Auf dem Hügel über der Stadt Winterthur ist es fast unheimlich still. Eine schmale Strasse windet sich den Hügel hinauf, vorbei an alten Villen, die von hohen Bäumen umgeben sind. Im Park ist ein einsamer Spaziergänger mit seinem Hund unterwegs. Das Haus mit der Nummer 24 hat zwei Eingänge, wir klingeln beim zweiten Türschild. Eine jüngere, schwarzhaarige Frau öffnet die Tür. «Peter Stamm? Der ist gerade um die Ecke», sagt sie und deutet nach links, zu einem Anbau.

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Die Tür zum Atelier, das vormals als Garage gedient hatte, steht weit offen. Stamm sitzt beim Eingang und raucht eine Zigarette. «Sie sind fünf Minuten zu früh», sagt er und lächelt. Er hat eine Kanne Kräutertee aufgebrüht, schenkt zwei Tassen ein, räumt Bücher und Papierkram vom Sofa, um Platz für den Besuch zu schaffen, und setzt sich auf einen Hocker. Dann konzentriert er sich, sein Gesichtsausdruck wird ernst. Die Stimme klingt weich und melodiös, der Thurgauer Dialekt verleiht dem grossgewachsenen Mann mit den blaugrauen, beinahe stechenden Augen etwas Kindliches.

BeobachterNatur: Sie haben es sehr ruhig hier zum Arbeiten, man hört nur Vogelgezwitscher.
Peter Stamm: Ja, die Vögel, die machen oft einen unglaublichen Radau am Morgen, es ist fast schon wie im Zoo.

BeobachterNatur: Sie leben im Grünen, in der Nähe einer Stadt, die als «grün» gilt. Ihre Bücher, die meist in Städten spielen, lassen eher auf einen urbanen Menschen schliessen. Was hat Sie eigentlich hierher verschlagen?
Stamm: Ich habe längere Zeit in Grossstädten gelebt: in New York, London, Paris und Berlin – und zuletzt in Zürich. Ich habe das städtische Kulturangebot sehr genossen. Aber als wir die Kinder bekamen, sind wir hierhergezogen. Wir dachten, es wäre schön, wenn die Kinder mehr Grün um sich herum hätten. Es war ein Riesenglück, dieses Haus mit Garten zu finden.

BeobachterNatur: Es gibt diese Stelle in Ihrem neusten Roman «Sieben Jahre», wo die Hauptfigur Alex gärtnert. Sind Sie das?
Stamm: Ja, die Stelle ist autobiographisch – übrigens die einzige im Buch (lacht). Dass Tomaten die Krautfäule kriegen wie im Buch, das war auch bei mir so. Ich probiere es jedes Jahr, und jedes Jahr kriegen sie die Fäule wieder. Es ist ein Elend.

BeobachterNatur: Das Gärtnern nimmt offensichtlich einen grossen Raum in Ihrem Leben ein. Woher kommt diese Lust am Werken im Grünen?
Stamm: Ich bin erblich vorbelastet. Mein Urgrossvater väterlicherseits und mein Grossvater mütterlicherseits waren Gärtner, mein Vater war Hobbygärtner und Hobbybotaniker. Als Kinder haben ich und meine drei Geschwister oft Blumen bestimmt. Ich kannte 15 Enziansorten mit ihrem botanischen Namen.

BeobachterNatur: Ein Naturforscher? Irgendwie gibt man Ihnen den Naturburschen gar nicht.
Stamm: Doch, doch, das dürfen Sie ruhig glauben. Das Draussensein hat mich stark geprägt. Wir waren immer draussen, verschwanden ganze Nachmittage lang im Wald. Heute haben Spaziergänge im Wald eine andere Bedeutung bekommen; manche sind Teil der Arbeit. Wenn ich in einem Text weiterkommen will, schaue ich nicht links und nicht rechts. Es ist dann der Rhythmus, der zählt, die Schritte, die das Denken in Bewegung bringen. Fast schon eine meditative Angelegenheit. Das Schreiben ist auch eine Art Forschungsarbeit. Ich versuche, etwas über die Welt herauszufinden. Ich will wissen, wie die Welt um mich herum funktioniert.

BeobachterNatur: Aber die Natur, die schweizerische Landschaft, spielt in den Texten des Naturfreunds Peter Stamm kaum eine Rolle. Warum eigentlich nicht?
Stamm: Die Schweiz bietet eine unglaubliche landschaftliche Vielfalt – doch diese ist fast zu Tode genutzt. Mein allererster Roman, der nie publiziert wurde, hat in Soglio im Bergell gespielt. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich keine Ahnung davon habe, wie es ist, in den Bergen zu leben. Heute wähle ich in meinen Romanen die Landschaften so aus, dass sie über die Beschreibung hinaus noch etwas vermitteln, Atmosphäre schaffen.

BeobachterNatur: Die Themen, über die Sie schreiben, sind universell: Liebe, Glück, Tod. Ihre Geschichten spielen auf der halben Welt. Sehen Sie sich überhaupt als Schweizer Schriftsteller?
Stamm: Was ist ein Schweizer Schriftsteller? Ein Schriftsteller aus der Schweiz? Das bin ich natürlich. Aber ich achte zum Beispiel darauf, dass ich keine Helvetismen, keine schweizerischen Wörter benutze, weil sie einfach nicht hineinpassen in ein Buch, das in Norwegen oder in Paris spielt. Ich wollte nie als Nationalschriftsteller gehandelt werden.

BeobachterNatur: Dennoch halten Sie als Schweizer Schriftsteller Ansprachen zum 1. August. In einer Rede sagten Sie einmal, «dass wir verantwortlich sind für die Schweiz, dass wir auf sie aufpassen, uns um sie kümmern müssen». Können Sie etwas konkreter ausführen, was Sie damit meinen?
Stamm: Das fängt damit an, dass man ein Bonbonpapierchen nicht einfach auf den Boden wirft Klar kann man sagen, es komme auf dieses Papierchen nicht an. Aber ich glaube, es ist eine Haltung, die sich darin ausdrückt. Das Bewusstsein für die Umwelt beginnt im Kleinen.

BeobachterNatur: Heute gehört der Umweltschutz in öffentlichen Ansprachen zum guten Ton, Nachhaltigkeit ist zum Schlagwort geworden.
Stamm: Es ist tatsächlich seltsam, dass die gleichen Leute, die vor 25 Jahren behaupteten, Umweltschutz sei kein Thema, heute so tun, als ob sie ihn erfunden hätten.

BeobachterNatur: Und wie steht es denn mit Ihnen?
Stamm: Ich war schon grün, bevor es die Grünen gegeben hat (lacht).

BeobachterNatur: Das müssen Sie uns erklären.
Stamm: Nun ja, wir sind schon so erzogen worden. Dass man Rücksicht auf die Natur nimmt, dass man Dinge nicht einfach so wegwirft. Als Kinder haben wir den an der Barriere wartenden Autos Zettel verteilt mit der Aufforderung «Bitte den Motor abstellen». Die Umwelt war schon für uns Kinder ein Thema, und ich war als Bub WWF-Mitglied.

«Mir gefällt der Gedanke, dass ich mit Wasser dusche, das von der Sonne erwärmt wurde.»

Quelle: Ursula Meisser

BeobachterNatur: Heute sind Sie Mitglied der Grünen und unterstützen die Entwicklungsorganisation «Erklärung von Bern». Was hat Sie politisiert?
Stamm: Als 20-Jähriger wurde ich Mitglied einer freien Liste, die gegen eine Umfahrungsstrasse gekämpft hat. Irgendwann hat sich die Liste den Grünen angeschlossen, wie an vielen Orten. Ich bin in der Partei nicht aktiv, aber ich lasse mich bei den Zürcher Grünen auf alle Wahllisten setzen.

BeobachterNatur: Würden Sie eine Wahl auch annehmen?
Stamm: Nein. 90 Prozent aller Leute sind ja nicht auf der Liste, um gewählt zu werden, sondern um die Partei zu unterstützen. Ich hätte einmal nachrutschen können im Gemeinderat, habe dann aber verzichtet, auch aus Bescheidenheit. Derjenige, der nach mir kam, hatte sich politisch sehr verdient gemacht. Ich fand, dass es absurd wäre, einfach so hineinzurutschen, nur weil ich einen Namen als Schriftsteller habe.

BeobachterNatur: Aber als Grüner, dessen Name auf Wahllisten kursiert, müssten Sie sich doch in die umweltpolitische Debatte einmischen?
Stamm: Ja, natürlich. Ich schreibe auch immer mal wieder eine Kolumne zu grünen Themen. Aber grosse Parolen sind nicht meine Sache. Ich will den Leuten die Botschaft nicht mit dem Hammer eintrichtern. Das bringt ja auch nichts. Dazu kommt, dass das, was ich von Schriftstellern zu aktuellen Debatten lese, selten fundiert oder interessant ist. In die Umweltdebatte kann sich theoretisch jeder einbringen, weil es da um Werte geht. Das andere ist eine technische Debatte, in der die Wissenschaftler kompetenter sind als ich. Ich setze lieber auf Selbstverantwortung.

BeobachterNatur: Das ist ein grosses Wort. Lassen Sie uns den Test machen: Haben Sie eine Ahnung, wie gross Ihr CO2-Fussabdruck ist?
Stamm: Ich habe ihn einmal ermittelt. Er ist wesentlich kleiner als beim Durchschnittsschweizer. Wir sparen, wo immer es möglich ist: beim Wasser, beim Strom, bei der Heizung. Wir fahren wenig Auto und trennen den Müll. Wir essen relativ wenig Fleisch und kaufen saisonale Produkte aus der Region. Wobei es beim Einkaufen schon schwierig wird. Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass Rosen aus Afrika eine bessere Ökobilanz haben als jene aus holländischen Gewächshäusern. Es ist immer ein Lavieren. Einen Nobelpreis für grüne Taten werde ich wohl nie erhalten, dazu sind sie zu bescheiden.

BeobachterNatur: Immerhin haben Sie Sonnenkollektoren auf Ihrem Hausdach.
Stamm: Ja, seit diesem Jahr. Aber die Sanierungsmöglichkeiten bei unserem Haus sind beschränkt, weil der Denkmalschutz mitredet. Sonnenkollektoren retten die Welt nicht, aber mir gefällt die Vorstellung, dass ich mit Wasser dusche, das von der Sonne erwärmt wurde.

BeobachterNatur: Die Hauptfigur in Ihrem Roman «Sieben Jahre» gehört als Architekt einer Berufsgattung an, die für den Umgang mit Ressourcen eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielt. Was sind Ihre Erwartungen an diese Zunft?
Stamm: Dass Architekten mehr Rücksicht nehmen auf die Landschaft. Und von den Bauherren erwarte ich, dass sie in bessere Architektur investieren. Die Zersiedelung ist ein virulentes Problem. In Weinfelden haben wir vor 20 Jahren gegen die Erweiterung der Industriezone gekämpft. Heute ist alles verbaut. Neuerdings steht da auch ein 40 000 Quadratmeter grosses Lidl-Verteilzentrum, eine gigantische Halle, und das mitten auf der grünen Wiese. Die meisten dieser Industriegebäude sind billig gebaut und ohne jeglichen ästhetischen Anspruch. Dann malt man das Ganze noch lila oder rot an, damit es auch möglichst grell leuchtet. Eine Katastrophe. Das Gefühl für das Gesamterscheinungsbild eines Dorfes scheint es heute nicht mehr zu geben. Bald hat es in jeder Fussgängerzone nur noch diese Ketten, die überall gleich aussehen. Oder man hat eine Einkaufs-Mall und darum herum nur noch Wüste, Ödland.

BeobachterNatur: Jetzt tönen Sie wie ein Weltverbesserer.
Stamm: Um eine bessere Welt geht es in erster Linie gar nicht. Wir haben akute Probleme wie die Klimaveränderung, die wir stoppen müssen. Mit 20 hatte ich vielleicht das Bild einer idealen Welt, in der alle dieselben Ziele hatten und an das Gleiche glaubten. Aber es nützt nichts, auf die ideale Welt zu warten. Dann geschieht gar nichts. Inzwischen bin ich ganz froh, dass es eine Vielfalt von Meinungen gibt. Aber das ändert nichts daran, dass wir zusammen einen Weg finden müssen. Die Welt wird zwar jeden Tag von ganz vielen Menschen verbessert, aber leider auch von vielen verschlechtert.

BeobachterNatur: Das klingt sehr pessimistisch. Sehen Sie auch positive Veränderungen?
Stamm: Natürlich! Die Schweiz ist heute viel weltoffener als noch vor 20 Jahren. Wenn man bedenkt, dass in den siebziger Jahren das Konkubinat noch verboten war und heute die Schwulenehe möglich ist! Auch im Umweltschutz wurde sehr viel erreicht. Als ich ein Kind war, durfte man in der Thur nicht baden, heute ist der Fluss sauber. Aber es gibt noch viel zu tun.

Peter Stamm wurde 1963 im thurgauischen Weinfelden geboren. Er studierte in Zürich einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie, arbeitete danach in verschiedenen Berufen, unter anderem in Paris und New York. Seit 1990 ist er Journalist und freier Autor. 1998 veröffentlichte er seinen fulminanten Debütroman «Agnes». Diesen Herbst erschien sein vierter Roman: «Sieben Jahre» handelt von einer Dreiecksbeziehung zwischen einem Mann und zwei Frauen – und von der Frage, ob jemand, der liebt, glücklicher ist als jemand, der geliebt wird. Liebe, Leben, Glück, Sterben und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind die Themen in Stamms Romanen und Erzählungen. Der Autor lebt mit seiner Freundin und den zwei gemeinsamen Söhnen (vier- und siebenjährig) in Winterthur.