Was, wenn sich die Nachbarin das Bein bricht?
Morsche Bäume, ungesicherte Biotope, vereiste Wege: wer bei Unfällen zur Kasse gebeten wird.
Veröffentlicht am 6. Dezember 2022 - 09:46 Uhr
Heidi Portmann ist glückliche Eigentümerin eines Ferienhauses im Tessin. Schon als ihre Eltern es in den Neunzigerjahren übernahmen, zierten sieben Kastanienbäume den Garten. Einer davon fiel vor einiger Zeit einem Sturm zum Opfer.
Portmann hatte Glück im Unglück, denn der Baum landete auf ihrem eigenen Grundstück, niemand kam zu Schaden. Doch was, wenn beim nächsten Sturm die nächste Kastanie kippt? Muss sie die alten Bäume fällen, damit sie bei einem Unfall nicht haftet?
Um diese Haftungsfragen geht es:
- 1. Haftung nur für «Werke»
- 2. Eigentümer stehen in der Pflicht
- 3. Man haftet nur, wenn das Werk Fehler hat
- 4. Man haftet, wenn jemand zu Schaden kommt
- 5. Man haftet auch, wenn man nicht schuld ist
- 6. Auch Benutzer tragen eine Verantwortung
- 7. Man kann sich schützen
- 8. Die Massnahmen müssen zumutbar sein
- 9. Man kann die Haftung abwälzen
- 10. Man kann sich versichern
1. Haftung nur für «Werke»
Strassen, Lifte, Treppen, Biotope, Zäune, Spielplatzanlagen und Swimmingpools – sie alle gelten als «Werke». Die juristische Definition: stabile Gebäudeteile oder Gegenstände, die künstlich von Menschenhand geschaffen wurden und dauernd mit dem Erdboden verbunden sind.
Ein Baum ist grundsätzlich kein Werk – zumindest wenn er natürlich gewachsen und nicht angepflanzt, gepflegt oder besonders angeordnet wurde. Nur wenn Heidi Portmanns Vorgänger die Kastanien gepflanzt hat oder die Bäume im Rahmen der Gartengestaltung gepflegt werden, gelten auch sie als Werke.
2. Eigentümer stehen in der Pflicht
Es haftet der, dem das Werk gehört. Wenn in einem Mietshaus Treppengeländer und Handlauf fehlen, steht die Vermieterin und nicht der Mieter in der Pflicht. Falls ein Werk mehreren Personen gemeinsam gehört, haften sie solidarisch – etwa beim Spielplatz einer Stockwerkeigentümergemeinschaft.
3. Man haftet nur, wenn das Werk Fehler hat
Die Haftung greift bloss, wenn das Werk nicht sicher genug ist für den Gebrauch, zu dem es bestimmt ist. Zum Beispiel weil es fehlerhaft hergestellt oder angelegt wurde oder mangelhaft unterhalten wird. Ein Hauseingang, der vereist ist, weil sich niemand darum kümmert, gilt etwa als fehlerhaft.
Wer wie Heidi Portmann einen Garten besitzt, kann also nur zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Bäume fehlerhaft eingepflanzt wurden oder mangelnd unterhalten werden, wenn sie etwa sichtlich morsch oder instabil sind. Falls ein kerngesunder Baum allein aufgrund höherer Gewalt – wie eines Sturms – umfällt, muss man nicht dafür geradestehen.
4. Man haftet, wenn jemand zu Schaden kommt
Erst wenn sich eine Person verletzt oder Sachen kaputtgehen, stellt sich die Frage der Haftung. Fällt etwa ein morscher Baum auf das Auto der Nachbarin, müssen Eigentümer unter Umständen für die Reparaturkosten aufkommen – maximal für den Zeitwert des Gefährts. Wenn ein Gebäude beschädigt wird, kann das horrend teuer werden. Heidi Portmann ist mit ihrer umgestürzten Kastanie glimpflich davongekommen, denn niemand kam zu Schaden.
5. Man haftet auch, wenn man nicht schuld ist
Eigentümer müssen selbst dann für den Schaden geradestehen, den ihr mangelhaftes Werk verursacht, wenn er nicht auf ihre Nachlässigkeit zurückzuführen ist. Ist das gerecht? Ja, sagt das Bundesgericht. Denn Eigentümer geniessen die wirtschaftlichen Vorteile ihrer Sachen und sollen deshalb auch haften, wenn sich diese in mangelhaftem Zustand befinden.
6. Auch Benutzer tragen eine Verantwortung
Haftet ein Hauseigentümer, wenn eine Mieterin sich rücklings auf das Balkongeländer setzt und in den Garten stürzt? Kaum. Denn Eigentümer dürfen grundsätzlich erwarten, dass ihre Werke bestimmungsgemäss, vorsichtig und selbstverantwortlich gebraucht werden. Vorhersehbares Fehlverhalten müssen sie aber verhindern. Man muss zum Beispiel damit rechnen, dass ein Biotop die Nachbarskinder zu einem Gebrauch verführen kann, der dem eigentlichen Zweck widerspricht.
7. Man kann sich schützen
Endlich eine gute Nachricht: Die Haftung lässt sich ausschliessen – indem man gewisse Sicherheitsvorkehrungen trifft. Die Eigentümerin eines Hauseingangs, Fusswegs oder einer Zufahrt ist deshalb gut beraten, nasse Herbstblätter, Schnee und Glatteis regelmässig zu entfernen. Eine Tafel, mit der jegliche Haftung bei Unfällen abgelehnt wird, genügt nicht. Und auch Bäume sollte man im Auge behalten. Es empfiehlt sich, immer wieder zu kontrollieren, ob sie gesund sind und stabil stehen – und entsprechend zu handeln. Morsche Äste sollte man abschneiden.
Heidi Portmann hat bereits gehandelt und ihre verbleibenden sechs Kastanien durch einen Experten überprüfen lassen. «Anscheinend alles gesund», sagt sie zufrieden.
8. Die Massnahmen müssen zumutbar sein
Der Eigentümer eines Fusswegs muss nach einem verschneiten Winterabend nicht mitten in der Nacht zur Schaufel greifen , um seine Haftung auszuschliessen. Es genügt, wenn der Weg zu jenen Zeiten sicher ist, in denen Fussgänger üblicherweise unterwegs sind. Denn: Der finanzielle und technische Aufwand der Sicherungsvorkehrungen darf sich in einem zumutbaren Rahmen bewegen. Etwas höhere Anforderungen gelten, wenn mit einem besonders sensiblen Publikum gerechnet werden muss, etwa mit gebrechlichen Personen.
9. Man kann die Haftung abwälzen
Selbst wenn der Werkeigentümer haftet, kann er diejenigen in die Pflicht nehmen, die ursprünglich verantwortlich sind. Wenn ein Kind nicht richtig beaufsichtigt wurde und es im Haus auf der Treppe verunfallt, können die Hauseigentümer die Eltern verantwortlich machen. Doch falls niemand anders verantwortlich ist, bleibt die Haftung am Werkeigentümer hängen.
10. Man kann sich versichern
Wer eine Privat- und eine Gebäudehaftpflichtversicherung abgeschlossen hat, kann den Schaden dort anmelden. Eigentümer eines Ein- oder eines Mehrfamilienhauses mit höchstens drei Einheiten brauchen grundsätzlich keine Gebäudehaftpflichtversicherung, wenn sie selbst dort wohnen. Die Kosten sind in der Regel durch die Privathaftpflicht gedeckt.