Als Fabiana Spica an jenem Donnerstag im Februar 2004 aus dem Sitzungszimmer des Gemeindehauses von Wohlen AG entlassen wurde, fasste sie einen Entschluss: «Das mache ich nie wieder!» Gerade hatte ihr die Einbürgerungskommission mitgeteilt, dass sie beim Staatskundetest nicht die nötige Punktzahl erreicht habe. Man werde ihr Gesuch zur Ablehnung empfehlen, weshalb sie es besser zurückziehen solle. «Probieren Sie es in ein paar Jahren noch einmal», gaben ihr die Schweizermacher mit auf den Weg.

Auf 200 Ausländer eine Einbürgerung


Ein halbes Jahr später sind bei Fabiana noch immer Wut und Enttäuschung zu spüren. Die 18-jährige Italienerin, in Wohlen geboren und zur Schule gegangen, hat zwei Ablehnungen hinter sich. Vor vier Jahren fassten Spicas den Entschluss, für die drei Töchter den roten Pass zu beantragen. Während Loredana, 23, und Giovanna, 28, erfolgreich waren, wurde die Jüngste schon beim ersten Versuch abgeblockt.

«Damals sagten sie, ich sei noch nicht reif», berichtet Fabiana mit gesenktem Blick. Mutter Concetta schüttelt den Kopf und meint: «Die Mädchen sind doch wie Schweizerinnen, sie kennen Italien nur von den Ferien.» Und Loredana ergänzt: «Ich möchte sehen, wie viele Schweizer den Test bestehen würden. Sogar unsere Schweizer Kollegen haben gesagt, sie fänden die Fragen mega schwer.»

Die Einbürgerungspraxis von Wohlen ist keine Ausnahme. Das liegt an der föderalistischen Struktur des Bürgerrechts: Für eine Einbürgerung braucht es in der Regel die Zustimmung der «Dreifaltigkeit» von Bund, Kanton und Gemeinde. Der Bund definiert Minimalvorschriften – Kandidaten sollen «in die schweizerischen Verhältnisse eingegliedert» sein. Dazu kommt die Wohnsitzfrist von mindestens zwölf Jahren, wobei die Zeit zwischen dem 10. und dem 20. Lebensjahr doppelt zählt.

Darüber hinaus können Kantone und Gemeinden ihr eigenes Süppchen kochen. Pascale Steiner von der Eidgenössischen Ausländerkommission dazu: «Den Gemeinden steht es im Rahmen der kantonalen Gesetze frei, eigene Kriterien festzulegen. Darum gibt es in der Schweiz eine unüberschaubare Vielfalt von Verfahren.» Besonders ärgerlich ist der Föderalismus für junge Gesuchsteller: 14 Kantone (GE, VD, NE, FR, JU, BE, ZH, AR, BS, SO, GL, ZG, GR, TI) haben in den letzten Jahren Erleichterungen für Jugendliche eingeführt, die übrigen zwölf nicht. Fazit: Wer das Glück hat, in einem liberalen Kanton und in einer aufgeschlossenen Gemeinde zu wohnen, kommt relativ leicht zum Schweizer Pass – alle andern müssen sich auf Herz und Nieren prüfen lassen.

Wohlen gehört zur zweiten Kategorie. Das zeigt bereits die Einbürgerungs-Rangliste des Bundesamts für Statistik (BfS). Es hat errechnet, wie viele Ausländer Gemeinden mit über 10000 Einwohnern durchschnittlich einbürgern. In Wohlen waren es von 1985 bis 1998 nur gerade 0,5 Prozent; auf 200 Ausländer erhält einer das Bürgerrecht. Damit belegt Wohlen Platz 107 von 110 untersuchten Orten. Weil so spärlich eingebürgert wird, bleibt der Ausländeranteil hoch: Auf 9500 Schweizer kommen rund 4200 Ausländer, fast jeder Dritte (31 Prozent) ist Nichtschweizer.

Die Gründe für die kantonalen und kommunalen Hindernisse sind vielfältig, auch kulturelle Faktoren spielen eine Rolle. So bürgern städtische Zentren tendenziell generöser ein als Landgemeinden. Zudem ist die Herkunft der Gesuchsteller wichtig; Personen aus EU-Ländern werden eher akzeptiert als etwa Migranten aus dem Balkan. Von Bedeutung ist auch die Doppelstaatsbürgerschaft: Deutsche zum Beispiel müssen ihren Pass abgeben, wenn sie Schweizer werden wollen; auch bei Spaniern war das noch bis 2003 der Fall. «Das war bei mir der Knackpunkt», sagt Marcos Rey, 28, der in Bern aufgewachsen, aber spanischer Staatsbürger ist und sich bisher nicht einbürgern lassen wollte. «Es reute mich, meinen EU-Pass abzugeben. Auch das Verfahren und die Gebühren schrecken ab.»

Stadt oder Land, Herkunft, EU-Pass: Solche Faktoren «erklären nur einen Viertel der kommunalen Unterschiede», relativiert Werner Haug, Vizedirektor des BfS. Zentral sei «die Einbürgerungspraxis». Der Beamte zeigt sich besorgt über den Wildwuchs: «Die grossen Unterschiede sind aus Sicht der Rechtsgleichheit problematisch, da es zu willkürlichen und diskriminierenden Entscheiden kommen kann.»

Bis zu 50000 Franken Gebühren


Mancherorts befindet die Gemeindeversammlung über die Gesuche (bis vor kurzem gab es sogar geheime Urnenabstimmungen, etwa in Emmen LU), andernorts ist es das Parlament. Seit neustem wird zunehmend die Exekutive mit der Aufgabe betraut, so in Bern oder Zürich. Dies mache das Verfahren «professioneller und weniger politisch», sagt Pascale Steiner. Viele Gemeinden aber würden eisern an der strengen Praxis festhalten: Staatskundeprüfung, Hausbesuche, Referenzen. Weil Bund und Kantone nur den Rahmen setzten, hätten Gemeinden «enorme Ermessensspielräume». So variieren die kommunalen Wohnsitzfristen von zwei bis über zehn Jahre, die Gebühren von 200 bis über 50000 Franken. Einmal wird abgelehnt, wer Sozialhilfe bezieht oder arbeitslos ist; ein andermal, wer schlecht Deutsch spricht oder nicht integriert scheint.

Überall werden Bewerber ausspioniert


Besuch bei der Präsidentin der Einbürgerungskommission Wohlen, Regula Meier (FDP). Zum Gespräch bringt sie einen dicken Bundesordner mit den Entscheiden der letzten vier Jahre mit. Säuberlich ist festgehalten, wer das Wohlwollen von Wohlen verdient hat und wer nicht. «Primär zählen objektive Kriterien», sagt Meier und fügt offen an: «Wir müssen aber den Mut haben, dazu zu stehen, dass immer auch viel Subjektives einfliesst.»

Objektiv überprüfbar sind Wohnsitz (zwölf Jahre Schweiz, fünf Jahre Kanton, drei Jahre Gemeinde), Personalien (Geburts- und Eheschein), Finanzlage (Steuer- und Betreibungsregister) sowie Leumund (Strafregister). Eher subjektiv wirds bei der Sprache, den Referenzen und der «Integration und Assimilation», wie es im Antragsformular heisst. Assimilation bedeute in Wohlen Aufgabe der eigenen Kultur zugunsten jener des Gastlandes. Um dies zu prüfen, ist ein zweistündiger, schriftlicher Staatskundetest abzulegen und ein Eignungsgespräch zu bestehen. «Und wir achten auf gute Referenzen», ergänzt Regula Meier. «Leute, die sich abschotten, machen mir Mühe.» Chef, Lehrerin, Nachbarn, Vereine – überall wird spioniert, ob sich Bewerber wirklich anpassen. «Wenn ich im Ausland in eine Moschee gehe, ziehe ich ja auch lange Kleider an», begründet Meier die Forderung nach Assimilation.

Obwohl sie sich völlig angepasst fühlt, hat Fabiana Spica die Einbürgerung nicht geschafft. Zum Verhängnis wurde ihr vor allem der Staatskundetest, laut Meier «keine Hexerei», wenn man sich nur ein wenig interessiere. Fabiana sieht das anders: «Ich habe mich angestrengt, vor mir sassen diese vielen Leute, ich war allein; da wusste ich nichts mehr.» Der Test enthält Fragen zu Bund (Was ist das Parlament? Wie heisst die Nationalhymne?), Kanton (Was ist der Grosse Rat? Welche Verkehrsmittel gibt es?) und Gemeinde (Wann ist Wochenmarkt? Wie entsorge ich Abfall?). Bei den Fragen zur Gemeinde müssen Gebäude auf Fotos erkannt werden: Verwaltung, Kantonsschule, Strohmuseum.

Bundesgericht wird ignoriert


Fabianas Mutter wohnt seit 40 Jahren in Wohlen, wie ihr Mann arbeitete sie immer in derselben Fabrik. Der Chef sage nur Gutes über ihre Familie, meint Fabianas Schwester Loredana, die den Bürgertest mit Bestnote bestand und deshalb sogar in der Zeitung erschien. «Wir hatten noch nie Probleme mit der Polizei oder mit den Steuern, gar nichts.» Spicas sprechen fliessend Schweizerdeutsch. Mutter Concetta hat auch schon daran gedacht, sich einbürgern zu lassen, doch als ihr die Gemeinde beschied, das koste 5000 Franken, winkte sie ab. Dabei hat sie den Wunsch, für immer in der Schweiz zu bleiben; das Haus in Italien hat sie verkauft. «Wenn ich sterbe, will ich dort begraben sein, wo meine Töchter leben.»

Test und Gebühren sind nicht die einzigen Hürden, die es in Wohlen zu meistern gilt. Erste Instanz ist die Gemeindesekretärin; wenn sie findet, die Bewerber seien ungeeignet, rät sie gleich beim ersten Treffen vom Antrag ab. Wer ein Gesuch stellt, die formalen Anforderungen erfüllt, Staatskunde- und Assimilationstest besteht, den schlägt die Kommission zur Einbürgerung vor. Nur etwa die Hälfte aller Gesuche werde in Wohlen positiv beurteilt, schrieb kürzlich die «Aargauer Zeitung». Die Kommission siebt also kräftig aus.

Wer weiterkommt, wird vom Gemeinderat dem 40-köpfigen Parlament zur Einbürgerung empfohlen. Das Parlament entscheidet dann, und zwar in geheimer Abstimmung. «Da bleiben wir im Moment dabei», sagt Regula Meier leise, obwohl sie genau weiss, dass Einbürgerungsentscheide gemäss Bundesgericht zu begründen wären und rekursfähig sein müssten. Demnach sind geheime Abstimmungen gar nicht mehr zulässig.

Integration gerade für Junge wichtig


Solche restriktiven Verfahren führen dazu, dass in der Schweiz deutlich weniger Menschen eingebürgert werden als im europäischen Mittel. In Holland, Schweden, Norwegen werden jährlich bis zu sieben Prozent der Fremden Einheimische; der Ausländeranteil bleibt somit bei tiefen fünf Prozent. In der Schweiz beträgt die Einbürgerungsrate nur rund ein Prozent – daher der hohe Ausländeranteil von 20 Prozent. Aufgrund der geänderten Praxis vieler Kantone sind die Zahlen in den letzten Jahren angestiegen: 1990 zählte das BfS 6200 Einbürgerungen, letztes Jahr waren es 37000.

Insgesamt leben in der Schweiz 1,5 Millionen Ausländer. Rund ein Viertel (350000) ist hier geboren, 405000 leben seit über 15 Jahren im Land. Die meisten (700000) würden die formellen Bedingungen fürs Bürgerrecht problemlos erfüllen. Eine möglichst speditive Einbürgerung wäre gerade auch für Junge wichtig; in der Altersgruppe bis 25 hat heute jeder Vierte keinen Schweizer Pass. Doch zwei Anläufe, das Verfahren zu erleichtern, sind gescheitert. 1983 relativ deutlich, 1994 äusserst knapp. Im September kommt die dritte Vorlage vors Volk (siehe Artikel zum Thema «Revision des Einbürgerungsgesetzes: Das Wesentliche»).

Dass es auch anders geht als in Wohlen, zeigt etwa die Stadt Bern. Hier sind bereits die Rahmenbedingungen günstiger: Der Kanton hat das Einbürgerungsgesetz revidiert und den Gemeinden erleichterte Verfahren für Jugendliche ermöglicht. So müssen Bewerber zwar, wie vom Bund vorgeschrieben, zwölf Jahre in der Schweiz sein, sonst aber reichen zwei Jahre Wohnsitz im Kanton (nicht zwingend in der aktuellen Wohngemeinde). Zudem entscheidet die Exekutive über die Gesuche. Damit werden, im Sinne des Bundesgerichts, Abstimmungen an Parlaments- und Gemeindeversammlungen untersagt.

Die Gemeinde Bern ist noch weiter gegangen: Anfang 2004 hat sie ein neues Reglement in Kraft gesetzt, das als eines der fortschrittlichsten der Schweiz gilt. Zwar klärt auch die Bundesstadt ab, was im Strafregister steht und ob Schulden vorliegen, sonst kommt aber neu die «Integrationsvermutung» zum Tragen: Wer zwölf Jahre in der Schweiz ist, gilt als integriert – ohne Prüfung und Verhör. Mehr noch: Die Bewerber müssen nicht einmal Deutsch beherrschen; eine andere Amtssprache wie Italienisch oder Französisch genügt.

Wer abgelehnt wird, muss nicht wie in Wohlen über die Gründe spekulieren und die Faust im Sack machen: «Abweisende Entscheide sind schriftlich begründet zu eröffnen», heisst es im Reglement, «unter Hinweis des Rechtsmittels der Verwaltungsbeschwerde». Generell erhebt Bern bei Jugendlichen bis 25 nur mehr kostendeckende Gebühren, das heisst 200 Franken. In Wohlen dagegen richtet sich der Betrag nach dem Einkommen und kann deshalb schnell einen Monatslohn ausmachen.

Bern, dessen Ausländeranteil 21 Prozent beträgt, hat in den letzten Jahren häufiger als früher eingebürgert. 1996 waren es etwa 300 Fälle pro Jahr, heute sind es knapp 700, rund 2,5 Prozent der Nichtschweizer. Die geänderte Praxis hat zum einen demografische Hintergründe: Geburtenrückgang, Sterbeüberschuss und Wegzug von Familien lassen die Zahl der Schweizer in Bern schrumpfen.

Ein weiterer Grund ist finanzieller Natur: «Integration ist Sparpolitik», sagt Gerda Hauck, die städtische Integrationsdelegierte. Würden Ausländer nicht integriert, führe dies zu Folgekosten «in mehrfacher Höhe». Zu denken sei an Schulprobleme, Arbeitslosigkeit, Aggressionen, Krankheiten. Zur Integration gehöre auch die Partizipation – «die Leute müssen mitbestimmen können». Wenn man Jugendliche erleichtert einbürgere, zeige man ihnen, dass sie wirklich willkommen sind.

Nuran Sherifi bürgert Ausländer ein


In Bern eingebürgert ist Nuran Sherifi, 24, die mit ihren Eltern vor neun Jahren aus Mazedonien in die Schweiz gekommen ist. Ab der dritten Klasse ist sie hier zur Schule gegangen und hat eine Verkaufslehre absolviert. 1997 stellte sie ihr Gesuch, im Frühling 2000 erhielt sie den roten Pass. Seit sie Schweizerin sei, fühle sie sich freier: Stellenbewerbungen, Wohnungssuche und Auslandsreisen seien einfacher geworden.

Seit Anfang Jahr ist Sherifi sogar Mitglied der Stadtberner Einbürgerungskommission. «Das ist für mich eine Ehre», sagt sie. Die Kommission schaue zwar auch, ob sich jemand für den Schweizer Pass eigne oder nicht. Aber grundsätzlich gehe man davon aus, dass jemand, der sich einbürgern wolle, auch integriert sei. «Wir haben jeden Monat etwa 30 Dossiers, davon sind höchstens zehn Prozent problematisch.» Gerade Jugendliche sollten erleichtert eingebürgert werden, meint Sherifi, denn diese wollten in aller Regel dazugehören. «Das Leben lässt uns keine andere Wahl. Wer hier eine Zukunft haben will, muss sich anpassen. Das ist der erste Schritt, den die Ausländer tun müssen – der zweite aber sollte von den Schweizern kommen.»

Partnerinhalte
 
 
 
 
Quelle: Jürg Ramseier