Stromüberfluss: Eine Fehlplanung kostet die SBB Millionen
Die SBB produzieren doppelt so viel Strom, wie sie brauchen: Folge einer gewaltigen Fehlspekulation. Jetzt wird nach Auswegen gesucht – etwa in Uri, wo eben noch Millionen in ein Wasserkraftwerk investiert wurden.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Ein schattiger Flecken Erde – gebirgig, wild und karg. Erst nachmittags scheint die Sonne für kurze Zeit ins Tal. 440 Leute leben in Amsteg UR.
Wichtigster Arbeitgeber ist das Zeughaus, zweitgrösster das Kraftwerk Amsteg (Bild). Hier wird die Wasserkraft der Reuss in Elektrizität umgewandelt – in Bahnstrom für die SBB. 24 Leute arbeiten im SBB-eigenen Kraftwerk, 22 Männer und zwei Frauen. Gute und sichere Arbeitsplätze seien es, sagt Gemeindeschreiber Sepp Zurfluh.
Das Kraftwerk liegt beim Dorfausgang – ein herrschaftlicher Bau, vollständig erneuert und technisch topfit. Insgesamt sind 460 Millionen Franken investiert worden. Eine stolze Summe – und ein stolzes Bauwerk, das nun Vereinen, Studierenden oder Schulklassen gern vorgeführt wird.
Zum Beispiel die 80 Meter lange und 30 Meter hohe Maschinenhalle im Inneren des Bristenstocks. Oder der Raum, in dem «Trudi» und ihre zwei Kolleginnen zu besichtigen sind: drei Maschinen, die zusammen pro Jahr 460 Millionen Kilowattstunden Energie produzieren.
Doch das technische Wunderwerk hat bereits erste Risse. Angekündigt hatten sie sich bereits in einer Hochglanzbroschüre zur Kraftwerk-Erneuerung: «Die europaweit eingeleitete Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes und die Produktionsüberschüsse haben zu einem Preisverfall geführt, welcher Investitionen in kapitalintensive Wasserkraftwerke kaum mehr amortisieren lässt», schrieb Pierre-Alain Urech, SBB-Generaldirektor und Verwaltungsratspräsident der Kraftwerk Amsteg AG. Und: «Aus betriebswirtschaftlicher Sicht dürfte das Kraftwerk Amsteg eines der letzten grösseren Wasserkraftwerke in unserem Land sein, die grundlegend erneuert werden.»
Zu optimistische Schätzungen
Inzwischen hat sich die Situation weiter verschärft. Der Grund: Die SBB haben sich verspekuliert. Sie haben im Hinblick auf Huckepackkorridore, Neat und die Bahn 2000 langfristige Strombezugsrechte an den Kernkraftwerken der Electricite de France erworben. Dabei gingen sie jedoch von allzu optimistischen Schätzungen aus. Und die geplante Strommarktliberalisierung macht das Energiedebakel perfekt.
Zwei Milliarden Kilowattstunden Strom verbrauchen die SBB pro Jahr, vier Milliarden stehen ihnen zur Verfügung. «Das heisst, dass wir die Hälfte auf dem Billigpreismarkt zwischen zwei und 4,5 Rappen pro Kilowattstunde verkaufen müssen», sagt Thomas Erb von der SBB-Energie.
Eingekauft wird der Strom aber teurer, die Produktionskosten in den SBB-eigenen Kraftwerken liegen ebenfalls höher. Die Folge: Es wird ein jährlicher Verlust von 40 bis 80 Millionen Franken eingefahren.
Angst vor Jobverlust
Nun suchen die SBB fieberhaft nach einem Ausweg aus der Strommisere. Zurzeit würden verschiedene Szenarien diskutiert, sagt Thomas Erb. Man könne zum Beispiel die Effizienz der Kraftwerke steigern – oder bestimmte Bereiche abstossen und aus bestehenden Verträgen aussteigen. Ein Geschäft allerdings, das in Zeiten der Strommarktöffnung wohl nicht einfach und schon gar nicht ohne Verluste zu realisieren ist. Variante drei schliesslich sieht vor, den gesamten SBB-Energiebereich abzustossen und den Strom auf dem freien Energiemarkt einzukaufen.
Die ungewisse Zukunft belastet die Direktbetroffenen. Sie fürchten um ihre Jobs – auch in Amsteg, wo Peter Indergand in der Uberwachungszentrale des Kraftwerks arbeitet. Er ist seit 35 Jahren hier tätig, «schichtelt», wie er sagt. Ein Urner, der sich nichts anderes vorstellen kann, als von vier bis zwölf Uhr, von zwölf bis zwanzig Uhr oder von zwanzig bis vier Uhr zu arbeiten – sieben Tage pro Woche, weil die Computeranlage rund um die Uhr überwacht sein muss.
Der 58-Jährige hat mit dem technischen Fortschritt mitgehalten. Das Kraftwerk Amsteg ist in all den Jahren zu «seinem» Betrieb geworden. Doch wie soll es nun weitergehen?
SBB-Energiespezialist Thomas Erb versucht zu beruhigen. Die Bahn fahre ja auch künftig mit speziellem Strom, wie er im Kraftwerk Amsteg produziert wird – und das Kraftwerk werde weiterhin betrieben. Die Angestellten müssten sich deshalb keine Sorgen machen.
Doch bereits steht eine erste Rationalisierung bevor. Derzeit werden in Amsteg sämtliche Bahnstromversorgungsanlagen entlang der Gotthardlinie fernbedient – doch jetzt sollen alle Sektorleitstellen in Zollikofen BE zentralisiert werden. Damit reduziert sich der Personalbestand in Amsteg um weitere fünf Personen.
SBB-Führung beschwichtigt
Thomas Erb spricht von Sozialplan – und davon, dass die Leute nicht entlassen, sondern frühpensioniert, SBB-intern umgeteilt oder umgeschult würden. Doch für manchen alteingesessenen Urner dürfte es nicht einfach sein, eine Stelle in Zollikofen, in Bern oder sonstwo in der Schweiz anzunehmen.
Bis im Sommer wollen die SBB entschieden haben. Ginge es nach dem Amsteger Kraftwerkmeister Roger Oggier, würde «der Unterhalt optimiert, der Personalbestand überprüft». In Bezug auf die Amortisationskosten für das teure Werk ist er hingegen machtlos. Sie aber verteuern den Strom des Kraftwerks Amsteg massiv. Zehn Rappen betragen die Gestehungskosten, rund 70 Prozent davon sind reine Kapitalkosten.
Zu teuer? Nicht für den Urner SP-Landrat Reto Gamma. Er plädiert für eine Mischrechnung. Die Region Amsteg/Wassen/Göschenen müsse als Einheit betrachtet werden, sagt er. Denn: In den Kraftwerken in Göschenen und Wassen liegen die Gestehungskosten bei 4,6 respektive 4,7 Rappen pro Kilowattstunde – und auch an diesen Werken sind die SBB beteiligt.
Gammas Idee: Die Alpenregion profiliert sich als Produzentin von sauberem Strom; die Wasserenergie versucht sich als «Ökostrom» auf dem liberalisierten Markt zu behaupten. Gamma: «Wir müssen eine Kundschaft finden, die bereit ist, für "saubere Energie"auch ein wenig mehr zu bezahlen.» Deshalb ist Gamma froh, dass die SBB «in Amsteg noch zur rechten Zeit investiert haben».
Derweil wollen die SBB verhandeln. Zum Beispiel mit dem Kanton Uri. Ein Teil der Kosten im Kraftwerk Amsteg sei nämlich «staatsgemacht», sagt SBB-Mann Thomas Erb. Er spricht damit den Wasserzins an, aber auch die Konzessionsabgaben, die dem Kanton Uri zugute kommen.
Doch für Anton Stadelmann, Urner Baudirektor und Mitglied des Verwaltungsrats der Kraftwerk Amsteg AG, sind solche Uberlegungen «eine Frechheit». Der Wasserzins von 1,2 Rappen pro Kilowattstunde könne Amsteg auch nicht retten, sagt er. Die SBB zahlen ausserdem keine Steuern an den Kanton, sondern lediglich eine Steuerausfallentschädigung.
Die Angestellten sind skeptisch
Für Anton Stadelmann ist klar: «Man darf die Fehlbeurteilungen der SBB nicht einfach dem Kraftwerk Amsteg anlasten.» Schliesslich hätten die SBB die falschen Verträge abgeschlossen, die ganze Entwicklung falsch eingeschätzt.
Bleibt nur zu hoffen, dass die SBB im Sommer richtig entscheiden. Doch in Amsteg bleibt man skeptisch. Peter Indergand, der langjährige Operateur in der Zentrale des Kraftwerks Amsteg, hat jedenfalls wenig Hoffnungen: «Lange werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein.»