Einsicht in die Familienakten? Fehlanzeige!
Eine Freiburger Gemeinde verteilt sieben Kinder an Bauern – und verweigert der Familie seit 25 Jahren Zugang zu ihren Akten.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2016 - 09:11 Uhr
Der Onkel war über 80, als er die Geschichte zum ersten Mal erzählte. Er schlotterte dabei.
An einem Sonntag im Sommer 1936 mussten sich die sieben Kinder des Emil Neuhaus nach der Predigt vor der Kirche Oberschrot FR aufreihen. Der Pfarrer, der Gemeindeammann und der für die Armengenössigen zuständige Gemeinderat begutachteten die Kinder vor den Augen der Bevölkerung – und verteilten sie an Bauern. Der Onkel, damals neun, klein und schmächtig, hörte, wie ein Behördenmitglied sagte: «Was tun wir jetzt mit ihm? Totschlagen können wir ihn ja wohl nicht.»
Eines der Kinder vor der Kirche war Zita Neuhaus’ Vater. Er sprach zeit seines Lebens nicht über seine Vergangenheit als Verdingkind. Erst nach dem Tod des Vaters erzählten der Onkel und die heute 87-jährige Tante Nathalie Donzallaz die Geschichte ihrer Familie: Die Grossmutter war im Wochenbett gestorben, der Grossvater war mit den sieben Kindern überfordert. Schliesslich wurde die Familie «aufgelöst», wie es im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 28. Juni 1936 heisst.
«Was tun wir jetzt mit dem Kind? Totschlagen können wir es ja nicht.»
ein Behördenmitglied von Oberschrot FR
Es ist erschütternd, was die Kinder in den neuen Familien über sich ergehen lassen müssen. Die Jahre sind geprägt von Ausgrenzung, Gewalt, sexuellem Missbrauch. Zita Neuhaus versuchte gemeinsam mit der letzten noch lebenden Schwester ihres Vaters, die Geschichte aufzuarbeiten. Doch seit 25 Jahren stösst sie bei der Gemeindebehörde auf Granit. Hartnäckig verwehrt man ihr die Einsicht in die Familienakten. «Bis heute verhält sich die Gemeinde wie damals. Es ist, als hätte es unsere Familie nie gegeben», sagt Zita Neuhaus.
Aus Gesprächen mit der Tante und dem inzwischen verstorbenen Onkel konnte Zita Neuhaus ihre Familiengeschichte zumindest in groben Zügen rekonstruieren. Doch wichtige Fragen bleiben bis heute unbeantwortet. Was unternahm die Gemeinde damals konkret für die Familie? Weshalb verdingte man die sieben Kinder Ende Juni 1936, obschon es zuvor geheissen hatte, man wolle noch zuwarten?
Als Zita Neuhaus 1992 zum ersten Mal an die Gemeinde gelangte, teilte man ihr salopp mit, über ihre Familie gebe es gar keine Dokumente mehr. Vor zwei Jahren verhalf ihr die Opferberatungsstelle zu einem neuen Anlauf. Alles, was die Gemeinde schliesslich herausrückte, waren fünf kurze Gemeinderatsbeschlüsse von 1935 und 1936. Inhalt: Einmal hatte der Grossvater den Pachtzins nicht bezahlt, dann sollte ein Bürge für die Schuld einstehen, dann hiess es, vielleicht müsse man die Familie «auflösen» und die Kinder «ins Waisenhaus verbringen». Schliesslich die Notiz vom 28. Juni 1936 – mit einer Liste, welches Kind zu welcher Familie «in Pension» gegeben wird. Dieser Entscheid führte zur öffentlichen Verteilaktion.
Sogar das Bundesamt für Justiz rügte vor einigen Monaten die Freiburger Gemeinde für ihre unkooperative Haltung. Doch alle Interventionen blieben erfolglos. Kürzlich teilte die Gemeinde Zita Neuhaus sogar mit, dass «der Gemeinderat die vorliegenden Akte als erledigt erachtet».
Gemeindeammann Armin Jungo behauptet, die Ratsprotokolle unterstünden gesetzlich der Geheimhaltung. Er täuscht sich. Jedermann hat grundsätzlich ein Einsichtsrecht, was seine eigenen Akten betrifft.
Zudem bezeichnet das kantonale Archivgesetz Berichte über abgeschlossene Geschäfte als historische Dokumente. Hier gilt eine allgemeine Schutzfrist von 30 Jahren, bei Personendossiers von 50 Jahren. Die Dokumente der Familie Neuhaus liegen aber bereits 80 Jahre im Archiv.
Zwangsmassnahmen: Der Weg ist frei für Entschädigungen
Verdingkinder und andere Betroffene von historischen Zwangsmassnahmen erhalten eine Geldzahlung des Staats. Das hat nun auch der Ständerat beschlossen.
Alle Beobachter-Artikel zum Thema finden Sie in unserem Dossier «Administrativ Versorgte».
4 Kommentare
Inzwischen wurde in sämtlichen Archiven alle Dokumente vernichtet.
Ein und dasselbe Archiv kam innerhalb 2 J mit drei unterschiedlichen Begründungen, andere verwiesen auf das OR (10 Jahre Aufbewahrungsfrist.)
Hie und da fand man einen Kantonsarzt-Fragebogen aus den 1950ern und 60ern - das ist und war alles.
Die ganze Generation u/Familie hat noch immer Berge von Akten seit Mitte des 19. Jh., in ein und demselben Archiv, mehrere davon abgelegt unter Provenienz.
Nur von mir und meinem Bruder nicht - alles ist weg. Grund: Der Solidaritätsbeitrag.
Ein Umdenken hat bisher nicht stattgefunden. Das gilt auch für die Abschaffung des FFE, das Italien als einziges europ. Land 1978 definitiv abschaffte. sowie den, schon seit 20 Jahren von der UNO-MRK bemängelten Zustande in CH-Gefängnissen.
Wie armselig muss ein Staat sein, wenn er auf das folternde Machtmittel FFE nicht verzichten kann. Wie erbärmlich hilflos oder machtsüchtig ist so ein Staat.
Vom Sozialdarwinismus und -Abbau gar nicht zu sprechen. Mit jeder Revision seit ca 2000 in der IV oder AHV leidet das Armenquintil der Schweiz stetig mehr. Was man als Kind erlebt hat, wiederholt sich im Alter auf ähnliche Art und Weise, und produziert die genau gleichen Gefühle wie damals.
Das Staatsarchiv Luzern besitzt vom Verdingort nur eine Karteikarte, einzig mit Namensvermerk. Wo sind die Akten hin? Das Staaatsarchiv weiss es nicht, obwohl sie jede Anfrage exakt protokollieren müssen. Wo kann man doch noch fündig werden?
Die Staatsarchive geben in der Regel gerne Auskunft, wo sich die weitere Suche lohnen könnte. Um welchen 'Verdingort' handelt es sich?
Rathausen, nur teilweise, und gar nichts in Bad Knutwil.