Wie Walliser Landwirte mit uralten Traditionen den Wassermangel lindern
Was tun, wenn das Wasser knapp wird? In der trockensten Gegend der Schweiz haben Landwirte und Wasservögte keine Antwort. Aber uralte Traditionen, um das lebenswichtige Nass gerecht zu verteilen.
Veröffentlicht am 19. August 2022 - 10:10 Uhr
Und dann geschieht es doch noch. Erste Tropfen klatschen auf den Vorplatz, werden dicker und gehen schliesslich in Regen über. Daniel Wismer schaut auf und sagt: «Das isch Musig.» Es klingt nicht so, als ob er an ein Wunder glauben würde. Eher an eine Sinnestäuschung.
Roti Flüo, Gemeinde Embd im Vispertal, an einem dieser unbarmherzig heissen Tage Ende Juli. Daniel Wismer betreibt hier seit 28 Jahren eine Yakfarm. Für seinen 34-Hektaren-Betrieb hat er sich die trockenste Ecke des Landes ausgesucht. Die Messstation im nahen Stalden-Ackersand hält laut Meteo Schweiz den Rekord für die geringsten Niederschlagsmengen. In den vergangenen 30 Jahren fielen im Durchschnitt lediglich 543 Millimeter Regen pro Jahr. Auf dem Säntis, dem offiziell nässesten Ort der Schweiz, waren es über fünfmal mehr.
Daniel Wismer weiss, was es heisst, mit wenig Wasser auszukommen. Der Weg zu seinem Hof auf 1650 Metern über Meer führt mit zwei kleinen Luftseilbahnen vom Talboden hoch auf die Alp Schalb, dann einen halbstündigen Fussweg durch den Wald hinunter. Jeder Tritt wirbelt Staub auf. Auf den Matten sieht man, wo bewässert wird und wo nicht. Um die überall verteilten Wasserspritzen ist das Gras halbwegs grün. Wo das Wasser nicht hingelangt, zeichnen sich gelbbraune Flecken ab. Es ist knochentrocken, und die Sonne brennt, als gäbe es kein Morgen. Der Sommer 2022 hinterlässt seine Spuren.
Es ist der Sommer, in dem landauf, landab Bäche abgefischt werden, weil das wenige Wasser, das darin noch fliesst, zu warm ist. Es ist der Sommer, in dem der Schweizerische Alpenclub Tipps veröffentlicht, wie sich in den SAC-Hütten Wasser sparen lässt («In der Hütte ist, wie zu Hause, sparsam mit dem kostbaren Nass umzugehen. Also etwa bei der Katzenwäsche.»). Es ist der Sommer, in dem Gemeinden verbieten, den Rasen zu wässern oder den Swimmingpool zu füllen. Es ist der Sommer, in dem dem Land bewusst wird, dass das «Wasserschloss Schweiz», auf das man sich so lange verlassen hat, möglicherweise endlich ist.
Ein weit verzweigtes, teilweise jahrhundertealtes System von Wasserleitungen und Röhren durchzieht den Hang oberhalb von Embd. «In dem vom Dreizehnten-, Schwarz-, Roth- und Steintalhorn umrahmten Kar sammelt sich im Winter eine Schneereserve an, die in der warmen Jahreszeit Schmelzwasser zur Bewässerung liefert», heisst es in einem Heft der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Bergbauern aus dem Jahr 1956. «Der Embdbach muss jedoch einen Teil seines Wassers den Gemeinden Zeneggen und Törbel abgeben, und so kann sich dann nach schneearmen Wintern ein empfindlicher Wassermangel bemerkbar machen.»
Wie jetzt. Wismer schaut von seiner Terrasse aus auf die Gipfel oberhalb von Grächen. Noch nie seien sie so früh im Sommer schneefrei gewesen, sagt er, und eine solche Trockenperiode habe er in all den Jahren noch nicht erlebt.
«Wir haben im Moment ungefähr die Menge Wasser, die wir sonst Ende Oktober registrieren.»
Wismer weiss, wovon er redet, er ist einer der beiden Wasservögte in der Gemeinde. Was altmodisch klingt, ist es auch – aber am trockenen Südosthang sorgen die alten Traditionen für nichts weniger als fürs Überleben. Wer wie viel Wasser für seine Wiesen bekommt, ist hier strengstens geregelt. Wismer ist zusammen mit dem anderen Wasservogt, Remo Schaller, zuständig für das Funktionieren der Suonen und das Inkasso des Wasserzinses.
Im Schweizerischen Zivilgesetzbuch stösst man auf 21 Stellen, in denen Wasser explizit erwähnt ist. Das Eigentum an Quellen, die Pflicht zur Abtretung von Wasser, der Wasserablauf – alles ist normiert. Wenn es um Wasser geht, soll niemand zu kurz kommen.
Ungeschriebene Gesetze
In Walliser Gemeinden wie Embd, wo man seit Urzeiten mit wenig Wasser auskommen muss, gilt das Zivilgesetzbuch selbstverständlich auch. Aber es gelten auch andere Regeln und ungeschriebene Gesetze, die sich über Jahrhunderte etabliert und bewährt haben. Zwei Geteilschaften und eine Genossenschaft teilen das Bewässerungswasser in der Gemeinde auf. Geteilschaften sind uralte Arbeits- und Besitzkollektive, in denen jeder «Geteile» Rechte und Pflichten hat. Das Recht, Wasser zu beziehen, und die Pflicht, sich mit seiner Arbeitsleistung am Unterhalt der Leitungen zu beteiligen.
Vor ein paar Jahren wollte ein Wasservogt, auch er ein zugewanderter Üsserschwiizer, die verschiedenen Körperschaften fusionieren. Er scheiterte kläglich. «Wenn man es so handhaben würde, wie unsere Urahnen das gemacht haben, hätten wir ein perfektes System», sagt Remo Schaller, der Wasservogt über die offene Wässerleitung Staldneri. «Nur leider begreifen das heute nicht mehr alle.» An Traditionen wird nicht gerüttelt über dem Vispertal.
Immerhin rang man sich Ende der 1980er-Jahre durch, drei bis dahin offen geführte Suonen in eine Wasserleitung zusammenzuführen: die Staldneri, die Hasleri und die Jöisseri. Die alten Rechte jedoch blieben. Daniel Wismer hat rund 20 Stunden Wasserrechte an der Staldneri. Bei jedem Quadratmeter Land, den er in den vergangenen zwei Jahrzehnten gekauft hat, hat er darauf geachtet, dass die Wasserrechte im Kaufvertrag und später im Grundbuch mit eingetragen waren.
Nachts auf die Matten
Niedergeschrieben sind die Wasserrechte auch im sogenannten Kehrheft. Der Zyklus beginnt jeweils am ersten Montag im April und wiederholt sich alle drei Wochen. Für Yakbauer Wismer bedeutet das:
- In der ersten Kehrwoche darf er donnerstags von 7 bis 8 Uhr auf der Schirlini die Wiesen wässern, am Freitag von 17 bis 18.30 Uhr auf dem Lätz-Acker und am Sonntag von 4 bis 20 Uhr auf Aebnet.
- In der zweiten Kehrwoche gibt es nur am Donnerstag Wasser, von 17 bis 20 Uhr wiederum auf Aebnet.
- Dort kann er auch in der dritten Kehrwoche am Mittwoch von 12 bis 20 Uhr bewässern, und schliesslich noch am Sonntag, wiederum von 4 bis 20 Uhr.
«Wenn du in der Nacht ein paar Stunden Wasser hast, dann stehst du auf und schlägst es an», sagt Wismer.
Dieses «Anschlagen» demonstriert er am Tschongbach, der ein paar Hundert Meter neben seinem Hof fliesst – allerdings nicht ohne sich vorher bei seinem Kollegen, dem anderen Wasservogt, erkundigt zu haben, ob es in Ordnung sei, eine Viertelstunde das Wasser umzuleiten.
Am Tschongbach angekommen, hebt Daniel Wismer den Schieber hoch, der seine Wasserleitung blockiert, und verschliesst damit den Kanal zum Nachbarn. Dann dichtet er den Schieber sorgfältig mit alten Lappen ab und beschwert am Schluss alles noch mit Steinen. Kein Tropfen soll verloren gehen, das Wasser ist zu kostbar hier oben.
Dann eilt Wismer zu seinen ein paar Hundert Meter entfernten Wasserspritzen, öffnet einen Schieber, und langsam setzen sich die Spritzen in Gang. Kaum hat der Fotograf seine Bilder geschossen, leitet Daniel Wismer das Wasser wieder in die richtige, im Kehrheft festgelegte Suone. Der Nachbar soll das ihm zustehende Nass bekommen.
Nicht jeder nimmt es so genau, im Gegenteil. «Die gemeine Wasserkatze geht um», sagt Wismer, «immer häufiger.» Übersetzt heisst das: Die Wassernot verleitet den einen oder anderen dazu, einen Schieber auch mal einen Spaltbreit offen zu lassen, wenn der eigene Kehr vorbei ist. «Und ein solches Loch» – Wismer formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis – «bedeutet, dass mir Wasser für eine Spritze fehlt.»
Düstere Aussichten
Das Wasser fehlt schon jetzt. Statt neun Spritzen könne er maximal vier oder fünf laufen lassen. «Und wenn es so weitergeht …» Dann müssen längerfristig Weiden aufgegeben werden, die nicht mehr bewässert werden können. Wertvolle Futterpflanzen werden durch Disteln verdrängt, Bäume sterben ab, die Waldbrandgefahr nimmt zu. Wismer mag diese Szenarien gar nicht zu Ende denken.
Der Regen übrigens, der am späten Nachmittag einsetzt, hält knapp zwei Stunden an. Es sind die ersten Niederschläge seit Wochen. Ein paar Tropfen auf einen sehr heissen Stein.