So wollen die Skigebiete überleben
Wintersport ist kein Selbstläufer mehr. Wie können Skiorte überleben – mit Lifestyle-Angeboten oder mit Billigpreisen? Zwei Vordenker und ihre Strategien.
Veröffentlicht am 15. Februar 2018 - 17:56 Uhr,
aktualisiert am 13. Februar 2018 - 16:33 Uhr
Ein Bündner und ein Walliser. Hier Reto Gurtner, 63, Doyen der Schweizer Bergbahnbetreiber, der Laax als Trenddestination geprägt hat. Dort Urs Zurbriggen aus Saas-Fee, 38, der mit verwegenen Rabatten die behäbige Branche aufrüttelt. Der eine will im Überlebenskampf der Skiorte besser sein als die Konkurrenz. Der andere billiger. Ihre Konzepte scheint eine grössere Distanz zu trennen als die 130 Kilometer Luftlinie, die zwischen Gurtners gestyltem Sitzungszimmer in der Surselva und Zurbriggens Holz-ist-heimelig-Büro im Saastal liegen. Doch ist es wirklich so?
Urs Zurbriggen ist kein Mann der lauten Worte. Innovativ sei, was sein Gebiet in die Schlagzeilen gebracht hat, und ja, «auch ein bisschen frech», sagt der operative Leiter der Saastal Bergbahnen. Die Rede ist vom revolutionären Preiskonzept, den Saisonpass für 222 statt wie zuvor für 1050 Franken abzugeben. Lanciert wurde die Idee der Wintercard letzte Saison über eine Crowdfunding-Aktion. 75'000 Abonnemente wurden so verkauft. Bei der Wiederholung aufs laufende Jahr hin waren es erneut deutlich über 70'000.
Eine Vergünstigung um 78 Prozent, das klingt nach Verzweiflung. Urs Zurbriggen ist das zu heftig. Gelten lässt er: «Die Wintercard war ein Befreiungsschlag.» Gereift aus der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen konnte. In zehn Jahren hatte das Skigebiet Saas-Fee einen Drittel an Ersteintritten verloren. Die sinkenden Erträge brachten die Bergbahnen in Not, trotz Sparübungen. «Aber man kann sich nicht reich sparen», begründet Zurbriggen die Flucht nach vorn.
Allein in den letzten zehn Jahren ging die Zahl der Ersteintritte in ein Schweizer Skigebiet (Skier-Days) um rund einen Viertel auf noch gut 21 Millionen zurück.
Quelle: Seilbahnen Schweiz 2017
Bergbahnen, die finanziell in den Seilen hängen: Das ist hierzulande Normalität. Gemäss einer Branchenanalyse können zwei Drittel der Betreibergesellschaften die notwendigen Investitionen nicht mehr aus eigener Kraft stemmen. Hohe Preise, zunehmender Schneemangel und verändertes Freizeitverhalten haben dazu geführt, dass der Wintersport im einstigen Wintersportland Schweiz kein Selbstläufer mehr ist. Das zeigt sich am deutlichsten anhand der Skier-Days, der Tagesbesuche in einem Skigebiet: Ihre Zahl sank schweizweit in rund zehn Jahren von 28,7 auf 21,2 Millionen, ein Rückgang von einem Viertel.
Die Situation im Saastal steht für die schleichende Talfahrt eines Wirtschaftszweigs, an dessen Tropf ganze Regionen hängen. Die Idee, als Ausweg so radikal die Preise zu reduzieren, schlug ein wie eine Bombe. «Dummdreist» oder «ruinös» waren noch die netteren Kommentare. Eine Branche ist in Aufruhr. Nur einer nicht.
Reto Gurtner bleibt gelassen. Er ist von seinem Weg überzeugt. Ihm gehts um Lebensstil, Zeitgeist. Darüber kann der gewiefte Manager wortgewaltig referieren.
«Nicht der Preis ist entscheidend, sondern das Angebot. Ich gehe ja nicht wegen der Bestuhlung ins Theater, sondern wegen der Aufführung. Die ‹Bestuhlung› ist überall gleich: Schnee und Berge. Nicht aber das ‹Stück›. Das Rezept heisst: Spezialisierung, Fokussierung, Profilierung, Einfachheit. Wir sind die Besten in unserem Gebiet, wir hatten als Erste eine Halfpipe und ein Internetcafé.»
Reto Gurtner, 63, ist Präsident der Weissen Arena AG in Flims/Laax/Falera. Der studierte Jurist und Ökonom übernahm 1983, nach dem frühen Tod seines Vaters, die Bergbahnen Laax.
Er setzte bereits Mitte der achtziger Jahre auf die Snowboarder, als sie anderswo noch unerwünscht waren. Laax wurde zum Mekka für Freerider und -skier. Gurtner ist verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder.
Das Skigebiet der Weissen Arena umfasst 224 Pistenkilometer und 28 Transportanlagen. Dazu eine Halfpipe, eine Minipipe, vier Snowparks sowie die «Freestyle Academy», in der drinnen trainiert werden kann. 70 Prozent des Skigebiets liegen zwischen 2000 und 3000 Metern über Meer.
Der 63-Jährige hat Laax zur Top-Destination für Snowboarder und Freeskier gemacht. Laax steht für ein Lebensgefühl, für Lässigkeit und Coolness. Wie der Chef, der diesen Zeitgeist als Student in den siebziger Jahren aus Kalifornien mitgebracht hat. «Ein wundervoller Spirit. Hang loose. Unsere Interpretation lautet Laaxstyle, Freestyle, Greenstyle.»
Letzteres, weil Laax voll auf erneuerbare Energie setzt, das erste CO2-neutrale Skigebiet werden will. «Das gibt dem Kunden ein gutes Gefühl. Er macht Ferien hier oben – und tut was für die Umwelt.» So werde er wertvoll, nicht nur glücklich. Das ist Gurtners wichtigstes Ziel: «Den Kunden wertvoll machen.» Alles soll für ihn so einfach wie möglich sein. Unterkunft, Skischule, Vermietung der Sportausrüstung – alles vor Ort und aus einer Hand.
Gurtner ist Chef der Weissen Arena Gruppe in Flims/Laax/Falera. Tuch um den Hals, Kinnbärtchen, betont lässig. Ökonom, Jurist, Rockstar unter den Bergbahn-Chefs der Schweiz. Daneben betreibt er auch noch Cafés, Hotels, Restaurants, Sportgeschäfte und eine Ski- und Snowboardschule.
Die Betriebskosten eines grossen Skigebiets wie Laax oder Arosa-Lenzerheide liegen bei etwa 250'000 Franken pro Tag.
Faustregel: Ein Pistenkilometer kostet rund 1100 Franken. Zum Vergleich: Der Betrieb im Zoo Zürich läuft mit täglich 70'000 Franken rund.
Quelle: Seilbahnen Schweiz 2017
Anlagen
CHF 120'000
Beschneiung
CHF 43'000
Pistenpräparation
CHF 41'000
Übriges (IT, Marketing,Verkauf)
CHF 30'000
Pistensicherheit
CHF 16'000
Gurtner stammt aus Flims. Sein Vater, Walter Gurtner, war Metzgermeister und Gemeindepräsident, ein begeisterter Skifahrer, der kräftig in die Bergbahnen investierte. Ein Mann mit Visionen. Die erste kuppelbare Sesselbahn der Welt stand in Flims. Dann erschloss er Laax und den Crap Sogn Gion mit einer Pendelbahn, dem Dreh- und Angelpunkt des heutigen Skigebiets. Gurtner senior starb früh, mit 51. Sohn Reto trat als 28-Jähriger in seine übergrossen Fussstapfen. Beharrlichkeit und Visionen des Vaters übernahm er.
Reto Gurtner nimmt Trends vorweg, statt nur zu reagieren. «Ich bin Kosmopolit. Reisen ist wichtig, da kann man Neues anschauen, das gibt Inspiration. Ich bin kein typischer Bergler, der sein Leben lang einfach in den Tälern hocken bleibt.» Gurtner ist einer der grössten Arbeitgeber Graubündens. Einen Drittel seiner Zeit verbringt er mit Lesen und Forschen, er will wissen, wo der Zeitgeist hingeht. Er kalkuliert kühl.
«PR-mässig war die Aktion von Saas-Fee super. Aber ist das auch nachhaltig? Was passiert, wenn sie in drei Jahren wieder raufmüssen mit dem Preis?»
Reto Gurtner, Präsident Weisse Arena AG Flims/Laax/Falera
«Der Lifestyle ändert sich ständig, aber sicher nicht in den Bergen. Customer first, das schafft Vertrauen. Und Vertrauen wiederum schafft Lebensqualität und Wertschöpfung. Die Leute gehen dorthin, wo sie das Vertrauen haben. Selbst wenn es dort teurer ist.»
Nur über den Preis gewinne man keine neuen Kunden, fährt Gurtner fort. «PR-mässig war die Aktion von Saas-Fee super», sagt er. «Aber ist das auch nachhaltig? Was passiert, wenn sie in drei Jahren wieder raufmüssen mit dem Preis? Dann sind die Kunden düpiert.» Und überdies ziehe eine solche Rabattaktion die falschen Leute an.
130 Kilometer westwärts nimmt Urs Zurbriggen die Kritik des Branchenvisionärs wortlos entgegen. In seinem Büro, rustikaler Neunziger-Jahre-Stil, sind noch die Visionen von einst sichtbar. Eine Schnitzerei in der Holzwand zeigt das Drehrestaurant am Allalin, das höchstgelegene der Welt.
«Unsere Strategie geht auf», sagt er. Die Verführung über den Preis führte im ersten Jahr zu einem sprunghaften Anstieg der Skier-Days von 350'000 auf 530'000 Eintritte und brachte ein klares Umsatzplus. Auch dieses Jahr läuft es gut. Die Inhaber der günstigen Abos kommen drei- bis viermal pro Saison zum Skifahren statt ein- bis zweimal wie früher. «Sogar die Zürcher!» Kaum ist es billiger, scheint der Weg nicht mehr so weit. «Ein neues Marktsegment, das wir bearbeiten können.»
Zurbriggen kann nachvollziehen, dass andere Regionen brüskiert sind, weil ihnen Saas-Fee über den Preis das Wasser abgräbt. Er und seine Crew, mit Ex-Skistar Pirmin Zurbriggen («nicht nahe verwandt!») als Verwaltungsratspräsident, lassen sich aber nicht vom Kurs abbringen.
Den Vorwurf, die Wintercard sei eine Dumpingaktion ohne jede Nachhaltigkeit, findet er lächerlich. «Es ist ein Crowdfunding.» Heisst: Nur wenn genügend Leute mitmachen, wird der Preis von 222 Franken angeboten. Bei einem intern definierten Absatzziel von 75'000 Karten kommen gut 16 Millionen Franken Ertrag zusammen, den Saas-Fee für den Betrieb benötigt, inklusive Rückstellungen für anstehende Investitionen. «Betriebswirtschaftlich geht die Rechnung auf.»
Quelle: Seilbahnen Schweiz 2017
Die Walliser Aktion hat die Konkurrenz in die Sätze gebracht. So bietet ein Verbund von vier Destinationen im Berner Oberland «666 Pistenkilometer für 666 Franken» an, massiv verbilligt. Nach der Schelte für Saas-Fee habe es kein halbes Jahr gedauert, bis solche Nachahmeraktionen auf dem Tisch lagen, bemerkt Zurbriggen maliziös. Dass der Weckruf aus dem Oberwallis die taumelnde Seilbahnwelt wachgerüttelt hat, findet er gut, auch wenn es ein Verdrängungskampf ist, der seine Opfer fordern wird. «Besser über kreative Lösungen nachdenken als still und leise untergehen.»
Den Saastalern gehts aber auch um Daten. «Wir wissen viel zu wenig über unsere Gäste», sagt Zurbriggen. Das Durchschnittsalter? «Irgendwo zwischen 35 und 50.» Mit der digital vermarkteten Wintercard wurde erstmals eine Datenspur gelegt, um strukturiert Kundeninformationen zu sammeln. Das Vorbild dafür liegt 130 Kilometer ostwärts. «Da ist uns Laax zehn Jahre voraus», sagt der Walliser, nicht ohne Bewunderung für den Bündner.
Reto Gurtner zückt sein Handy, der Schnauz wippt. Er ruft die «Inside Laax»-App auf. In der Hochsaison werden darauf täglich 84'000 Aktionen registriert. So weiss der Bergbahnchef alles über seine Gäste. 38-jährig ist der Durchschnittsbesucher, mobil und freizeitaktiv. Gurtner registriert jede Bewegung, weiss, wo gerade am meisten Leute am Lift anstehen, wo welcher Tisch für wann reserviert ist. «Ich muss die Digitalisierung ausnützen. Nur wer weiss, was sein Kunde macht, kann auch wissen, was er will.»
Das funktioniert in Laax, weil Reto Gurtner fast alles gehört, alles über die App buchbar ist. «Man wirft mir vor, ich sei ein Monopolist. Das stimmt nicht. Ich bin eher die dargebotene Hand. Wenn etwas nicht funktionierte, habe ich es halt oft übernommen.»
Lesebeispiel
Schweizer haben 3'432'779 Übernachtungen gebucht, 3 Prozent mehr als in der Saison davor.
Quelle: Seilbahnen Schweiz 2017
Seit Jahren kooperiert er auch mit China, hat für die dortigen Olympischen Winterspiele 2022 beim Freestyle-Masterplan mitgewirkt. Nicht ganz uneigennützig. «Der asiatische Markt ist gigantisch. Ich will Chinas Freestyle-Generation nach Laax holen. Ein Riesenpotenzial! Riesig! Wir gehören zur Greater Zurich Area, in anderthalb Stunden bist du von Zürich aus in Laax. Auch wenn das der typische Bündner nicht gern hört: So müssen wir denken.»
Nicht zuletzt wegen der Asiaten plant Reto Gurtner die Neugestaltung der Cassonsbahn als Ausflugsbahn für alle vier Jahreszeiten – viel lukrativer als ein gewöhnlicher Sessellift. Von hier aus sieht man das Martinsloch, die Tschingelhörner, Unesco-Weltnaturerbe. «Vergleichbar mit dem Grand Canyon!» 2022 soll die Bahn fertig sein. Mit einer Gondel, deren Innenraum bei schlechtem Wetter zur Kinoleinwand wird, auf der Wissenswertes zum Weltnaturerbe gezeigt werden kann. «Der Chinese kommt auch bei schlechtem Wetter – da muss man ihm etwas bieten», sagt Gurtner. «Wenn es chuttet, dann muss halt die Bahnfahrt das Erlebnis sein.»
Die Chinesen hat auch Urs Zurbriggen im Visier. Eine neue Vermarktungsorganisation soll den Namen des Gletscherdorfs in die Welt tragen und dafür sorgen, dass Preise wie «Best Ski Resort 2016» nicht bloss Pokale bleiben, die in der Vitrine verstauben. Vom Pult aus sieht er die weisse Pracht der Mischabel-Gruppe mit dem Dom, dem höchsten Schweizer Gipfel. Eine beeindruckende Berg- und Gletscherwelt mit 18 Viertausendern.
Saas-Fee hat alles – und ist trotzdem in die Krise gerutscht. «Wenn wir es nicht schaffen – wer dann?» Das sei ihm öfter durch den Kopf gegangen, seit er und sein Team sich aufgemacht haben, die Lethargie zu verscheuchen, die sich im Dorf nach Jahren des Niedergangs breitgemacht hatte.
Das scheint heute weit weg. Im Sommer habe er so viele Handwerker an der Arbeit gesehen wie schon lange nicht mehr, so Zurbriggen. In der Managersprache heisst das: «Es ist wieder Kapital hier.» Geschätzte 25 Millionen Franken zusätzliche Wertschöpfung habe die Wintercard allein im Jahr eins ins Tal gebracht. Mehr Gäste übernachten mehr, essen mehr, kaufen mehr.
Das Dorf habe sogar stärker profitiert als die Bergbahnen. Diese versprechen sich durch die bessere Stimmung mehr Offenheit für ihre Pläne, Berggastro- und andere Betriebe ins Angebot zu integrieren. «Die Kunden sollen es möglichst bequem haben.»
Laax lässt grüssen: Reto Gurtner, der vermeintlich so anders tickt, hätte es nicht schöner ausdrücken können.
Urs Zurbriggen, 38, ist operativer Leiter und stellvertretender Geschäftsführer der Saastal Bergbahnen AG.
Er studierte internationale Beziehungen an der Uni Genf und war dann unter anderem im Management des Baustoffkonzerns Holcim im In- und Ausland (Kanada) tätig.
Ende 2015 kehrte er zu den Bergbahnen in seinem Heimatdorf Saas-Fee zurück, für die er schon als Student gearbeitet hatte. Zurbriggen ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Das Skigebiet Saas-Fee umfasst 100 Pistenkilometer und 21 Transportanlagen; in Saas-Grund und Saas-Almagell kommen weitere 46 Kilometer hinzu. Ein Hauptmerkmal des Skigebiets ist seine Höhenlage von bis zu 3600 Metern über Meer. Das und die teilweise Abdeckung durch Gletscher ermöglichen auch einen Skibetrieb im Sommer, der rund zehn Prozent des Ertrags abwirft.