schlechter methodischer Qualität. Mehrere Tests wurden am Menschen und am Tier zugleich durchgeführt.» Daraus könne man nur schliessen, dass die Forscher selbst nicht an die Zuverlässigkeit der Tierversuche glaubten, sagt Markus Deutsch. «Sie beschlossen deshalb, den Wirkstoff gleich am Menschen zu erproben.»
Eine reine Alibiübung?
Der Beobachter legt die Studien dem BVET vor. «Grundsätzlich stimmen die Resultate im Einzelfall», so BVET-Fachmann Michel Lehmann. Er schränkt jedoch sofort ein: «Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass Tierversuche grundsätzlich sinnlos sind.» Weshalb aber nimmt die Zahl der Tierversuche zu, obwohl der Nutzen in fundierten Studien angezweifelt wird?
Klar ist: Seit etwa drei Jahren buttert die Industrie massiv mehr Gelder in die Forschung. Der 2006 mit dem Elisabeth-Renschler-Preis für Tierschutz ausgezeichnete Arzt und ehemalige Tierexperimentator Christopher Anderegg sagt, die Versuche würden der Industrie einen wichtigen juristischen Deckmantel verschaffen. «Bei schweren Nebenwirkungen und Todesfällen weisen die Verantwortlichen stets darauf hin, dass sie die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprüfungen an Tieren durchgeführt haben und deshalb nicht haftbar sind.» Zudem liessen sich Tierversuche leichter in Fachblättern publizieren als klinische Tests am Menschen, die teurer und zeitaufwendiger sind. Anderegg: «Die vielen verfügbaren Tierarten und die nahezu unerschöpflichen Manipulationsmöglichkeiten erlauben es den Forschern, fast jede Theorie mit Tieren zu erproben.» Tierversuche hätten zudem eine traditionell respektierte Stellung in der Medizin, dank der die finanzielle Unterstützung gesichert sei.
Der Nationalfonds etwa unterstützt Grundlagenforschung an Tieren mit happigen Beträgen und hält fest: Tierversuche seien «unerlässlich», weil sie «wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung neuer Therapien» liefern. Novartis hält sie für «unentbehrlich», und Claudia Schmitt von Roche sagt, ohne Tierversuche sei die Entwicklung neuer Medikamente unmöglich. Die Gesetze schreiben Tierversuche vor, bevor ein neues Medikament auf den Markt kommt. Kontrollieren sollten die Behörden. Doch diese hätten «eine Gummistempelfunktion», sagt Anderegg. «Sie winken die meisten Versuche durch.» Die kantonalen Tierversuchskommissionen etwa lehnten im Jahr 2006 von 1178 Gesuchen für Tierversuche gerade mal zwei ab. Und das BVET als Aufsichtsbehörde griff kein einziges Mal mit einem Rekurs ein.
Wegen des Datenschutzgesetzes können Firmen, die zweifelhafte Versuche eingeben, auf Diskretion zählen. Selbst die Information, welche Firmen in der Schweiz Tierversuche durchführen und wie viele Tiere dabei zum Einsatz kommen, hält das BVET zurück. «Wir geben keine Auskunft über diese Personen und Institutionen», so Michel Lehmann. Auch die kantonalen Tierversuchskommissionen unterliegen der Schweigepflicht. «Ein Skandal», findet Arzt Markus Deutsch. «Tierversuche sind das grösste Tabu unserer Zeit. Sie werden von allen Beteiligten systematisch totgeschwiegen und wenn möglich ins Ausland verlagert.» Dort sind die Gesetze noch lascher.
Wie hoch der Anteil der ausgelagerten Versuche ist, will Roche nicht sagen, Novartis führt die Mehrzahl in den USA und der EU durch. Der Beobachter möchte bei einem Tierversuch dabei sein, bei dem Tiere Schäden und Schmerzen erleiden. Doch Roche, Novartis und die Abteilung Agrar- und Lebensmittelwissenschaften der ETH Zürich sagen alle ab - mit unterschiedlichen Argumenten: Es laufe gerade kein solcher Versuch, die Verantwortlichen seien nicht da, der Reporter sei «aus Hygienegründen» unerwünscht.
Der Fall Vioxx ist nicht vergessen
Christopher Anderegg sagt, man müsse mit den «unwissenschaftlichen» Tierexperimenten gänzlich aufräumen. Stattdessen müssten auf den Menschen bezogene Methoden wie die Forschung mit menschlichen Zellkulturen und Computermodellen vorangetrieben werden. «Experimente mit Tieren können Hypothesen über den menschlichen Körper und seine Krankheiten weder bestätigen noch widerlegen. Das kann nur der klinische Test am Menschen.» Als Beispiel führt Anderegg das Rheumamittel Vioxx an: Es galt nach umfangreichen Tierversuchen als sicher und sogar nützlich fürs Herz. Doch im Jahr 2004 wurde es vom Markt zurückgezogen, nachdem es weltweit über 300'000 Herzinfarkte, Schlaganfälle und Fälle von Herzversagen verursacht hatte.