Doris Bertoli sitzt am Tisch in ihrer kleinen Küche und ärgert sich. «Woher sollen denn die Leute, die hier leben, auf einmal so viel Geld nehmen?» Sie deutet zum Fenster hinaus auf die 18 Häuserzeilen, die im Stil der fünfziger Jahre gebaut sind – die Siedlung Albisrieden der Zürcher Genossenschaft Sunnige Hof. Vor der 50-jährigen Bertoli liegt ein Bündel mit gelben Zetteln. Darauf bezeugen 170 ihrer Nachbarn, viele davon ältere Leute mit einer kleinen AHV-Rente, dass sie keine 1700 Franken aufbringen könnten. So viel hätte die Monatsmiete einer 31⁄2-Zimmer-Wohnung betragen, wenn es nach den Plänen des Genossenschaftsvorstands gegangen wäre. Dieser wollte in einer ersten Modernisierungsetappe sechs Blöcke der Siedlung abreissen und 156 neue, grössere und doppelt so teure Wohnungen realisieren. «Eine unsoziale Luxussanierung», sagt Doris Bertoli. Sie hat im Frühjahr den Protest der Bewohner organisiert, worauf das 48-Millionen-Projekt an einer emotional geführten Generalversammlung bachab geschickt wurde. Damit bleiben die Wohnungen im Sunnige Hof einstweilen, was sie sind: einfach, dafür billig.

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Ein Zustand auf Zeit. Denn das Gerangel im Zürcher Stadtquartier Albisrieden steht exemplarisch für einen Trend, der die Mieterhochburg Schweiz, mit einem Mieteranteil von 68 Prozent europaweit an der Spitze, ins Mark trifft: Durch den Schwund an günstigen Wohnungen geraten die niedrigen Einkommensschichten unter Druck. Die Schere öffnet sich immer mehr: Seit 1989 sind die Mieten in der Schweiz um rund 20 Prozent mehr gestiegen als die Teuerung und die Löhne (siehe Nebenartikel «Luxusgut Wohnen»).

Ein Gegengewicht bilden traditionell die über 1000 gemeinnützigen Baugenossenschaften im Land. Mit ihrem Wohnungsangebot von 144000 Einheiten bieten sie rund 400000 Menschen ein Dach über dem Kopf. Weil Genossenschaften nicht gewinnorientiert ausgerichtet sind und in der Regel von günstigem Land im Baurecht profitieren, erreichen sie Mietpreise, die im Schnitt deutlich unter jenen auf dem freien Markt liegen.

Doch mit dieser Herrlichkeit könnte es bald vorbei sein. «Die Genossenschaften stehen vor einem tief greifenden Erneuerungsschub. Das verteuert die Mieten unweigerlich», sagt Markus Zimmermann von der Förderstelle Gemeinnütziger Wohnungsbau. Der Grund ist einfach: Die meisten Genossenschaftsbauten stammen aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Sie wurden mit bescheidenen Mitteln erstellt und sind nun baufällig. Zudem entsprechen die kleinflächigen Grundrisse nicht mehr dem Zeitgeist.

Nach jahrzehntelangem Flickwerk mit kleineren Renovationen entscheiden sich zurzeit zahlreiche Baugenossenschaften zum grossen Schnitt: weg mit den alten Häusern, hin zu modernen Wohnblöcken in verdichteter Bauweise. Dabei kommt es allerdings sehr schnell zu einer Verdoppelung der bisherigen Mietzinse, die zuvor über lange Zeit tief gehalten wurden. Für Markus Zimmermann ist klar: «Die Sozialverträglichkeit ist der Knackpunkt dieser Aufwertung.»

Im Raum Zürich, wo jede fünfte Wohnung einer Genossenschaft gehört, ist die strukturelle Erneuerung am weitesten fortgeschritten. Andere Zentren des genossenschaftlichen Wohnungsbaus wie Bern oder Basel stehen noch am Anfang. Erfahrungen hat man aber auch schon dort gesammelt – häufig schlechte: In Basel etwa scheiterte kürzlich ein Sanierungsprojekt der Genossenschaft Holeestrasse am Widerstand der Bewohner. «Da ist grausam Sprengstoff drin», sagt Präsidentin Denise Senn.

Zum Entzünden bringen ihn vielfach die Genossenschaftsvorstände selber. Der Fall der Zürcher Siedlung Sunnige Hof ist nach Ansicht des Sozialhistorikers Thomas Stahel (siehe Nebenartikel «Einige drücken sich vor ihrer sozialen Verantwortung») «ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen darf». Der Vorstand habe eigenmächtig gehandelt und mit unglaubwürdigen Zahlen operiert, so sein Vorwurf.

Bewohnerin Doris Bertoli, deren vierköpfige Familie nach dem Scheitern der Umbaupläne weiterhin 860 Franken für ihre 72 Quadratmeter grosse Vierzimmerwohnung bezahlt, stört sich vor allem daran, dass die Genossenschaften blind dem Kredo des freien Markts folgen: «Wer sagt denn, dass alle komfortablere Wohnungen wollen? Wir zum Beispiel sind zufrieden mit dem, was wir haben.» Und andere Leute hätten diese Wahl gar nicht.

Da schwingt der Vorwurf an die Erneuerer mit, das genossenschaftliche Ideal der sozialen Verantwortung zu verraten. Hans-Ulrich Frei, Präsident der Genossenschaft Sunnige Hof, kontert allerdings mit dem gleichen Argument: «Es ist unsozial und egoistisch, wenn die heutigen Bewohner nur daran interessiert sind, selber wenig bezahlen zu müssen.» Sein Auftrag sei, auch den kommenden Generationen erschwinglichen Wohnraum zu bieten.

Auch für Fredy Schär, Präsident der Gewerkschaftlichen Wohn- und Baugenossenschaft (Gewobag), verfolgt die Wertsteigerung der Wohnobjekte urgenossenschaftliche Ziele. «Wir müssen für eine breite Schicht der Bevölkerung attraktiv bleiben», sagt er. Das heisst: für Familien mit Kindern, junge Leute, Wohngemeinschaften – ein Mietermix, der auch mittlere und höhere Einkommen umfasst. Schärs Fazit: «Genossenschaften müssen nicht nur Platz für soziale Notfälle bieten.»

Ein solcher sind Giovanni und Brigitte Paternostro nicht. Doch mit ihren drei Kindern zwischen drei und zwölf Jahren ist ein günstiger Mietzins mehr Notwendigkeit als Wunsch. Sie finden ihn seit 1996 in einer Reihenhaussiedlung der Gewobag in Uster: vier Zimmer mit 65 Quadratmetern für 953 Franken. «Etwas Umschwung und der gute Kitt in der Nachbarschaft – das ist für uns Wohnqualität und wiegt den fehlenden Luxus bei weitem auf», sagt die 30-jährige Familienfrau.

Damit ist es seit kurzem vorbei, denn die Paternostros werden umgesiedelt. Die erst vor wenigen Jahren renovierten 36 Gewobag-Häuschen werden abgebrochen und durch Mehrfamilienhäuser mit 60 Wohnungen ersetzt. Daran vermochte auch der anfängliche Widerstand der Mieterinnen und Mieter nichts zu ändern. Bis auf vier Parteien, die die Umsiedlung mitmachen, haben alle das Weite gesucht. Die Familie Paternostro wechselt im nächsten Oktober in eine 151 Quadratmeter grosse 51⁄2-Zimmer-Wohnung, die 1950 Franken kostet. Die Gefühle sind gemischt: «Wir werden von einer Entwicklung mitgerissen, gegen die wir machtlos sind. Finanziell stossen wir an unsere Grenzen.»

Am ungebremsten Erneuerungsdrang der Genossenschaften stört sich auch die Zürcher Architektin Catherine Rutherfoord. Der Renovationsbedarf bei den Installationen sei unbestritten, sagt sie. Hingegen würde der Zustand der Bausubstanz in vielen Fällen auch eine sanfte Erneuerung zulassen. «Stattdessen drohen städtebaulich wertvolle Siedlungen, die in den Agglomerationen wichtige Akzente setzen, reihenweise zu verschwinden. An ihrer Stelle entstehen hochverdichtete Wohnmaschinen – architektonisch durchaus interessant, bislang aber immer nach dem gleichen Grundrissschema.»

Dass es auch anders geht, zeigt die 1996 gegründete Genossenschaft Dreieck in Zürich-Aussersihl. Die Sozialpädagogen Tina Baer und Daniel Rellstab bewohnen hier mit Baby Lino eine helle und sanft renovierte Vierzimmer-Altbauwohnung: Parkettboden, Täfer und Stuckaturdecke für 1400 Franken inklusive. Tina Baer arbeitet seit zwei Jahren in der genossenschaftlichen Verwaltungskommission mit. Die monatlichen Sitzungen zu Mieterangelegenheiten machen ihr Spass: «Man wird hier einbezogen in wichtige Entscheide und um die Meinung gefragt. Ich fühle mich als Teil des Ganzen.»

Das freut Genossenschaftspräsidentin Iris Vollenweider: «Basisdemokratie ist bei uns kein Schlagwort, sie wird gelebt.» In den zwölf Häusern des Dreiecks wohnen und arbeiten rund 200 Leute, das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren, zehn Nationalitäten sind vertreten. Vollenweider: «Gemeinsames Leben und Wohnen ist bei uns wichtig. Viele engagieren sich gern in den genossenschaftlichen Aktivitäten.»

Das Dreieck gilt als Vorzeigebeispiel, sagt Niklaus Scherr, Geschäftsführer des Mieterverbands Zürich. Da stimme von den günstigen Mieten über die Mitsprache bis zum Mietermix alles. «Die zeigen, dass es geht, wenn man will.» Ebenfalls mieterfreundlich ist die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) – mit 3700 Wohnungen die grösste Genossenschaft der Schweiz. In der Neubausiedlung Jasminweg in Oerlikon bietet die ABZ eine moderne, grosse und sonnige 41⁄2-Zimmer-Wohnung für 1400 Franken an.

Einen neuen Weg schlägt die Genossenschaft für neue Wohnformen Solinsieme in St. Gallen ein. Vor einem halben Jahr bezogen die ersten Bewohnerinnen und Bewohner die ehemalige Stickereifabrik. Entstanden sind 17 kleinere Lofts, die im Stockwerkeigentum verkauft wurden. Sie kosten zwischen 250000 und 390000 Franken; das sind günstige Preise für Wohneigentum. Mit dem Kauf wurden die Bewohner automatisch Genossenschafter und finanzierten mit ihrem Kapital die Gemeinschaftsräume wie Gästezimmer und Ateliers mit, die 15 Prozent der Wohnfläche ausmachen. Solinsieme sei als Projekt für Menschen in der zweiten Lebenshälfte geplant worden, die nicht allein wohnen möchten, erklärt Projektleiter Bruno Dürr. «Die Finanzierung von Solinsieme könnte zukunftsweisend sein», fügt er an, «die Zielgruppe auch.»

Einige Genossenschaften avisieren heute aber Zielgruppen, die nichts mehr mit den ursprünglichen Ideen zu tun haben. Wurden die Siedlungen früher in erster Linie für Mieterinnen und Mieter der unteren Mittelschicht gebaut, haben heutige Genossenschaften vermehrt begüterte Bewohner im Auge. Die Zürcher Baugenossenschaft Milchbuck beispielsweise bietet im Internet 41⁄2-Zimmer-Wohnungen für 3700 Franken an. Das ärgert Mietervertreter Niklaus Scherr: «Genossenschaften sollen keine Luxuswohnungen bauen.

Mit Mieten ab 2500 bis 3000 Franken für vier Zimmer wenden sie sich nur noch an fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung.» Das sei eine «Entgleisung», denn solche Wohnungen seien doch auf dem freien Markt zu haben.

Schöne, aber teure Wohnungen sind in der Zürcher Genossenschaftssiedlung Hellmi neu zu finden. Rund 70 Mieter wohnen hier in selbstverwalteten Häusern mit 34 Wohnungen. Verbandssekretär Peter Macher zog 1991 als Erstmieter mit seiner Tochter ein. Heute wohnt er mit seiner Partnerin in der hellen, 67 Quadratmeter grossen 21⁄2-Zimmer-Wohnung mit Laubenganganteil. Sie kostet monatlich 1800 Franken; für eine grosse 41⁄2-Zimmer-Wohnung werden 2700 Franken verlangt. «Das sind eher hohe Mietzinse», meint Macher, «die aber der Qualität angemessen sind.» Das Verhältnis unter den Bewohnern sei sehr gut, was auch mit der offenen Architektur zusammenhänge, die den sozialen Austausch fördere.

In Genossenschaften wie der Hellmi neu wohnen vor allem gut verdienende Leute: Architekten, Grafikerinnen, Journalisten und Juristinnen – ein einseitiger Mietermix, der den ursprünglichen Genossenschaftsgedanken verwässert. Experten fordern deshalb, dass eine Vierzimmer-Genossenschaftswohnung nicht mehr als 2000 Franken kosten dürfe. «Sonst gibt es bald nur noch ‹Stöckli› für wohlhabende Genossenschafter», warnt Niklaus Scherr, «und die anderen haben das Nachsehen.»