Naturkatastrophen: Vor uns die Sintflut
Hochwasser, Geröll- und Schlammlawinen: Katastrophen werden sich künftig vermehrt ereignen – weil sich das Klima ändert und die Menschen in Risikogebieten bauen.
Veröffentlicht am 25. April 2003 - 00:00 Uhr
«Die Stimmung im Dorf ist extrem wetterabhängig. Wenn es ein, zwei Tage stärker regnet und sich die Bäche braun färben, beschleicht uns alle ein Unbehagen», sagt der Gemeindepräsident von Schlans, Reto Pfister. Die Erinnerung an die drei Tage Mitte November 2002 ist für die 100 Einwohner des Bündner Bergdorfs auch ein halbes Jahr danach noch frisch: Damals prasselten innerhalb von 70 Stunden 400 Liter Regen pro Quadratmeter nieder – so viel wie zwei volle Badewannen – und lösten eine gewaltige Rüfe aus.
Weil der Niederschlag bis weit über 2000 Meter als Regen fiel, konnte der Boden das Wasser nicht mehr aufnehmen. Schlamm, Geröll und Baumstämme wälzten sich mitten durch das Dorf und hinterliessen eine Schneise der Verwüstung. Elf Gebäude wurden mitgerissen, zehn weitere zum Teil stark beschädigt. «Wir hatten grosses Glück, dass niemand ernsthaft verletzt wurde», sagt Pfister.
Nahezu jede Stadt gefährdet
Was sich in Schlans ereignete, kann vielerorts passieren: «Nahezu jede Stadt, jede Gemeinde, muss mit dem Notfall rechnen», schreibt das Bundesamt für Wasser und Geologie (BWG). Überschwemmungen, Murgänge und Schlammlawinen werden häufiger. Damit wachsen die Risiken, mit denen wir leben müssen.
Beidseits der Alpen waren vergangenen November Dutzende Ortschaften von Überschwemmungen und Erdrutschen betroffen. Ähnlich wie im Herbst 2000: Die Ortsnamen Gondo, Baltschieder oder Stalden-Neubrück stehen seither für die wachsenden Gefahren durch Naturkatastrophen. Damals starben 16 Menschen.
Nicht nur die Berggebiete sind betroffen. Wenn im Frühling die Schneeschmelze einsetzt und gleichzeitig starker Regen fällt, werden bei vielen Bewohnerinnen und Bewohnern des Mittellands Erinnerungen an den Mai 1999 wach: Im Winter war aussergewöhnlich viel Schnee gefallen, und ab April regnete es oft tagelang. In weiten Teilen der Deutschschweiz kam es zu massiven Überschwemmungen. In den Städten Bern und Thun etwa wurden Quartiere überflutet, im Kanton Thurgau ganze Dörfer. Am Bodensee stand das Wasser ganze sieben Wochen lang über der Schadensgrenze.
Noch schlimmer hatte es im Sommer 1987 die Kantone Uri, Wallis und Tessin getroffen. In der Reussebene hiess es «Land unter», der Kanton Uri war praktisch vollständig von der Aussenwelt abgeschnitten. Der Gesamtschaden betrug 800 Millionen Franken.
«Es ist damit zu rechnen, dass ein Hochwasserereignis von diesem Ausmass in der Schweiz mindestens einmal in 100 Jahren eintritt», warnen die Autoren einer im Auftrag des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport verfassten Studie. Und: «Das Eintreten des Szenarios in den nächsten 25 Jahren wird als wahrscheinlich betrachtet.» Als «mögliche Schäden» werden bis zu 20 Todesopfer und Sachschäden in der Höhe von zwei Milliarden Franken beziffert.
In Schlans kosten die Behebung der Unwetterschäden und die neuen Schutzbauten über zehn Millionen Franken. Bei Steuereinnahmen von lediglich 60'000 Franken pro Jahr ist die Gemeinde auf Hilfe von aussen angewiesen. Die notwendigen Mittel sind bereits zugesichert, und nach einer Pause im Winter gehen die Aufräumarbeiten mit schwerem Gerät seit Mitte März weiter. Der Baulärm hat für viele Schlanserinnen und Schlanser für einmal etwas Beruhigendes.
Die Katastrophe im kleinen Dorf über der Rheinschlucht hinterliess ihre Spuren jedoch nicht nur in der Landschaft und in der Gemeindekasse. Anna Gautschi, Verkäuferin im einzigen Dorfladen, sah durch das Schaufenster, wie die Rüfe den Ort zweiteilte: «Dieses Bild werde ich nie mehr vergessen. In diesem Moment dachte ich, sterben zu müssen. Im Traum erlebe ich die Rüfe immer wieder und wache oft auf.» Im Laden seien danach viele Tränen geflossen. Sie vertraut darauf, dass sich das Ereignis nicht wiederholt.
Nur Vorspiel für Schlimmeres
Andreas Pfister und seine Partnerin Barbara Kaufmann rannten um ihr Leben, als die Schlammlawine kam. Der Wohntrakt ihres Mietshauses direkt am Dorfbach wurde wie eine Streichholzschachtel mitgerissen und zerschellte an einem Stall. «Schlans war zuvor nie von Rüfen betroffen. Wir wussten nicht, wohin wir flüchten sollten.»
Für den Architekten Andreas Pfister, Schlanser aus Überzeugung, ist das Rüfen-risiko nun kalkulierbarer geworden. Die Schneise durch den Ort werde teilweise frei bleiben. Überhaupt kämpfe Schlans vorwiegend mit anderen Problemen: «Abwanderung und Überalterung sind für uns bedrohlicher als Unwetter.»
Dennoch: Extremereignisse wie in Schlans sind wohl erst das Vorspiel für noch Schlimmeres. Die neunziger Jahre waren laut den Klimaexperten vom Intergovernmental Panel on Climate Change das wärmste Jahrzehnt der letzten 1000 Jahre. Hält dieser Trend an, werden unter anderem mehr Starkniederschläge im Winter erwartet (siehe «Klimaerwärmung», Seite 26). Je länger Regenfälle anhalten und je höher sich die Schneefallgrenze verlagert, desto mehr Wasser müssen die Gebiete aufnehmen. Ist der Boden jedoch gesättigt, sind die Fluten nicht zu bremsen, und das Risiko für Schlammlawinen steigt.
Darauf ist die Schweiz aus mehreren Gründen schlecht vorbereitet:
- Erst jede fünfte Gemeinde verfügt heute über eine Gefahrenkarte, obwohl Bundesgesetze dies verlangen. Solche Karten bezeichnen jene Gebiete, in denen nicht oder nur mit Auflagen gebaut werden darf. Flächendeckende Gefahrenhinweiskarten – ein Gesamtüberblick – sind erst in den Kantonen Bern, Aargau und Solothurn realisiert. Der Bund hat bisher darauf verzichtet, Fristen zu setzen und mit Subventionsstopp zu drohen. Immerhin: Nach den jüngsten Katastrophen hat man wenigstens einen Zahn zugelegt.
- In Katastrophenorten wie Baltschieder und Stalden-Neubrück wurden die Gefahren unterschätzt. In Baltschieder hat sich die Bevölkerung in den letzten 20 Jahren von 500 auf 1100 Einwohner mehr als verdoppelt. Die Konsequenz: Bauland musste her, das man vor allem in der Talebene gegen Westen fand. Eine Risikoanalyse unterblieb. Beim Unwetter vom Oktober 2000 lagerte der Baltschiederbach 120'000 Kubikmeter Material im Wohngebiet ab. Der Gesamtschaden wird auf 80 Millionen Franken beziffert.
- Wie Profitgier den Blick für Gefahren trüben kann, zeigt sich auch in Täsch. Auf höchst unsicherem Grund – einer abgelagerten Mure – ist auf Täschalp eine ganze Ferienhaussiedlung entstanden. Nach einem Murgang mit Millionenschäden im Sommer 2001 gilt für weite Teile des Dorfes ein Bauverbot. Nun sollen teure Schutzbauten die Planungssünden wettmachen.
- Auch in Flühli-Sörenberg unterschätzte man die Gefahren, die von einer Absenkung im Berggebiet ausgehen. Nachdem man längere Zeit von Murgängen und Erdrutschen verschont geblieben war, breitete sich das Dorf in den siebziger Jahren in die Gefahrenzone aus. Die Quittung präsentierte der Berg im Mai 1999, als es mit der Schneeschmelze und sehr starken Regenfällen zu einem grossen Murgang kam. Als Übergangslösung wurden 200 Häuser einer roten Planungszone zugeteilt und ein befristetes Bauverbot erlassen.
- Selbst Gefahrenkarten bieten keine Garantie, wenn sie von falschen Voraussetzungen ausgehen. Dass es drei Tage lang wie aus Kübeln schüttet und eine Rüfe in einem Waldgebiet losbricht, war etwa in der Schlanser Gefahrenkarte schlicht nicht vorgesehen. Und was geschieht, wenn beispielsweise die Schutzbauten einem Jahrhundertereignis nicht standhalten? Dieser so genannte Überlastfall fehlt in den meisten Gefahrenkarten.
- Viele steile Berghänge halten nur zusammen, weil der Boden dank Permafrost ganzjährig gefroren bleibt. Doch der Wettlauf mit der Eisschmelze hat längst begonnen. Während vielerorts in den Alpen noch das Prinzip Hoffnung herrscht, setzt Pontresina im Engadin auf Beton. Dort wurden zwei je 230 Meter lange, 67 Meter breite und 13 Meter hohe Schutzdämme oberhalb des Kurorts errichtet. Sie sollen bis zu 100'000 Kubikmeter Geröll stoppen, die vom tauenden Schafberg drohen. Absoluten Schutz garantieren aber auch die 7,5 Millionen Franken teuren Dämme nicht.
Inflationsbereinigt zerstörten Unwetter in der Schweiz seit 1972 Werte von über neun Milliarden Franken. Versicherungen beobachten denn auch mit grosser Aufmerksamkeit, wie die Schadenssummen zunehmen. «Der Trend zeigt deutlich nach oben», sagt Pamela Heck, Klimaspezialistin bei der Swiss Re, «allerdings schwanken die Zahlen stark, je nach Ausmass der einzelnen Naturkatastrophen.» Zwar liegt der Grund für diesen Anstieg unter anderem darin, dass immer mehr Werte versichert sind, aber auch raumplanerische Sünden kosten Millionen. «Es wird immer häufiger in exponierten Lagen gebaut», stellt Pamela Heck fest.
320 Millionen Franken jährlich
Die Unwetter bringen nicht nur den Versicherungen hohe Kosten, auch die öffentliche Hand muss tief in die Kasse greifen. In Graubünden beispielsweise rechnet man damit, dass die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten nach den Unwettern vom November 2002 auf 692 Franken pro Kopf der Kantonsbevölkerung zu stehen kommen – viel Geld für einen finanziell nicht auf Rosen gebetteten Bergkanton, selbst wenn der Bund rund die Hälfte der Kosten übernimmt.
Auch die Vorsorge belastet die öffentliche Hand massiv. In den vergangenen 30 Jahren wurden in der Schweiz nach Angaben des Bundesamts für Wasser und Geologie rund vier Milliarden Franken in den Schutz vor Hochwassern, gefährlichen Wildbächen und Murgängen investiert. Der Bund zahlt im Schnitt 40 Prozent, den Rest müssen die Kantone und Gemeinden übernehmen. In den vergangenen zehn Jahren, so Hans-Peter Willi, Chef der Sektion Wasserrisiken im BWG, wurden jährlich rund 190 Millionen Franken in den Hochwasserschutz investiert.
Etwa 80 Millionen Franken pro Jahr wenden Bund, Kantone und Gemeinden für den Schutz vor Lawinen, Steinschlag, Felsstürzen sowie für den forstlichen Bachverbau auf. Und die Pflege des Schutzwaldes kostet weitere rund 50 Millionen Franken pro Jahr, schätzt Peter Greminger, Leiter des Fachbereichs Schutzwald und Naturgefahren in der Eidgenössischen Forstdirektion.
Zusammengerechnet ergibt das Ausgaben von 320 Millionen Franken jährlich, die aus öffentlichen Geldern finanziert werden müssen – und das ist noch nicht alles: Vorkehrungen zum Schutz von Autobahnen und Bahnstrecken sind in diesen Zahlen ebenso wenig enthalten wie Massnahmen, die Kantone, Gemeinden und Private ohne Bundesbeteiligung bezahlen.
«Ist ein Kanton plötzlich von grossen Unwetterschäden betroffen, so steigt der Investitionsbedarf rasant an», sagt BWG-Fachmann Willi. Ein Blick in die BWG-Statistiken zeigt dies deutlich: Die Spitze hält mit 693 Millionen Franken in 30 Jahren der Kanton Bern, gefolgt vom Wallis (532 Millionen), dem Tessin (334 Millionen) und Graubünden (307 Millionen) – vier Kantone, die in den vergangenen Jahren mehrere Male von schweren Unwettern und Überschwemmungen heimgesucht wurden.
Grosse Brocken stehen noch an. Beispiel Wallis: Für das Einzugsgebiet der Rhone wurde in einer Untersuchung ein Schadenspotenzial von sieben Milliarden Franken errechnet. Nun soll der Fluss für eine Milliarde Franken einen breiteren Abflusskorridor, mehr Rückhalteräume und robustere Schutzbauten erhalten. Damit, so hofft man, würden die Schäden im schlimmstdenkbaren Unwetterfall maximal 150 Millionen Franken betragen.
Das Beispiel der Rhone ist typisch für die wasserbaulichen Sünden der Vergangenheit. So galt noch bis Anfang der neunziger Jahre nur ein kanalisierter Wasserlauf als ein «guter» Fluss. Doch diese Betonkorsette verschärfen die Hochwasserspitzen im Unterlauf der Gewässer. Bei extremen Unwettern stehen generell zu wenige Rück- und Freihalteräume für die Wassermassen zur Verfügung.
Noch trister sieht die ökologische Bilanz aus: Die Auen sind um etwa 90 Prozent geschrumpft. «Für Lebewesen fehlen in den schnell fliessenden Kanälen vor allem bei Hochwasser die Rückzugsorte, und auch die verdichteten Flusssohlen bieten für die Tiere keinen Platz», kritisiert Andreas Knutti vom WWF Schweiz. Er fordert «befreite Wasser».
Frühere Sünden korrigieren
Mit dem seit 1993 geltenden Bundesgesetz über den Wasserbau werden die Sünden der Vergangenheit korrigiert. Gewässer sollen aus ihren Betten herausgeholt, ökologische Defizite behoben und Lebensräume wieder vernetzt werden. Das braucht Platz. Bäche und kleinere Flüsse benötigen auf beiden Seiten mindestens fünf bis fünfzehn Meter Uferbereich, grössere Flüsse wesentlich mehr.
Kantone und Gemeinden sind verpflichtet, diese Flächen in der Richt- und Nutzungsplanung zu sichern. Dies betrifft sowohl Landwirtschafts- als auch Siedlungsgebiete. Da sind Nutzungskonflikte programmiert. Grundbesitzer können sich gegen eine Auszonung wehren, was das Prozedere meist um Jahre verzögert. «Am grösseren Raumbedarf für Fliessgewässer führt aber kein Weg vorbei», sagt WWF-Vertreter Knutti.
Wie gehen wir in Zukunft mit den zunehmenden Naturgefahren um? «Fest steht, dass Menschen Räume besiedelt haben, die zuvor der Natur überlassen blieben. Damit wuchs auch das Schadenspotenzial», meint BWG-Abteilungschef Willi. Daher seien in erster Linie die Raumplanung, aber auch eine neue Risikokultur gefordert: «Nicht um jeden Preis gegen, sondern – wo möglich – mit Hochwasser leben, heisst die Devise.»
Erst wenn das nicht reicht, soll verbaut werden. Auf seltene Extremereignisse zugeschnittene Verbauungen sind nämlich so teuer, dass sie im Verhältnis zum abgewendeten Schaden nicht wirtschaftlich sind. Zudem verführen sie zu falscher Sicherheit, wenn hinter Schutzvorrichtungen munter weitergebaut wird.
Orte der Natur überlassen
Für die Zukunft ist deshalb Prioritätensetzung gefragt. «Mit dem neuen Finanzausgleich werden die Kantone viele Mittel ohne Zweckbindung erhalten, die sie dort einsetzen können, wo sie am meisten Nutzen herausholen. Die Kantone müssen dann offen ausdiskutieren, welche Regionen sie fördern wollen und welche nicht», sagt der ETH-Ökonomieprofessor Alain Thierstein (siehe «Die Existenzfrage stellt sich für mehrere Gemeinden», oben). Kein Tabu dürfe dabei die «Nulloption» sein, so Thierstein: die Frage, ob bestimmte abgelegene Gebiete, in denen das wirtschaftliche Überleben unsicher und die wachsende Gefahr von Naturkatastrophen vorhanden sei, nicht besser in einem «geordneten Rückzug» aufgegeben und der Natur überlassen werden sollten.
Eine brisante Idee, an deren politische Realisierbarkeit Alain Thierstein selber nicht so recht glaubt: «Wenn ich die bisherige Politik anschaue, denke ich nicht, dass viele Kantone solche vorausschauenden Überlegungen anstellen werden.»