Die Städter kommen auf den Vogel
Hochgereckte Feldstecher sieht man jetzt auch in urbanen Zentren. Vogelfans erzielen hier manchmal eine grössere Ausbeute als auf dem Land.
Veröffentlicht am 29. März 2019 - 12:49 Uhr,
aktualisiert am 26. März 2019 - 11:30 Uhr
Seht ihr den Buchfink in der Baumkrone?» Zwanzig Feldstecher bewegen sich synchron in die Höhe. Und schon beginnt der Vogel zu singen. «Zi zi zizi wili wili zirzia», klingt es aus der noch nackten Linde. Einen Moment später fliegt der Buchfink mit einem «Pink, pink» davon. «Sein Alarmruf», sagt die Feldornithologin Ruth Grünenfelder.
Seit rund drei Jahren bietet sie Vogelführungen im städtischen Gebiet an. Damit trifft sie den Zeitgeist. Urban Birding nennt sich das Phänomen. Man muss nicht an einen Vogel-Hotspot reisen, die Entdeckungstour beginnt gleich vor der Haustür.
An diesem regnerischen Samstagmorgen haben sich ihr kleine und grosse Vogelinteressierte angeschlossen. Sie sind auf Exkursion in Zürich-Albisrieden. Es ist kurz nach sieben Uhr, die Anwesenden, in Wanderschuhen und Funktionskleidung, wirken frisch.
Kurz zuvor waren ihre Ohren noch voller Stadtgeräusche: das quietschende Tram, das Geläut der Kirchenglocken, der Signalton der Uetlibergbahn. Nun haben sie sich in den Ort «eingeschwungen», wie es Grünenfelder nennt. «Um Vögel zu hören und zu sehen, muss man Teil der Stille werden.»
Plötzlich sieht man das Wohnquartier mit anderen Augen. Türkentauben steigen auf und lassen sich wieder fallen, Grünfinken hüpfen von Zweig zu Zweig, Stare fliegen zwitschernd im Schwarm über die Dächer. Der neunjährige Merlin entdeckt auf einem Kamin eine Rabenkrähe und guckt strahlend durch den Feldstecher. «Das ist ja lustig, dass der dort oben sitzt.»
Ruth Grünenfelder erkennt eine Singdrossel an ihrem Gesang, zückt das Fotoalbum und zeigt ihr Bild herum. Gleich darauf erklingt aus dem Gebüsch der Gesang eines Zaunkönigs. Sie hebt den Zeigfinger und mahnt zu Aufmerksamkeit. «Hört ihr sein Trillern?»
Grünenfelders Exkursionen sind stets gut gebucht. Mit dabei sind nicht nur Leute aus der Hans-A.-Traber-Generation. In den sechziger und siebziger Jahren hatte der Naturforscher Heerscharen von Anhängern, seine Schallplatten «So singen unsere Vögel» waren Bestseller. Heute sind es junge Familien, Kolleginnen im mittleren Alter und auch ein paar ältere Jahrgänge, die sich für das Birding begeistern.
Abschalten und Eintauchen in die Natur ist gefragt, möglichst mit Mehrwert. «Beim Beobachten von Vögeln ist das Erfolgserlebnis inklusive. Denn irgendeinen Vogel sieht man immer», sagt Grünenfelder. Es sei wohl die Sehnsucht nach wirklichen Begegnungen in der Natur, die im digitalen Zeitalter mehr Bedeutung erhalte, sagt die Feldornithologin, die unter dem sinnigen Namen Gimpel.ch auch als Tänzerin und Ritualgestalterin auftritt.
Warum so viele an Vogelexkursionen teilnehmen, hat unterschiedliche Gründe. Bei Merlins Familie war es die Tatsache, dass der Sohn in der Schule gerade das Thema Vögel behandelt. «Sonst sind wir nicht so oft in der Natur, eher in Museen», sagt seine Mutter. «Eine solche Exkursion gibt schon einen anderen Bezug zur Umwelt.» Die zwei Lehrerinnen, die an diesem Morgen dabei sind, wollen ihre Vogelkenntnisse auffrischen. Beide besuchten schon Weiterbildungskurse in Ornithologie. «Nun repetieren wir, was wir gelernt haben.» Je mehr man wisse, umso besser höre und sehe man die Vögel.
Mit ihrem Hobby sind die Birdwatcher in bester Gesellschaft. Der Musiker Paul McCartney gilt als passionierter Vogelfan, ebenso Prinz Philip, der Ehemann von Queen Elizabeth II., oder der preisgekrönte amerikanische Autor Jonathan Franzen. Kürzlich erklärte Franzen in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», das Schreiben habe durchaus Parallelen zum Beobachten der Vögel: «Das Warten auf den richtigen Moment, die Aufmerksamkeit für Details.»
Genau das hat auch ein paar Albisrieder an die Exkursion gelockt, darunter einen 53-Jährigen, für den das Birding zum Hobby geworden ist. «Ich wollte wissen, welche Vögel in meinem Quartier leben», erklärt er. Man lerne, die Umgebung viel achtsamer zu sehen, bewege sich mehr und sei zu anderen Zeiten unterwegs. «Ohne Feldstecher gehe ich eigentlich gar nicht mehr aus dem Haus.»
«Beim Beobachten von Vögeln ist das Erfolgserlebnis inklusive. Irgendeinen sieht man immer.»
Ruth Grünenfelder, Feldornithologin
Ein Trendsetter ist David Lindo aus England, der eigentlichen Wiege des Vogelbeobachtens. Auf der Insel zählt die Royal Society of Birds über eine Million Mitglieder. Lindo nennt sich «The Urban Birder», seit er vor mehr als zehn Jahren auf BBC erstmals als Experte für Stadtvögel auftrat. Er hat sein Hobby zum Beruf gemacht, Urban Birding ist seine Mission. In seinem Buch «#Urban Birding» erzählt er informativ und mit viel Ironie von Begegnungen mit Vögeln und Menschen.
«Schaut nach oben» lautet sein Motto – und nicht ständig auf das Mobiltelefon! «Vögel beobachten bringt uns wieder näher zur Natur, es hat auch etwas Meditatives», schreibt er. Für Lindo ist Urban Birding Teil einer Lebensphilosophie, die so wunderbar entspanne, dass man dabei eine Art Zen-Zustand erreiche.
Inzwischen sind die Zürcher Vogelbeobachter Richtung Schrebergärten und Wald weitergezogen. «Ein interessantes und wertvolles Übergangsgebiet, hier treffen sich Stadt- und Waldvögel», sagt Ruth Grünenfelder und erzählt allerhand Details. Dass die Stare andere Vogelstimmen imitieren können, ein Eichelhäher 4357 Federn hat und wann welche Vögel aus dem Süden zurückkehren. «Und warum singen die Vögel eigentlich?», will der kleine Merlin wissen. Auch darauf weiss die Feldornithologin eine Antwort. «Der Gesang ist rein zweckgebunden. Er dient zur Abgrenzung des Reviers und zum Balzen.»
Über das grosse Interesse an der Vogelwelt freut sich auch Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Man könne in der Tat von einem «Ornitho-Boom» sprechen. Dabei übernehmen die neuen Medien eine wichtige Rolle. «Wer ein tolles Foto schiesst oder einen besonders seltenen Vogel entdeckt hat, kann das sofort in speziellen Foren posten.» Moderne Vogelfreunde sind gut vernetzt, viele engagieren sich und leisten freiwillig Arbeit, etwa beim Monitoring, wo Sichtungen rapportiert werden. Rund 2000 Leute helfen der Vogelwarte bei der Datenerhebung.
Auf Ornitho.ch, der Beobachtungsplattform der Vogelwarte, sind rund 17000 Vogelbeobachter eingetragen. Dort melden sie, wo sie wann welche Vögel gesehen haben – und werden damit sozusagen zu wissenschaftlichen Mitarbeitern. Nur dank der vielen Freiwilligen konnte die Vogelwarte Ende letzten Jahres den neuen «Schweizer Brutvogelatlas 2013–2016» herausgeben. «Ohne sie wäre dieses grösste je durchgeführte feldornithologische Projekt nicht möglich gewesen», sagt Livio Rey.
Birdwatching ist auch deshalb so populär, weil Vögel auffällig und einfach zu beobachten sind, meint Rey. «Es lehrt uns auch, genau hinzuschauen, Geduld zu haben – und früh aufzustehen.»
Das wachsende Engagement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es den Vögeln in der Schweiz nicht gut geht. 40 Prozent der Vogelarten sind bedroht, weitere 16 Prozent potenziell gefährdet. Schuld sei vor allem die Entwässerung vieler Feuchtgebiete und die intensive Nutzung durch die Landwirtschaft, sagt Spezialist Rey.
Dieses Problem haben die gefiederten Bewohner in Albisrieden nicht. Es behagt ihnen in den Bäumen und Hecken zwischen den Wohnhäusern, auch wenn es für sie auch hier enger wird und viele Katzen auf der Lauer sind. Den Hausspatzen etwa fehlen Nistplätze in Neubauten.
Die Gruppe ist schon fast zwei Stunden unterwegs, die Vögel zeigen sich weiterhin sehr singfreudig. Ruth Grünenfelder will den Teilnehmern noch einen abgestorbenen Baum zeigen, der voller Löcher unterschiedlicher Grösse ist. «Ein sogenannter Flötenbaum. Er dient Spechten und Kleibern zum Nisten.» Noch sind sie nicht eingezogen. Aber das mag die Teilnehmer nicht betrüben. Sie haben bereits mehr als 20 Vogelarten gehört oder gesehen. Jeder Vogel sei wie ein Geschenk, sagt Ruth Grünenfelder. «Beim Beobachten weiss man eben nie, was man zu sehen bekommt.»
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Buchtipp
David Lindo: «#Urban Birding»; Verlag Kosmos, 2018, 368 Seiten, Fr. 22.30