Die Wolkenbauer vom Cern
In Genf züchten Wissenschaftler Wolken, um ihre Entstehung und ihre Auswirkungen auf das Klima besser zu verstehen.
Veröffentlicht am 7. April 2014 - 08:56 Uhr
Die Schweiz ist als sauberes Land bekannt. Und tatsächlich: Der reinste Ort der Welt befindet sich in Genf. Es handelt sich um eine Art überdimensionierte Dose, die im Forschungszentrum Cern steht. Sie enthält die sauberste Luft der Welt. Wissenschaftler betreiben für das Projekt «Cloud» (siehe «Reinste Freude für Atmosphärenforscher», rechts) unglaublichen Aufwand, um die 26 Kubikmeter Luft absolut rein zu bekommen. Um sie dann mit geringsten Mengen diverser Chemikalien wieder zu verdrecken. Damit wollen sie eine scheinbar banale Frage beantworten: Wie entsteht eine Wolke?
Jedes Kind lernt in der Schule, dass Wasser verdunstet und mit der Luft in den Himmel steigt. Weil Luft nur eine begrenzte Menge Dampf aufnehmen kann, ist sie irgendwann gesättigt, und es bilden sich Wolken. Auch die Temperatur spielt eine Rolle: Bei null Grad kann ein Kubikmeter Luft maximal fünf Gramm Wasserdampf speichern, bei 30 Grad sind es 30 Gramm. Da die Luft beim Aufsteigen abkühlt, kann sie weniger Dampf mittragen, je höher sie steigt. Wenn sie den sogenannten Taupunkt erreicht, an dem sie mehr Dampf enthält, als sie mitführen kann, kondensiert das überschüssige Wasser zu Tröpfchen mit einem Durchmesser von nur etwa 0,01 Millimetern.
Wenn es um den Einfluss der Wolkenbildung auf das Klima geht, sind detailliertere Kenntnisse nötig. An einem durchschnittlichen Tag ist mehr als die Hälfte der Erdoberfläche bewölkt. Unvorstellbare 15 Billionen Tonnen Wasser schweben über unseren Köpfen. Eine Menge Wasser, über das man nur wenig weiss.
Mit findigen Methoden versuchen Wissenschaftler, der Wolkenbildung auf die Spur zu kommen. Manche gehen den direkten Weg, etwa auf dem Jungfraujoch. Zum Ärger vieler Touristen sieht man von der höchstgelegenen Aussichtsterrasse der Alpen während etwa 40 Prozent des Jahres nur Grau. Den Forschern gefällt das. Sie können ihre Messungen bequem mitten in der Wolke vornehmen. Andere Projekte erfassen mit Hilfe von Satelliten dreidimensionale Bilder von Wolken. Im vergangenen Sommer haben 120 Forscher von verschiedenen Instituten im deutschen Jülich vier Monate lang Wolkenfelder bis in zehn Kilometer Höhe vermessen.
Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Noch wissen die Forscher sehr wenig über den Taupunkt, an dem Wasserdampf zu Tröpfchen kondensiert. Bekannt ist aber, dass sich in absolut reiner Luft keine Wolken bilden. Dafür braucht es winzige Partikel in der Luft, sogenannte Kondensationskeime oder Aerosole. Das sind Teilchen von mikroskopischer Grösse. An sie lagern sich Wassermoleküle eines nach dem anderen an, bis sie Wolkentröpfchen bilden.
50 bis 500 Kondensationskeime gibt es in einem einzigen Kubikzentimeter Luft. Viele sind winzige Partikel, die der Wind in die Atmosphäre verfrachtet hat. Sandkörnchen etwa oder Meersalz, das aus der Gischt hochgetragen wird. Dazu kommen Russ- und Aschepartikel von Waldbränden, Vulkanausbrüchen, Heizungen und Motoren, aber auch Bakterien und Pollen. All das reicht jedoch nicht, um die tatsächlich existierende Menge an Aerosolen zu erklären. Viele müssen auf andere Weise entstehen. Bekannt ist einzig, dass chemische Reaktionen dafür verantwortlich sind.
Aerosole haben substanziellen Einfluss auf das Klima. Sie reflektieren Sonnenstrahlung in den Weltraum zurück. Das trägt zur Abkühlung bei. Doch auch ihre Rolle bei der Wolkenbildung ist klimarelevant: Gibt es in der Luft viele Aerosole, aber nur wenig Feuchtigkeit, bleiben die Wolkentröpfchen klein. Je feiner die Tröpfchen sind, desto «dichter» und weisser wird die Wolke. Und je weisser sie ist, desto mehr Sonnenenergie strahlt sie ins Weltall zurück. Hinzu kommt, dass eine Wolke, die aus kleineren Tröpfchen besteht, langlebiger ist, weil sie weniger schnell abregnet.
Mit Hilfe von Cloud soll geklärt werden, wie sich Aerosole chemisch bilden. Die überdimensionierte Dose ist eine Art Zuchtanstalt für Wolken. «Wolkenforschung ist ein gigantisches Puzzlespiel mit unendlich vielen Einflussfaktoren, über die man noch sehr wenig weiss», sagt Urs Baltensperger, Mitglied der wissenschaftlichen Leitung von Cloud. Um das Puzzle zusammenzusetzen, haben die Forscher den saubersten und damit «wolkenunfreundlichsten» Ort der Erde geschaffen.
Cloud saugt nicht einfach Genfer Luft an und filtert sie. So bekäme man sie niemals absolut rein. Darum mixen die Forscher die Luft selber. Draussen vor der Halle stehen zwei riesige Tanks. Im einen ist flüssiger Stickstoff, minus 196 Grad Celsius kalt, im anderen flüssiger Sauerstoff, der bei minus 183 Grad gelagert wird. Nur bei solch tiefen Temperaturen sind sie flüssig. Und sollten sich trotz aller Sorgfalt Spuren anderer Substanzen in den Tanks befinden, frieren sie unweigerlich an der Innenwand des Behälters fest. Im Verhältnis 71 Prozent Stickstoff zu 29 Prozent Sauerstoff wird reine Luft gemischt.
200 Liter Luft müssen pro Minute in die Kammer gepumpt werden. Nicht etwa, weil die Tonne leck wäre. «Jedes unserer Messinstrumente saugt Luft heraus, um sie zu analysieren. Daher müssen wir permanent für Ausgleich sorgen», sagt der Atmosphärenphysiker Martin Breitenlechner, der von der Universität Innsbruck für die Wolkenexperimente ans Cern kommt.
Molekül für Molekül geben die Forscher unter streng kontrollierten Bedingungen Stoffe zu, deren Einfluss auf die Entstehung von Aerosolen sie überprüfen wollen. Die Idee ist nicht neu. Es gibt viele Klimakammern, in denen Wolken gezüchtet werden. Nur will das, was man dort misst, nicht zu dem passen, was real in der Atmosphäre beobachtet und gemessen wird. Der Grund ist einfach, auch wenn sich die Erkenntnis nur langsam durchgesetzt hat: Es ist fast unvermeidlich, dass leichte Verunreinigungen in der Luftkammer die chemischen Reaktionen beeinflussen und die Messergebnisse verfälschen.
Die Cern-Forscher mussten zuerst entsprechend empfindliche Messmethoden und Geräte entwickeln. «Die Menge an Stoffen, die wir hineingeben, spielt im Bereich von einem Molekül auf eine Milliarde Luftmoleküle. Verunreinigungen auf diesem Niveau würden bereits die Messungen stören. Das haben sie in der Vergangenheit in anderen Klimakammern ja auch stets getan», sagt Urs Baltensperger.
Die frisch gemixte Cloud-Luft ist vollkommen trocken. «Null Prozent relative Luftfeuchtigkeit», würden Meteorologen sagen. So wird es mit Sicherheit nichts mit der Wolkenbildung. Die Luft muss erst befeuchtet werden. Also gibt man industriell gereinigtes Wasser hinzu. Martin Breitenlechner deutet auf die Zuführungsleitungen und erläutert: «Wir nehmen als Ausgangsprodukt das sauberste Wasser, das man kaufen kann. Trotzdem muss es noch durch vier Filter geschickt werden, bevor es exakt temperiert in die Klimakammer darf.» Meist mischen die Forscher eine Luftfeuchtigkeit von 40 Prozent an, was immer noch recht trocken ist.
Auch die Temperatur in der Kammer können die Wissenschaftler exakt steuern. Per Knopfdruck lässt sich sogar die ultraviolette Strahlung der Sonne zuschalten. Und indem sie etwas vom energiereichen Strahl des Cern-eigenen Protonenbeschleunigers abzapfen, imitieren sie kosmische Strahlung. Diese besteht aus extrem schnellen Teilchen, die ohne Unterlass auf die Erde prasseln. Die Intensität der Strahlung nimmt ab, je weiter die Teilchen in die Atmosphäre eindringen. Manche Forscher vermuten, dass auch sie zur Bildung von Aerosolen beitragen. Mit Cloud kann man diese Theorie nun überprüfen. Breitenlechner bringt es auf den Punkt: «Wir können die Bedingungen vom Nordpol bis zu den Tropen und von null bis zehn Kilometer Höhe beliebig simulieren.»
Zu Beginn des Projekts haben die Forscher die Luft in der Kammer von minus 60 Grad bis plus 20 Grad Celsius vermessen. Mit einer Luftfeuchtigkeit von 10 bis 90 Prozent und mit atmosphärentypischen Konzentrationen von geringen Mengen an Schwefelsäure, die bei der Bildung von Aerosolen eine wichtige Rolle spielt. Erst als diese grundlegenden Messungen stabil waren, konnten die Forscher darangehen, gezielt Verunreinigungen hinzuzufügen.
Vor jeder neuen Messreihe stehen erst einmal zwei Tage intensiven Putzens auf dem Dienstplan. Die Kammer wird mit speziell gereinigtem Wasser gespült und dann 24 Stunden lang bei 100 Grad ausgekocht. Die Innenwände werden mit Ozon behandelt, um bestehende Verunreinigungen zu oxidieren und abzulösen. Dabei wird immer wieder kräftig durchgespült.
Vorsichtig und in der richtigen Reihenfolge werden die Verunreinigungen der reinen Luft beigemischt. «Die klebrigsten Dinge, beispielsweise Amine oder Ammoniak, geben wir ganz am Schluss hinzu. Stimmt etwas mit der Reihenfolge nicht, können wir gleich wieder von vorn anfangen mit Putzen», sagt Baltensperger. Molekül für Molekül züchten die Forscher so den «Nährboden» für Wolken. Sie beobachten, wie sich in chemischen Reaktionen die Aerosole bilden, wie viele der winzigen Teilchen entstehen und wie schnell sie gross genug werden, um als Kondensationskeime für Wolkentröpfchen in Frage zu kommen.
Manche der Moleküle, deren Wirkung untersucht wird, haften sehr hartnäckig. Es dauert lange, bis sie endlich in der Kammer sind, und noch viel länger, bis sie wieder draussen sind. Trotz grössten Mühen bekommen die Wissenschaftler etwa ein Molekül auf fünf Milliarden Luftmoleküle nicht mehr heraus. Diesen Fehler müssen sie in ihre Berechnungen mit einbeziehen.
Etwa 70 Prozent der chemischen Stoffe, die in natürlicher Luft vorkommen, stammen von Pflanzen. Bei dem, was wir als Duft der Rose wahrnehmen, handelt es sich um flüchtige organische Verbindungen, die die Pflanze an die Atmosphäre abgibt. Von Nadelbäumen gelangen Kohlenwasserstoffe in die Luft, darunter auch einer, der als Alpha-Pinen bezeichnet wird. Wir nehmen ihn als den charakteristischen Duft des Waldes wahr. Inwieweit diese Stoffe an der Entstehung von Aerosolen beteiligt sind, wird gegenwärtig in Genf untersucht.
Sogar Kühe sind an der Entstehung von Wolken beteiligt. Aus ihren Verdauungsprodukten bilden sich Amine, eine für die Aerosolbildung wichtige Stoffgruppe. Sie werden auch von verrottender Biomasse oder aus den Ozeanen freigesetzt. Für sie hat man am Cern bereits umfangreiche Messreihen abgeschlossen. Man weiss, dass sie gern mit Schwefelsäuremolekülen Bindungen eingehen, aus denen dann Aerosole entstehen.
Bereits bei tiefer Aminkonzentration bilden sich, so zeigen die Messungen nun, deutlich mehr Aerosole, als man bisher gedacht hat. Baltensperger schränkt jedoch ein: «Der Anstieg bei höheren Konzentrationen ist dann weniger stark, weil in der Atmosphäre häufig zu wenig Schwefelsäuremoleküle vorhanden sind, an die sich die Amine binden könnten.»
Erste Ergebnisse der jahrelangen Messungen belegen, dass die Menge der sich bildenden Aerosole enorm nach oben schnellt, sobald die Konzentration gewisser Spurenstoffe minimal zunimmt. Bisher ist man von einem viel geringeren Anstieg ausgegangen, weil man kleinste Mengen, wie sie beim Cloud-Projekt gemessen werden, mangels geeigneter Methoden gar nicht erfassen konnte. Also starteten die Messungen bei früheren Projekten stets mit höheren Stoffkonzentrationen. Die Ergebnisse wurden dann einfach auf geringere Mengen heruntergerechnet. Aber so einfach geht es eben nicht, wie sich nun zeigt.
Die bisherigen Berechnungen, auf denen die Klimamodelle zurzeit beruhen, stimmen demnach nicht. Sie müssen nun auf Basis der neuen Erkenntnisse Schritt für Schritt angepasst werden.
Die Bildung von Partikeln in der Atmosphäre, an die sich Wassermoleküle anlagern, birgt noch immer zahlreiche Rätsel. Um diese zu lüften, betreibt das Forschungsinstitut Cern bei Genf seit 2006 das Experiment «Cloud»; die Abkürzung steht für «Cosmics Leaving Outdoor Droplets». Bei dem Projekt arbeiten Wissenschaftler von 18 Instituten aus neun Ländern zusammen. Zehn Jahre intensive Lobbyarbeit waren nötig, bis man anfangen konnte zu bauen. Erst dann waren das Cern und die Geldgeber überzeugt, dass man nur durch den Bau einer solchen Kammer den Einfluss der Partikel auf die Wolkenbildung wirklich verstehen kann. «Heute überlegen China und die USA, selbst eine solche Kammer zu bauen. Das ist das beste Kompliment, das man uns machen kann», sagt Urs Baltensperger, Mitglied der wissenschaftlichen Leitung von Cloud.
Forscher aus den verschiedenen Disziplinen arbeiten mit ihren unterschiedlichen Ansätzen zusammen. Das geht nicht immer reibungslos. Anfangs habe «eine babylonische Sprachverwirrung» geherrscht, sagt Baltensperger. «Für uns Atmosphärenforscher ist ein Partikel ein Teilchen, das grösser als etwa ein Nanometer ist. Die Teilchenphysiker denken dagegen in Kategorien von Protonen und Neutronen.» Dafür ist die Materie für Atmosphärenforscher wesentlich komplexer, da in der Atmosphärenchemie wesentlich mehr Prozesse involviert sind, als die Teilchenphysiker manchmal wahrhaben wollen. Aber wie immer in der Wissenschaft gilt: Durch verschiedene Ansätze entstehen neue Erkenntnisse. In diesem Fall sind das akkuratere Klimamodelle.
Fachleute können an der Form der Wolken erkennen, wie sich das Wetter entwickelt. Für Laien sind sie einfach nur schön anzusehen. Eine Anleitung zum Wolkenlesen. Eine Anleitung zum Wolkenlesen.