Wasser im Keller, Feuer im Dach
Seit über sechs Jahren prozessieren Zürcher Nachbarn wegen eines Bauschadens. Es geht um Schimmel, Risse und Hundekot. Die Nerven liegen blank – die Justiz lässt sich Zeit.
Veröffentlicht am 21. Juli 2015 - 13:45 Uhr
Erich Senn* führt durch sein Haus. Überall, im Keller, im Erdgeschoss und an den Aussenfassaden, blättert die Farbe ab, bröckelt der Verputz, lösen sich Brocken im Mauerwerk. Im ganzen Haus haben sich Risse gebildet, die sich ständig vergrössern. Im Keller breitet sich Schimmelpilz aus, der Boden im Büro wurde vor kurzen erneuert, weil sich Wellen gebildet hatten. «Diese Wasserschäden sind erst entstanden, als die Nachbarliegenschaft vor bald acht Jahren gebaut wurde», erklärt Senn. Und seither prozessiert er, denn er fühlt sich in seinen Rechten auf unverschämte Art verletzt.
Der gut 50-jährige Geschäftsmann macht einen entschiedenen Eindruck. Kein Wunder – bei allem, was ihm durch die Bauerei auf dem Nachbargrundstück zugemutet worden ist. Der Anwalt der Gegenpartei möchte aufgrund des laufenden Verfahrens keine Auskunft zu Details geben. Er lässt lediglich verlauten, dass nach seiner Einschätzung niemals eine einvernehmliche Lösung mit Senn möglich sei.
Senn wiederum sieht sich in die Rolle eines Störenfrieds gedrängt, und zwar nur – so Senn – weil er es gewagt habe, einen früheren Gemeindepräsidenten, der nun sein Nachbar ist, höflich darauf hinzuweisen, dass dessen Hund nicht in seinem Garten sein Geschäft verrichten solle.
«Morgen kommen die Baumaschinen. Der Zaun muss weg, wir brauchen Ihren Garten», sagte er.
Senn und seine Nachbarn haben sich mittlerweile heillos ineinander verbissen. So weit hätte es nicht kommen müssen. Senns Anwalt meint, der Streit sei eskaliert, weil die Bauherrschaft anfangs völlig rüpelhaft eingefahren sei.
Im Jahr 2006 plante ein Architekturbüro auf Senns Nachbargrundstück einen Neubau mit sechs Wohnungen und 14 Garagenplätzen. Mit diesem Projekt war es mit dem Frieden im Quartier vollständig vorbei. Diskussionen um eine Privatstrasse hatten schon vorher für Spannungen gesorgt.
Die Bauherrschaft hielt es nicht für nötig, die Nachbarn über das Vorhaben zu informieren. Zudem plante sie ein Projekt, das eine zu hohe Ausnützung vorsah und den Grenzabstand nicht einhielt. Nach Einsprachen musste es abgeändert werden. Während der Projektierung wurde Senn angefragt, ob er ein Näherbaurecht einräumen wolle. Er lehnte ab.
Die Kommunikation der Bauherrschaft war schon mangelhaft gewesen, nun wurde sie durch eine Politik der vollendeten Tatsachen ersetzt. Kurz vor Baubeginn teilte man Senn mit, man müsse für den Aushub der Baugrube sein Grundstück in Anspruch nehmen. «Ich habe zugestimmt», sagt Senn, «unter der Voraussetzung, dass das schonend passiere, allfällige Schäden ersetzt würden und ich entschädigt werde.»
Die Bauherren lehnten es ab, das schriftlich zu bestätigen. «Stattdessen drohte mir der Architekt, er würde mich enteignen lassen, wenn ich nicht einwillige», sagt Senn. Diese Drohgebärde, die auch in den Prozessakten vermerkt ist, war rechtlich unhaltbar. Einen Tag vor Beginn der Aushubarbeiten tauchte der Architekt bei Senns auf. Zu Senns betagter Mutter, die im gleichen Haus wohnt, sagte er in barschem Ton: «Morgen kommen die Baumaschinen. Der Zaun muss weg, wir brauchen Ihren Garten.»
Tatsächlich fuhren bereits am nächsten Tag die schweren Baumaschinen auf. In Senns Garten fällten die Bauarbeiter eine 40 Jahre alte Föhre, rissen zwölf Büsche aus, entfernten Gartenplatten und Böschungssteine. Während der gesamten Bauphase wurde Senns Grundstück auf einer Breite von drei Metern in Anspruch genommen, der Rand der Grube wurde mit Spritzbeton befestigt.
Als die Baugrube zugeschüttet wurde, füllten die Arbeiter Senns Gartenloch teilweise mit Schutt und minderwertiger, mit Unkraut durchzogener Erde. Anders als die Nachbargärten wurde Senns Garten nicht mit Humus bedeckt. Sein Protest bei der Bauherrschaft blieb folgenlos. Senn erinnert sich: «Nur wenn ihn das Gericht zwinge, werde er meinen Garten wieder herstellen lassen, sagte der Architekt.» – «Richtig schlimm wurde es, als es um die neue Hecke ging», sagt Senns Mutter. «Man hat uns eine Mischhecke mit einheimischen Sträuchern in Aussicht gestellt, doch dann musste der Gärtner gegen seine Überzeugung riesige Bambuspflanzen setzen.»
Der Gegenanwalt will weder das Auftreten des Architekten noch das Verhalten der Bauherrschaft kommentieren. Er schweigt zum laufenden Verfahren.
Nach sechs Jahren hängt das Verfahren noch immer in der ersten Instanz. Warum, will das Gericht nicht sagen.
Für den Neubau, der in einer hydrologischen Problemzone an einem Hang steht, wurde eine 20 Meter breite Stützmauer errichtet. Floss früher das Wasser in der ganzen Breite des Hangs hinab, ist es nun gewissermassen kanalisiert und sucht sich seinen Weg auch durch Senns Haus. Ein Ingenieurbüro bestätigte das: Die Schäden seien durch das im Garten stark vorhandene Hangwasser verursacht worden, weil dessen freier Lauf durch das Nachbargebäude behindert werde.
Vorher hatte Senn keine Probleme mit dem Wasser. Bevor der Neubau kam, hatte er sein 60-jähriges Haus um ein Geschoss aufstocken und verschiedene Räume streichen lassen. 2008 schrieb das Ingenieurbüro, das die Aufstockung begleitete: «Zu verschiedensten Jahreszeiten haben wir den Keller inspiziert und dabei stets trockene Mauern und Böden festgestellt.» Eine Schätzung der Gebäudeversicherung bestätigte das.
Für die verursachten Schäden und die zu erwartenden Kosten einer Sanierung hat Senn beim Gericht Affoltern ZH eine Forderung von rund 400'000 Franken deponiert – aufgrund von Offerten. Die insgesamt zehn Beklagten (Bauherrschaft und jetzige Wohnungseigentümer) wiesen sie zurück, und eine Sühneverhandlung endete ohne Ergebnis.
Doch nicht nur Senn leidet unter unerwünschtem Wasser. Die Bewohner der beiden Parterrewohnungen mussten einen Monat nach Einzug die Wohnungen für einige Wochen verlassen, weil sie wegen Feuchtigkeit saniert werden mussten. Auch in der Tiefgarage und im Keller verursachte das Wasser Probleme.
Das Bezirksgericht Affoltern ordnete 2012 an, ein Gutachter solle abklären, ob beim Bau mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet worden sei und man die schwierigen Wasserverhältnisse in den Griff bekommen habe.
Das Ergebnis: ein Gutachten, das der Experte selber als «vorläufig» und «nicht zweifelsfrei» bezeichnete. Er fand es nicht nötig, einen Augenschein vor Ort zu nehmen, obwohl er für den Auftrag 17'000 Franken kassierte. Er verfasste seinen Bericht allein aufgrund der Akten. Aus diesen ging aber nicht hervor, welche Leitungen am Ende überhaupt abgenommen worden waren. Zudem versäumte man, mittels Kanalfernsehen die Sickerleitung zu untersuchen. Senns Anwalt wies das Gutachten als unbrauchbar zurück.
Das Gericht ordnete schliesslich doch noch eine Überprüfung der Sickerleitung an, doch es beauftragte genau jene Firma, die für die Beklagten Beweise beschafft hatte. Senns Anwalt wies sie natürlich als befangen zurück. Bis ein neutrales Gutachten erstellt ist, dauert es wiederum Monate, inzwischen vergrössern sich die Schäden an Senns Haus.
Anfang 2014 fand die – erfolglose – Vergleichsverhandlung statt, seither ist nichts mehr geschehen. «Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen», klagt Senn. «Solange das Gericht nichts unternimmt, bin ich blockiert.» Senns Anwalt musste die Richterin darauf hinweisen, dass die Strafprozessordnung ein zügiges Verfahren vorschreibe. Nach sechs Jahren hängt dieses aber immer noch in der ersten Instanz. Warum dem so ist, will das Gericht dem Beobachter nicht erläutern.
Senns Prozessgegner versuchen, ihn bei Gericht als Querulanten darzustellen. Er prozessiere nur deshalb, weil seine Rechtsschutzversicherung zahle. Bis jetzt sind Kosten von etwa 100'000 Franken entstanden. Senn wehrt ab: «Ich habe zusammengerechnet sicher schon ein Jahr Arbeit für diesen Fall aufgewendet und Tausende von Franken selber bezahlt. Und der Kampf um mein Recht zehrt an meiner Gesundheit und an der meiner Mutter.» Der Gegenanwalt, der im Verwaltungsrat der beklagten Firma sitzt, geht davon aus, dass der Fall noch das Bundesgericht beschäftigen könnte. Doch selbst wenn seine Klienten gewinnen würden, hätten sie aus eigener Tasche noch einige zehntausend Franken zu berappen.
So oder so wird es nur Verlierer geben. Zu Senns Gegnern gehören zwei ehemalige Gemeindepräsidenten, die in der neuen Nachbarliegenschaft eine Wohnung besitzen. Eigentlich müsste für sie als Politiker das Wort «verhandeln» nicht unbekannt sein. Doch diese Chance wurde verpasst, zu verhärtet sind die Fronten. Senns Anwalt meint: «Wir stecken jetzt in einem Verfahren, aus dem es kein Zurück mehr gibt – und das noch Jahre dauern kann, falls die Parteien bis vor Bundesgericht gehen wollen. Am Ende bleibt ein Scherbenhaufen.»