Mit viel Pomp und TV-Live-Übertragung ging das AKW Mühleberg Ende 2019 für
 immer vom Netz. Damit wurde eine neue Zeitrechnung für die Schweizer Atomenergie eingeläutet. Früher oder später werden auch die anderen vier kommerziell betriebenen Schweizer Reaktoren stillgelegt und der Müll an einem noch unbekannten Ort gelagert. 

Die Mühleberg-Betreiberin BKW entschied sich 2013 aus wirtschaftlichen Gründen für die Stilllegung. Die von der Atomaufsicht nach Fukushima geforderten Sicherheitsinvestitionen wollte sie nicht mehr tätigen. Aber statt wie verlangt 2017 abzuschalten, rang sie dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) einen Deal für den Weiterbetrieb bis 2019 ab. «Das Ensi hätte strenger mit Mühleberg sein sollen. Denn das lief auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung. Hoffentlich macht man das anderswo nicht mehr so», kritisiert André Herrmann, ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Kommission für Strahlenschutz.

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Früh planen wäre wichtig

Deals mit dem Staat sind häufig die Basis dafür, ein Atomkraftwerk stillzulegen. Teilweise gehen AKW sogar nur unter fragwürdigen Bedingungen in Rente – nicht zuletzt auf Kosten der Sicherheit und der Steuerzahler. Das zeigt eine Analyse von André Herrmann im Auftrag der Schweizerischen Energie-Stiftung.

Herrmann verglich rechtliche, administrative und soziale Aspekte rund um die Vorbereitungen zur Stilllegung von Mühleberg mit denen des grenznahen französischen Kraftwerks Fessenheim. Wie diese AKW werden in den nächsten Jahrzehnten viele Reaktoren wegen Überalterung oder aus wirtschaftlichen Gründen abgebaut. Das müsse man so weit wie möglich 
im Voraus planen, um einen effizienten und ruhigen Prozess zu gewährleisten. «Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für die sichere Durchführung», sagt Herrmann. 

Wie es nicht laufen sollte, zeigte sich beim 2020 abgeschalteten AKW Fessenheim. Das Ende des hochumstrittenen Kraftwerks verlief chaotisch. Das ist problematisch. Denn: «Rund um Fessenheim ist die Gefahr für die Bevölkerung in den ersten ein bis zwei Jahren grösser als je zuvor, weil die Brennelemente im weniger sicheren Lagerbecken abkühlen müssen.»

Superdeals im Ausland

Schon 2017 wusste Betreiberin Électricité de France (EDF), dass Fessenheim aus Kostengründen definitiv vom Netz gehen würde. Das formelle Stilllegungsgesuch hat EDF aber erst 2019 eingereicht. Das lange Zögern von EDF habe die Vorbereitungszeit drastisch verkürzt, die gesetzliche Frist konnte nicht eingehalten werden, so Herrmann. Deshalb sei man mit der Planung in Verzug geraten, die Abbaupläne seien unzureichend. Dazu kommt: EDF ist zwar mehrheitlich in staatlichem Besitz, rang dem französischen Staat aber eine Entschädigung von 400 Millionen Euro ab. Das roch nach Interessenkonflikt – weshalb sich prompt die Europäische Kommission einschaltete. 

Einen Deal der Superlative handelten auch die Betreiber der deutschen AKW aus. Nach dem Ausstiegsentscheid der deutschen Bundesregierung müssen die letzten Reaktoren 2022 vom Netz. Betreiber und Staat einigten sich auf einen Milliardenpakt: Die Betreiber zahlen selber für den Rückbau, an den Steuerzahlern bleiben sämtliche Kosten für die Entsorgung des Atommülls hängen.

Das Fernsehen war dabei: Am 20. Dezember 2019 um 12.30 Uhr wurde das AKW Mühleberg abgeschaltet.

Mühleberg wird abgeschaltet
Quelle: Screenshot SRF

Was bedeutet das für die Schweiz? Gösgen und Leibstadt sollen nach heutiger Planung noch bis 2040 und 2045 Strom liefern. Das älteste Schweizer AKW, Beznau, soll noch bis 2030 weiterlaufen. Die Betreiberin Axpo arbeitet aber schon länger unter Hochdruck an einem Stilllegungsplan für das Kraftwerk. Diese Vorbereitungen seien wichtig, um überhaupt die Erlaubnis zum Abschalten zu erhalten, erklärte das Energieunternehmen letztes Jahr. Unterdessen ist dieses Projekt abgeschlossen, so ein Axpo-Sprecher. 

Beim Ensi AKW Beznau Atombehörde behält wichtige Dokumente geheim heisst es, man habe keine Kenntnis darüber, wann die Axpo das Stilllegungsprojekt für Beznau einreichen werde. Die Aufsichtsbehörde bestätigt, dass sie mit der Axpo Fachgespräche über die Sicherheitsanforderungen während der Stilllegung führe. Die Beznau-Betreiberin hat nur schon in den letzten Jahren rund 700 Millionen in Nachrüstungen investiert. Wegen Untersuchungen am Reaktordruckbehälter stand die Anlage zudem zwischen 2015 und 2018 still. Die nach Fukushima geforderte unabhängige Kühlung ist aber noch immer nicht fertiggestellt. 

Es könnte aber noch dicker kommen: Das Ensi akzeptierte den 2018 eingereichten Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb von Beznau nicht und prüft derzeit die nachgereichten Unterlagen. Ihre Stellungnahme werde voraussichtlich Ende 2021 fertiggestellt sein, heisst es bei der Atomaufsicht. 

Kompromisse kontra Sicherheit

Ob teure Nachrüstungsforderungen zu einem früheren Abschalttermin führen würden, sagt die Axpo nicht. Aber: «Allfällige Forderungen der Behörde nach Nachrüstungen werden selbstverständlich in die Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit miteinbezogen.»

AKW-Betreiber zahlen zwar in den Stilllegungs- und Entsorgungsfonds Atomkraftwerke Buebetrickli der AKW-Lobby für die Zeit nach dem kommerziellen Betrieb ein. «Die Kosten für die rund vierjährige Nachbetriebsphase müssen sie aber aus der eigenen Kasse berappen. Auch deshalb hat Mühleberg wohl den späteren Termin ausgehandelt, damit die Rentabilität knapp passt», sagt
 Simon Banholzer, Atomexperte bei der Schweizerischen Energie-Stiftung. Ähnliche Überlegungen werde sich wohl auch die Axpo machen. Für Banholzer ist klar: «Beznau ist für die Stromversorgung zu wenig wichtig, als dass die Behörden die offenen Sicherheitsfragen noch lange ignorieren könnten.»

Wegen der Besitzstruktur sei der Stilllegungsentscheid bei den jüngeren AKW Gösgen und Leibstadt noch komplexer. «Die Wahrscheinlichkeit, dass eine staatliche Lösung mit Entschädigungen oder Kompromissen auf Kosten der Sicherheit zum Thema wird, ist dort viel grösser. Vor allem wenn sich die
Besitzer nicht einigen können», sagt Banholzer. BKW und Axpo besitzen Mühleberg respektive Beznau zu 100 Prozent, können die Entscheidung also selber treffen. An Leibstadt sind aber neben Axpo und Alpiq auch CKW, BKW und AEW beteiligt. An Gösgen Alpiq, Axpo, CKW, EWB und die Stadt Zürich mit 15 Prozent. Da viele Energieunternehmen den Kantonen gehören, ist die öffentliche Hand stark involviert. 

Ein wichtiger Punkt, sagt André Herrmann. Bezüglich Interessenkonflikten sei die Situation in der Schweiz sehr ähnlich wie in Frankreich. Die an der Axpo beteiligten Kantone Zürich, Aargau, St. Gallen, Schaffhausen, Glarus und Zug versuchen derzeit gemäss NZZ, sich aus dem kriselnden Energiekonzern zu verabschieden. «Als Aktionäre dürfen sie sich selbst und ihre wirtschaftlichen Interessen nicht sabotieren», sagt Herrmann. «Aber sie sind als Kantone ihren Steuerzahlerinnen und Bewohnern verpflichtet. Eine diffizile Situation.»

Zürich im Clinch

Gerade die Stadt Zürich hat ein systemisches Problem: Die Bevölkerung hat sich an der Urne für einen vollständigen Atomausstieg bis 2034 ausgesprochen. Die Stadt muss deshalb ihre Beteiligungen loswerden. Das gestaltet sich aber schwierig. «Die Aktionäre der öffentlichen Hand tun alles, um die Verantwortung wegzuschieben. Sie haben über Jahrzehnte Dividenden eingestrichen», sagt Kaspar Müller, Experte für AKW-Finanzen. «Jetzt müssten die Verwaltungsräte, also die Kantonsvertreter, als Verursacher hinstehen, die Abschaltung der defizitären AKW erwirken und deutlich sagen: Das Problem geht nicht einfach weg, deshalb brauchen wir noch einmal viele zusätzliche finanzielle Mittel, sprich Eigenkapital, damit wir die Abschaltung und Entsorgung eigenverantwortlich lösen können.» 

Ein neues Positionspapier zeigt, welche Strategie die AKW-Betreiber verfolgen. Sie fordern von der Politik Rückhalt für den Langzeitbetrieb ihrer Anlagen. Alle Vorstösse, die eine «vorzeitige Abschaltung» bezwecken, seien abzulehnen. Und Sicherheitsauflagen sollen den wirtschaftlichen Betrieb von AKW nicht ohne Sicherheitsgewinn erschweren.

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Tina Berg, Redaktorin
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