Raumplanung: Bausündenboom
Aus Ställen werden Ferienhäuser, aus Waldwegen Strassen, aus Wiesen Kiesgruben: Hierzulande wird illegal gebaut, dass sich die Balken biegen – und die Behörden schauen zu.
Veröffentlicht am 15. September 2003 - 00:00 Uhr
Die Sonne prallte auf den steilen Südhang von Martisberg unterhalb des Skigebiets Bettmeralp. Doch das war nicht das Einzige, was die Mitglieder der Walliser Baukommission ins Schwitzen brachte. Die Kommission erledigte an jenem Augusttag eine längst fällige Arbeit. Die Fachleute suchten nach illegal umgebauten Ställen ausserhalb der Bauzone – und wurden fündig: Auf «ein gutes Dutzend» solcher Bauten sei man gestossen, erklärt Kommissionssekretär Bruno Eyer.
«Seit drei Jahren», betont Gemeinderätin Marianne Albrecht, «schicken wir alle Gesuche für Umbauten ausserhalb der Bauzone vorschriftsgemäss nach Sitten.» Dem war nicht immer so. In der Gomser Gemeinde wurden während Jahren illegal Ställe zu Ferienhäusern um- oder gar ausgebaut – häufig ganz ohne Bewilligung, in einigen Fällen aber auch mit dem offiziellen Segen der Gemeindebehörden. Dass für Stallumbauten ausserhalb der Bauzone der Kanton zuständig ist, ignorierte man in Martisberg geflissentlich.
Das illegale Dutzend in der 30-Seelen-Gemeinde Martisberg dürfte in seiner Dichte einmalig sein. Eine ähnliche Liste liesse sich aber von praktisch jeder Gemeinde erstellen: Etwa 540'000 Gebäude in der Schweiz stehen laut einer Studie aus dem Jahr 1994 ausserhalb der Bauzonen, das entspricht rund einem Viertel aller Gebäude im Land. Nur 70 Prozent davon sind Landwirtschaftsgebäude. Was sonst an Gebäuden auf der grünen Wiese steht, ist illegal oder zumindest nicht zonenkonform.
- Zum Beispiel im Tessin: Im Südkanton wurden in den letzten Jahren rund 7500 Ställe und Speicher (Rustici) in Ferienhäuser umgebaut, Hunderte davon ohne Baubewilligung – diese erfolgte in der Regel nachträglich. 145 von 245 Tessiner Gemeinden meldeten dem Kanton illegale Rustici-Bauten. Erst unter dem Druck des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) wurden Bussen verhängt. In Einzelfällen entschied man zwar auf Abbruch und Rückbau, doch mit dem Vollzug hapert es.
Nach längerem Hin und Her genehmigte der Bundesrat Anfang 2002 den Tessiner Richtplan. Nun hat der Kanton weitere zwei Jahre Zeit, so genannte typische Rustici-Landschaften auszuscheiden. Der Konflikt ist programmiert, denn die meisten Gemeinden hoffen auf das Manna der meist solventen Besitzer. Auch ohne definitive Zonenpläne wird unterdessen an vielen der rund 15'000 potenziell umbaufähigen Rustici eifrig weitergewerkelt, denn zwei von drei Gesuchen erhalten den behördlichen Segen. - Zum Beispiel in Muotathal: In dem kleinen Ort im Kanton Schwyz musste der Gemeinderat im vergangenen Jahr gleich zwei Baustopps erlassen: einen wegen einer illegalen Strasse, den anderen, weil ohne Bewilligung Aushubmaterial deponiert worden war. «In beiden Fällen», so rapportierte die «Neue Luzerner Zeitung», «wurde nachträglich die Bewilligung eingeholt.» Pikantes Detail: Der fehlbare Bauherr ist selber Mitglied der Exekutive.
- Zum Beispiel in Laufen am Rheinfall: Hier baute ein Landwirt mitten in der Landwirtschaftszone rund 2000 Kubikmeter Kies ab – ohne Bewilligung. Das Gebiet befindet sich innerhalb der Rheinfall-Schutzzone. «Das ist ganz klar illegal», ärgert sich Ruedi Schneider, Geschäftsführer der Schutzorganisation Rheinaubund. Schneider zeigte den fehlbaren Bauern beim Kanton Zürich an, worauf die Gemeinde einen Baustopp verfügte. Anfang September folgte nun der definitive Bescheid aus Zürich: Der fehlbare Bauer erhält keine nachträgliche Baubewilligung, im Gegenteil. Bis Ende Juni 2004 muss er die Kiesgrube auffüllen und das Land sowie die Zufahrtsstrassen rekultivieren.
Eine besondere Vorliebe zeigen Herr und Frau Schweizer für nicht mehr genutzte landwirtschaftliche Gebäude. Aus alten Alphütten werden Ferienhäuser, aus Ställen Wohnzimmer, und wo gestern noch ein Holzschopf stand, lädt heute ein solides Haus zum Verweilen ein. Folge: 30 Prozent aller Feriendomizile in der Schweiz stehen ausserhalb der Bauzonen.
«In den Tourismusregionen ist die Situation zum Teil verheerend», sagt Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL). «Da wird oft in eigentlich dünn besiedelten Gegenden mitten in einer sensiblen Landschaft gebaut oder umgebaut, als ob es kein Raumplanungsgesetz gäbe.»
Die Vorschriften greifen zu wenig
Die oft beklagte Zersiedelung der Schweiz geht im Alpen- und Voralpengebiet praktisch ungehindert und nicht selten unbewilligt und unrechtmässig weiter. Das zeigt auch die Arealstatistik 2001 des Bundesamts für Statistik: Von den total 243'000 Hektaren überbauten Landes in der Schweiz liegen stolze 99'000 Hektaren ausserhalb der Bauzone – Tendenz: ausufernd. Pro Jahr werden ausserhalb der Bauzonen 1700 Gebäude mehr erstellt als abgerissen.
Setzt sich dieser Verlust an Kulturland ungebremst fort, so haben die Bundesstatistiker ausgerechnet, sind in gewissen Regionen schon in einigen Jahrzehnten Wiesen und Äcker verschwunden. Im Wallis etwa wäre die Reserve an landwirtschaftlichen Nutzflächen in 188 Jahren aufgebraucht, im Tessin und in den Südbündner Tälern gar in 108 Jahren.
Für Raimund Rodewald sind das düstere Perspektiven. Er befürchtet, dass die Bauerei ausserhalb der dafür vorgesehenen Zonen trotz allen gesetzlichen Vorschriften weitergehen wird. Das seit 1980 geltende Raumplanungsgesetz jedenfalls könne dem nicht Einhalt gebieten. «Unsere ganze Gesellschaft wird immer stärker individualisiert und entsolidarisiert», beklagt der Landschaftsschützer. «Dadurch geht vergessen, dass das Individuum in der Gesellschaft nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hat. Wir müssen uns an Vorschriften halten, damit die Gemeinschaft funktioniert.»
Auch an Vorschriften wie Zonenpläne und Bauordnungen. Doch das Recht am Eigentum werde heute höher gewichtet als die damit verbundenen Pflichten, kritisiert Rodewald. Immer mehr Haus- oder Landbesitzer hätten deshalb das Gefühl, dass sie auf ihrem Grund und Boden aufstellen dürften, was ihnen gefällt.
Nach diesem Grundsatz lebten auch zwei Besitzer einer Alphütte in der Walliser Gemeinde Mund. Auf der Alp Brischern oberhalb des Dorfes liessen sie im Sommer 2002 ihre Hütte vollständig abbrechen, obschon im Baugesuch nur von «Umbau und Sanierung» die Rede gewesen war. Dies fiel jedoch dem 53-jährigen Maurer Daniel Jeitziner auf. Als ehemaliger Gemeinderat wusste er, dass die Hütte in einer so genannten Erhaltungszone steht, in der althergebrachte Bausubstanz erhalten werden muss. «Der Abbruch war klar illegal», sagt Jeitziner, «und der offensichtlich geplante Neubau sowieso.»
Jeitziner intervenierte schriftlich beim Gemeinderat, worauf dieser einen Baustopp verfügte. Zwei von Jeitziner angefochtene Baugesuche später war plötzlich von «Wiederaufbau und Standortverschiebung (ca. 1.20 m) einer abgebrochenen Alphütte» die Rede. Jeitziner wehrte sich weiter – ohne Erfolg: Anstelle der einstigen Alphütte steht seit ein paar Wochen ein schmuckes Chalet, das Raum für zwei Ferienwohnungen bietet.
Jeitziner hat inzwischen eine Verwaltungsbeschwerde eingereicht. Und die Gemeindebehörden haben gegenüber dem «Walliser Boten» immerhin zugegeben, «dass man nach dem heutigen Kenntnisstand eine Bewilligung für den Abbruch und Wiederaufbau nicht mehr in dieser Form erteilen würde». Eine späte Einsicht.
Von den Behörden geradezu gefördert
Dass Gemeindebehörden nach Gutdünken Neu- oder Umbauten ausserhalb der Bauzonen bewilligen, ist ein bekanntes Phänomen. Und für Rodewald durchaus ein erklärbares: «Beim neuen Raumplanungsgesetz, das seit September 2000 in Kraft ist, blickt kein Mensch mehr durch», sagt der SL-Geschäftsleiter. Und wenn die Materie allzu kompliziert wird, schaut man lieber einmal bei einer Baustelle weg als genauer in die Gesetzestexte. «Besonders kleine Gemeinden können da an ihre Grenzen stossen», bestätigt auch Reto Locher, Leiter der Abteilung Baubewilligungen im Amt für Raumordnung und Vermessung des Kantons Zürich: «Die Anforderungen an einen Bauvorstand sind hoch.»
Manchmal zu hoch, wie Lochers Behörde feststellen musste: Zwischen September 2000 und Dezember 2002 erliess das Amt rund 100 Wiederherstellungsverfügungen wegen Bauten, die ohne Bewilligung oder nicht gemäss den genehmigten Plänen erstellt worden waren – und dies im dicht besiedelten Kanton Zürich. Wo, so Locher, «in der Regel Nachbarn oder Gemeindevertreter merken, wenn plötzlich eine Schuttmulde vor einem Haus steht oder ein zusätzliches Dachfenster eingebaut wird».
Ohne Bewilligung oder über die gestatteten Masse hinaus zu bauen, und dies womöglich noch ausserhalb der Bauzone, dürfte noch länger ein Kavaliersdelikt bleiben. Ein Vergehen zudem, das teilweise von Seiten der Behörden mit einer Flut von kaum durchschaubaren Vorschriften geradezu gefördert wird. Zwar bieten mittlerweile zahlreiche Gemeinden spezielle Dienstleistungen für rechtlich nicht bewanderte Bauwillige an. Trotzdem bleibt der Paragrafendschungel dicht. Wer beispielsweise im Kanton Luzern ein Haus umbauen will, muss dazu ein siebenseitiges Gesuch ausfüllen und sich durch unzählige Paragrafen kämpfen – eine Arbeit, die für Laien allein kaum zu bewältigen ist.
Und greift dann jemand – sei es aus Schlitzohrigkeit oder Frustration über die vielen Vorschriften – ohne Bewilligung zu Presslufthammer und Maurerkelle, muss er sich nicht vor amtlichen Massnahmen fürchten: Den Rückbau oder gar Abbruch eines widerrechtlich erstellten Objekts verfügen die zuständigen kantonalen Behörden nur in Ausnahmefällen.
Zuständig für Sanktionen sind in den meisten Kantonen die Gemeinden. «Das ist meist ein langwieriger Prozess», stellt Reto Locher leicht resigniert fest. In kleinen Gemeinden könne es «natürlich zu Konflikten» kommen, wenn ein Bauvorstand einem Nachbarn oder Kollegen Massnahmen androhen müsse.
Dass es mit dem Vollzug von Verfügungen nicht zum Besten steht, weiss auch Pierre-Alain Rumley, Direktor des Bundesamts für Raumentwicklung. «Die Gemeinden haben meist weder das Personal noch die Mittel, solche Massnahmen durchzusetzen», so Rumley.
Kommt dazu, dass sich illegales Bauen lohnt: Ein unbewilligtes Dachfenster schlägt mit maximal ein paar hundert Franken zu Buche. Wer eine Alphütte widerrechtlich zum Ferienhaus ausbaut, muss bestenfalls mit einer Busse in der Höhe von einigen tausend Franken rechnen. Das entspricht meist einem Bruchteil der Bausumme. «Nach meinen Erfahrungen neigen die meisten Richter eher zu tiefen Bussen», sagt ARE-Direktor Rumley.
Auch Gemeindebehörden geniessen in Bau- und Planungsfragen gewisse Freiheiten. Eine besonders eigenmächtige Art, diese zu nutzen, hat man in der kleinen Thurgauer Gemeinde Braunau gefunden. Dort hatte der ehemalige Ortsvorsteher Walter H. Fröhlich in Sachen Baubewilligungen lange Zeit nach eigenem Gutdünken geschaltet und gewaltet. Erst nach Jahren wurde ruchbar, dass reihenweise Bauordnung und Raumplanung krass missachtet worden waren, etwa im Fall mehrerer Swimmingpools und eines Baugeschäfts, das seinen Werkhof in der Landwirtschaftszone errichtet hatte.
Illegale Bauten nachträglich legalisiert
«Ob sich Bauherren an die eingereichten Pläne halten, kontrollieren wir nicht. Baupolizei ist die Gemeinde», beschied das kantonale Amt für Raumplanung. Erst nach mehreren Beschwerden reagierte der neue Gemeindeammann Jörg Cadisch – auf seine Weise: Statt die Bausünder zu bestrafen, wurden deren Häuser in eine Weilerzone umgezont – und damit legalisiert. Cadisch kündigt zwar an, «nach definitiver Genehmigung der Zonengrenzen diverse nachträgliche Baugesuche zu verlangen». Doch das ist in der Regel bloss Formsache. Die Kirche wird im Dorf bleiben, die illegalen Bauten auch.
Mitarbeit: Bernhard Raos, Kurt Marti
1 Kommentar
BR Rösti unterstützt das Bauen ausserhalb der Bauzonen
Damit würde der Schutz von unverbauten Landschaften und von Fruchtfolgeflächen aufgeweicht. Es ist zudem mit teuren Erschliessungsmassnahmen zu rechnen. Auch entstehen damit ungerechtfertigte Vorteile für die Eigentümer:innen im Vergleich zum Bauen in den teuren Bauzonen.