Eine rätselhafte Rückkehr
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Rotmilane in Europa fast ausgestorben. In der Schweiz hat sich die Population rasant erholt. Weshalb gefällt es den Greifvögeln hier so gut?
Veröffentlicht am 7. Dezember 2018 - 09:07 Uhr,
aktualisiert am 6. Dezember 2018 - 09:43 Uhr
Geduldig sitzen sie auf der Buche, zwei Rotmilane, der Kälte trotzend. Das üppige Federkleid hält sie warm, wenn das dünne Blätterdach der Bäume kaum noch vor dem Wind schützt. Der Körper ist reglos, spart Energie. Einzig der Kopf rotiert, wenn die blassgelben Augen die Umgebung nach Nahrung absuchen. Der Sommer war ein einziges Fest. Mäuse, Würmer, totgefahrene Tiere. Würste vom Grill. Ein Buffet auf dem Komposthaufen: Brokkoli, Ananas, sogar Spaghetti.
Im November ist die Auswahl begrenzt, schon bald erschwert der erste Frost die Nahrungssuche. Dann müssen sich die Rotmilane entscheiden. Für die Reise nach Spanien oder für einen Winter in der Schweiz.
Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten Anfang November kaum mehr Rotmilane in den Baumkronen gesessen. Damals war die Schweiz im Winter unbeliebt – die Vögel verzogen sich in den Süden. Zumindest die wenigen, die es zu dieser Zeit noch gab. In den 1970er Jahren wurden knapp 90 Paare gesichtet, meist im Jura. Fast wäre die Art hierzulande ausgestorben. Doch dann nahm die Geschichte der Rotmilane eine überraschende Wendung.
Ein Glücksfall war die Naturschutzbewegung der 1960er Jahre. Die Bevölkerung begann sich politisch für den Naturschutz zu engagieren. Pestizide wurden verboten. Diese hatten die Nahrung der Rotmilane über Jahre vergiftet. Bald wurden die Vögel nicht mehr als Feinde betrachtet, die sich an Hühnern und Hasen vergingen. Die Wilderei nahm ein Ende, die Population erholte sich. So rasant, dass selbst Wissenschaftler staunten. In Deutschland, Frankreich und Spanien ist der Bestand noch immer rückläufig oder stabil, in der Schweiz hat er sich seit dem Jahr 2000 fast verdreifacht.
Ein 2015 gestartetes Projekt der Schweizerischen Vogelwarte Sempach will diesem Phänomen auf den Grund gehen. Federführend ist Patrick Scherler. Der Biologe ist ein Vogelfreund wie aus dem Bilderbuch: Schon als Junge beobachtete er mit dem Grossvater Rotmilane, in seiner Masterarbeit befasste er sich mit dem Steinkauz. Seit vier Jahren erforscht er im Rahmen seiner Dissertation Rotmilane. Auf der Autofahrt durch das Freiburger Sensegebiet deutet Scherler im Minutentakt auf Vögel – da ein Grünspecht, dort ein Mäusebussard –, spricht über nachhaltige Landwirtschaft und den endlich erschienenen «Schweizer Brutvogelatlas». Manchmal trägt er T-Shirts, auf denen Vögel prangen. Darüber lacht er selber.
«Die Sterblichkeit der Rotmilane nimmt stark zu, wenn sie ins Ausland fliegen. Das sehen wir aufgrund der GPS-Sender.»
Patrick Scherler, Biologe
Auch die beiden Rotmilane auf der Buche kennen ihn bereits. Wenn sich Scherler vorsichtig nähert, drehen sie zwar den Kopf, bleiben aber sitzen. Wie Chamäleons verschmelzen sie mit der Umgebung. Das rötlich braune Bauchgefieder verschwindet in den bunten Blättern, die braunen Rückenfedern im nassen Holz. «Die beiden gehören zu den ersten der insgesamt 400 Vögel, die wir mit GPS-Sender ausgestattet haben», erinnert sich Scherler. «Wie ein Rucksack begleitet dieser die Tiere auf den Reisen und erfasst einmal pro Stunde ihren Standort.»
Die gelieferten Daten zeichnen ein Familienporträt: Gemeinsam bewohnt das Paar den Rand eines Wäldchens im Sensegebiet. In den vergangenen Wintern ist es zusammen nach Spanien gezogen und pünktlich zur Brutsaison zurückgekehrt. In diesem Jahr sind Anfang November alle Jungen ausgeflogen, die Eltern sind aber noch immer hier. Man könnte fast meinen, sie wittern die Gefahr: In den vergangenen drei Jahren haben sie drei Junge verloren. Zwei Töchter verschwanden in Portugal und Spanien, ein Sohn kollidierte in Frankreich mit einem Fahrzeug.
«Mit Hilfe der GPS-Sender sehen wir, dass die Sterblichkeit der Rotmilane stark ansteigt, wenn sie ins Ausland fliegen», erklärt Patrick Scherler. Dort lauert der Tod in Form von vergifteten Fleischködern oder von Munition. Er rattert über Eisenbahnschienen oder rast die Strassen entlang. Und über der endlosen Einöde fliegt stets der Hunger mit. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft sind Feldhamster, Mäuse und Kleinsäuger fast verschwunden. Lange haben die Vögel von Schlachtabfällen unter freiem Himmel profitiert. Eine EU-Bestimmung brachte sie vielerorts zum Verschwinden.
Gelegentlich sind Rotmilane auch unvorsichtig. Müde vom langen Flug, sehnen sie sich nach einem Rastplatz. Doch das Land ist karg, einzig Strommasten ragen in den Himmel. Manchmal sprühen die Funken sofort, wenn sich die Vögel darauf niederlassen. Manchmal erst, wenn sie die Flügel ausbreiten und die Stromträger touchieren. Scherler und seine Kollegen suchen dann nach dem verlorenen Signal und finden oft nur noch den Sender.
Dieses Jahr macht der Doktorand aber keinen Ausflug nach Spanien. Spannender sind die Winterschlafplätze in der Schweiz: Anfang 2018 wurden dort 3280 Rotmilane gesichtet – fast dreimal so viel wie noch vor zehn Jahren. Die Vögel bleiben nun lieber hier. Das hänge vor allem mit dem veränderten Klima zusammen: «In den letzten Jahren war die Schneedecke im Flachland selten geschlossen, die Temperaturen sind etwas milder», sagt Scherler. Und sollte es doch einmal ungemütlich werden, sind die Vögel innert zweier Tage in Frankreich.
Auch die Menschen tragen dazu bei, dass es den Rotmilanen hier so gut gefällt. Im vergangenen Jahr machte eine ältere Frau im Zürcher Unterland Schlagzeilen, die ihre «Schätzeli» mit Pouletflügeli und angebratenen Schweinekoteletts fütterte. Die Nachbarn fühlten sich von Lärm und Kot gestört und sprachen die Rentnerin darauf an. Bald aber landeten tote Fische und Pouletbeine in ihrem Briefkasten. Die Sache eskalierte, als ein Rotmilan angeschossen wurde.
In ländlichen Gebieten des Sensebezirks füttert jeder achte Haushalt, wie eine Befragung der Vogelwarte Sempach zeigt. Manche Bauern machen das nicht ganz uneigennützig: Wenn die Rotmilane Küchenreste und die Nachgeburt von Hoftieren vom Miststock klauen, müssen diese nicht entsorgt werden. In einigen Kantonen ist die Fütterung verboten, und biologisch gesehen ist sie sowieso unnötig. «Die Vögel, die bei uns überwintern, sind gut an die kalte Jahreszeit angepasst. Sie brauchen kein zusätzliches Futter», erklärt Scherler. Eine Fütterung kann schnell zu einem Ungleichgewicht im Ökosystem führen: Lokale Brutvögel können gestört, kleinere Beutetiere grossflächig gefressen werden. Auch Krankheiten können sich leichter übertragen, wenn viele Vögel auf engem Raum leben.
Trotzdem will Scherler den Vogelfreunden die Freude nicht nehmen. Vermutlich haben Winterfütterungen ebenfalls zur schnellen Bestandserholung beigetragen. «Wenn vorsichtig und mit Rücksicht auf die kantonalen Bestimmungen gefüttert wird , kann man in sehr strengen Wintern auch mal ein Auge zudrücken.» So geschieht es auch im Freiburger Sensegebiet. Finden die beiden Rotmilane auf der Buche nichts zu futtern, statten sie den Menschen einen Besuch ab. Die zusätzlichen Happen helfen ihnen durch den Winter – oder stärken sie für den Flug nach Spanien.