Evolution im Vierwaldstättersee
Die grossen Tiefen der Schweizer Seen sind noch kaum erforscht. Regelmässig entdecken Forscher dort neue Fischarten.
Veröffentlicht am 30. September 2011 - 09:45 Uhr
Der unscheinbare, silbrig glitzernde Fisch stellt eine kleine Sensation dar. Ole Seehausen steht in Ölzeug auf einem schaukelnden Boot auf dem Brienzersee und hält den schlanken, handspannenlangen Felchen in die Höhe, den er und weitere Biologen aus 250 Metern Tiefe hochgezogen haben. So tief unten wurden hier bislang noch keine Felchen nachgewiesen. Ob dieser auch für die Wissenschaft neu ist? «Das werden erst die morphologischen und genetischen Untersuchungen zeigen», sagt Seehausen, Professor für aquatische Ökologie und Evolution an der Universität Bern.
Was die Fischvielfalt betrifft, gleichen die Seen vor unserer Haustür weissen Flecken auf der Landkarte. «Besonders die grossen Tiefen sind kaum erforscht», sagt Seehausen. In vielen Fällen geben nur die Fischereistatistiken Auskunft. Und die Fischer setzen ihre Netze nicht tiefer als 80 bis 100 Meter. «Bei vielen Arten weiss man weder, wo die Fische sich aufhalten, wenn sie nicht gerade laichen», sagt Seehausen, «noch, wie viele verschiedene Arten es wirklich gibt.» Um diese Geheimnisse zu lüften, befischen er und seine Kollegen derzeit im Rahmen des internationalen «Projet Lac» systematisch diverse Seen.
Mit ihren Netzen heben sie unerwartet reiche Schätze. In jedem der grossen Schweizer Seen leben zwischen zwei und sechs Felchenarten. Felchen sind die mit Abstand wichtigsten kommerziell genutzten Seefische der Schweiz. Und mit rund 27 Arten haben wir sogar die grösste Felchenvielfalt Europas. Die meisten Arten kommen nur hier vor, wo es tiefe, kalte Seen gibt – ein Relikt der letzten Eiszeit. Und auch von Saiblingen und Egli soll es in manchen Seen mehr als eine Art geben.
Die Zahl der dokumentierten Arten nimmt zu, weil viele Spezies erst heute dank modernen genetischen und morphologischen Methoden als solche erkannt werden. Manche Felchenarten etwa kann man mit blossem Auge nur schwer auseinanderhalten. Die Fischer am Vierwaldstättersee unterscheiden die grossen Balchen des Flachwassers, die kleinen Albeli im offenen Wasser sowie den Edelfisch des Tiefenwassers; genetisch ist auch der Alpnacherfelchen im Alpnachersee eine eigene Art.
Gelegentlich wird jedoch eine mysteriöse Zwischenform beobachtet. Manche Fischer vermuteten, dass sie aus dem Bodensee importiert wurde. Ole Seehausens Team aber schaute auf molekularer Ebene genauer hin. Die Genanalysen zeigten klar, dass der sogenannte Schwebbalchen mit keiner der anderen Arten identisch ist und sicher nicht aus dem Bodensee stammt. Er gilt seither – zumindest für die Wissenschaftler – als neue Spezies.
Für das Ökosystem See ist die Vielfalt von grosser Wichtigkeit. Fischarten, zwischen denen geringe genetische Unterschiede bestehen, formen ihre Lebensräume auf unterschiedliche Weise. Das belegen Experimente des Biologen Blake Matthews an der Forschungsanstalt für Ökologie, Evolution und Biogeochemie in Kastanienbaum LU. Neben einem Weinberg am Fuss des Pilatus richteten er und sein Team in 40 brusthohen Plastikbottichen künstliche See-Ökosysteme ein. In jedes setzten sie ein gutes Dutzend Stichlinge. Sie wählten zwei Arten dieses Fischs, die auf unterschiedliche Beute spezialisiert sind – eine auf Plankton, eine auf am Boden lebende Organismen. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob sich ein Ökosystem unterschiedlich entwickelt, je nachdem, ob die eine oder die andere Fischart darin lebt.
Die nur drei Zentimeter langen Fische bewiesen ihre dramatische Wirkung auf das Nahrungsnetz der künstlichen Seen: Wo eben noch Kleinkrebse wie Daphnien und Ruderfusskrebse ungestört die mikroskopischen Algen abweideten, reissen Jäger jetzt grosse Lücken in ihre Herden. Das Algenwachstum nimmt zu, und das Wasser wird trüb wie Erbsensuppe.
Der Effekt ist aber nicht bei beiden Stichlingtypen gleich. Die Daten aus Kastanienbaum sind zwar noch nicht ausgewertet, aber ein analoges Experiment, das Matthews in Kanada durchführte, zeigte überraschende Ergebnisse: Die Freiwasser- und die Bodenräuber dezimierten verschiedene Beutetiere und beeinflussten den Nährstoffumsatz, das Algenwachstum und damit die Lichtdurchlässigkeit des Wassers auf unterschiedliche Weise.
Wie Holzfäller, die einen Wald lichten, bereiten sie ihren «Mitbewohnern» – Algen, Schnecken und Krebschen, aber auch ihren eigenen Nachkommen – ein völlig anderes Wohnmilieu. «Arten können nicht nur Lebensräume formen, sie beeinflussen dadurch auch ihre eigene Evolution und die anderer Arten», sagt Matthews. «Das wussten wir vorher nicht.»
Pflanzen und das Phytoplankton produzieren durch Fotosynthese Kohlenhydrate und Sauerstoff. Sie werden von den kleinsten Tieren im See, winzigen Krebsen und Wasserflöhen, gefressen und stehen am Anfang der Nahrungskette. Ein Räuber wie der Stichling kann sich effizienter ernähren, wenn er sich entweder auf Bodentiere oder auf die frei schwimmenden «Weidetiere» spezialisiert hat. Tatsächlich kann man unterschiedliche Stichlinge an ihrer jeweiligen Kiefer- und Kiemenanatomie unterscheiden.
Im See bleiben dank der genetischen Vielfalt die ökologischen Nischen erhalten. «Wenn wir die Vielfalt verlieren, büssen wir nicht nur die Fische ein», warnt Matthews, «sondern auch die vielen Verknüpfungspunkte innerhalb des Nahrungsnetzes im See.» Plankton, Nährstoffchemie und Lichtverhältnisse wären ebenso betroffen.
Auch die Fischer bekämen den Verlust zu spüren. Die Vielfalt lässt sich mit der Diversifizierung eines Wertpapier-Portfolios vergleichen: Sie ist eine Absicherung gegen Zufälle und Schwankungen. «Es ist für die Stabilität der Fischerei wertvoll, wenn ein Fischbestand keine Monokultur ist», sagt Ole Seehausen. Das illustriert der Kollaps der Edelfischbestände im Vierwaldstättersee. Infolge der Überdüngung durch Landwirtschaft und Abwässer in den siebziger Jahren ging diesen Bodenfelchen im tiefen Wasser buchstäblich die Luft aus. Sie verschwanden weitgehend. Erst 2004 wurde die Art wiederentdeckt. Die Fischer mussten inzwischen mit dem kleineren Albeli vorliebnehmen, das in geringeren Tiefen laicht. «Hätte es nur eine Felchenart gegeben, wäre bald Schluss gewesen mit der Felchenfischerei», sagt Seehausen.
So überrascht es, dass bei der Befischung der kommerziell genutzten Bestände die neu entdeckte Vielfalt bislang keine Rolle spielt. Etwa beim Felchen: Im Vierwaldstättersee gibt es offiziell nur drei Felchenformen (Albeli, Balchen, Edelfisch). In Wahrheit sind es aber vier, mit den neu beschriebenen «Schwebbalchen» sogar fünf genetisch gesonderte Arten. Während die Artenschützer des Bundes seit diesem Jahr bereits 27 Felchenarten anerkennen und als schützenswert einordnen, hält man im Fischereimanagement vorerst an einer einzigen Felchenart fest, die in diversen Formen auftritt.
Das könnte Konsequenzen haben. Würden die Arten nicht getrennt überwacht, könnte man leicht eine Spezies übernutzen und an den Rand des Verschwindens treiben, so Seehausen. Dabei anerkennt das Bundesamt für Umwelt (Bafu) durchaus, dass «die bisherige Praxis die Wirklichkeit nur schlecht abbildet». Die kantonalen Fischereiverwaltungen würden die diversen «Fischformen» aber bereits genügend hegen. «Mit den vorgeschriebenen Schonzeiten und Maschenweiten der Netze schützen wir die Bestände aller Formen», sagt Erich Staub, langjähriger Leiter der Sektion Fischerei beim Bafu. Es ist zudem verboten, Fische aus einem See in einem anderen auszusetzen. Aber da sich die Formen mit blossem Auge kaum unterscheiden lassen, sei die nach Arten getrennte Überwachung noch nicht praktikabel, so Staub. Erst müsse es «eine praxistaugliche Weise» geben, die Artzugehörigkeit zu testen.
Dann könnte es nach Ansicht der Forscher zu spät sein. «Diese Arten sind weltweit einmalig. Jedes Jahr zählt, um den weiteren Verlust nur hier heimischer Arten zu verhindern», kontert Ökologe Seehausen. «Wo mehrere Arten der gleichen Gattung im selben See leben, können sie innerhalb von wenigen Jahren komplett verlorengehen.» Dann nämlich, wenn sie sich mit anderen Arten vermischen oder weggefischt werden. Dies gelte in der Schweiz etwa für Felchen, Seeforelle, Saibling und Egli.
Bereits klagen die Berufsfischer vielerorts, dass ihnen immer weniger und kleinere Felchen ins Netz gehen. Der Grund: Die Seen sind heute dank Kläranlagen und reduziertem Düngemitteleinsatz sauberer als vor 20 Jahren. Manche sind wieder fast im gleichen Zustand wie in den Fünfzigern, als Nährstoffe rar waren. Das Abwasser dem Fischfang zuliebe weniger gründlich zu reinigen, wie es Fischer fordern, sei keine Lösung, sagt Seehausen. Besser sei es, die Vielfalt an Fischarten zu pflegen. Denn durch sie kann die Biomasse wachsen und die Netze der Fischer füllen.
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