Das Grau des Alltags
Die einen füttern sie, die andern hassen sie: die Tauben. Sie gehören zum Stadtbild wie der Taubenwart, der die Zahl der Vögel in der Stadt Zürich unter Kontrolle hält.
Veröffentlicht am 8. April 2005 - 12:04 Uhr
Der alte Mann schlurft mit tapsigen Schritten über den Platz, das rechte Bein hinter sich herziehend. Um die Balance zu halten, rudert seine linke Hand. Die rechte zieht einen schwarzen Ein-kaufstrolley nach. Auf dem Platz bleibt er stehen und zieht umständlich Vogelfutter aus seinem Wagen. Im Nu ist er umgeben von Dutzenden von Tauben in allen Farben. Rote, graue, weisse, blaue – sie hatten ihn auf den Dächern erwartet. Wie jeden Morgen. Denn Punkt 9.15 Uhr macht Karl Kuster (Name geändert) auf dem Platz in der Zürcher Hardau seine Runde.
Fünf Säcke Vogelfutter verstreut er auf dem heruntergekommenen Sportplatz an der Hardstrasse. Den grössten Teil in die Platzmitte, eine kleinere Portion am Rand der Anlage. Damit auch die schwächeren Tiere etwas abbekommen, so seine Überlegung. Alles flattert, es wimmelt von Vögeln, und bald kommen auch Möwen und Krähen zum grosszügigen Frühstück herbeigeflogen. Zufrieden betrachtet der alte Mann sein Werk, murmelt ein paar unverständliche Sätze, dann schleppt er sich weiter, zur nahen Migros.
Es ist ein schöner Frühlingsmorgen, doch die Kulisse ist eher trist: Jugendliche trainieren ihre Kampfhunde, Senioren stopfen Abfall in öffentliche Mülleimer, Drogenhändler und Prostituierte gehen auf der desolaten Anlage ihrem Geschäft nach.
Der Alte schlurft wieder herbei. Mit weiteren sieben Säcken Vogelfutter, die er sogleich verstreut. Jeden Morgen macht der alte Taubenfreund seine Runde. «Auch sonntags», wie er stolz erklärt. Dass sein Tun den Stadtvögeln mehr schadet denn nützt, will er nicht hören.
«Ich versuche seit Jahren vergeblich, mit ihm zu reden», sagt Steve Diethelm, der für die Tauben zuständige Wildhüter der Stadt Zürich. Man kann sich durchaus mit dem alten Mann verständigen. Aber bei der Diskussion um Nutzen und Schaden der Vogelfütterung stellt er sich taub. Dabei werden die hübschen Vögel erst zum Problem, weil sie so emsig von Menschen wie Kuster gefüttert werden.
Gemäss neusten wissenschaftlichen Untersuchungen bestimmt einzig das Futterangebot die Taubendichte in der Stadt. Je mehr gefüttert wird, desto mehr Tauben gibt es. Und das zu aller Nachteil. Wer einmal einen rasant wachsenden, immer aufdringlicher werdenden Taubenschwarm ums Haus hatte, kann davon ein Lied singen. Auch die Tiere selbst leiden enorm unter der Überpopulation. Sie leben unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen, verslumen regelrecht. Diethelm hat schon wilde Taubenschläge ausgehoben, in denen sich Kot und Kadaver meterhoch angesammelt hatten. Die Tiere leiden an Krankheiten und Parasiten – Salmonellen, Ornithose, Flöhe und Zecken –, die wiederum für Menschen, die in der Nähe leben, gefährlich werden können.
Die heutigen Stadttauben sind Nachfahren der Felsentauben, die von Ägyptern und Babyloniern vor rund 6000 Jahren domestiziert wurden. Hunderte von Rassen wurden in der Folge als Brief- oder Fleischtauben gezüchtet. Erst als die Lebensmittel billig wurden und Nahrungsresten auf der Strasse oder in den Schmutzgräben landeten, wandte sich das erfolgreiche Zusammenleben von Mensch und Taube zum Schlechten. Haustauben wilderten aus, die Bestände in den Städten explodierten, bald trug die Taube den wenig schmeichelhaften Übernamen «die Ratte der Lüfte». Denn wie der Nager erwies sich die Taube als überaus anpassungsfähiger Kulturfolger.
Von den einen geliebt und gehegt, von den anderen gehasst – heute gehören die Strassentauben zum Stadtbild. Auf Zürcher Stadtboden leben derzeit schätzungsweise 15 000 Tiere. In Venedig sollen es über 100 000 sein, in Wien gar 300 000. Ihr weltweiter Bestand wird auf mehrere hundert Millionen beziffert. Exakte Zahlen existieren indes nicht.
Die künstlichen Felslandschaften der Städte, vor allem die Altstädte mit ihren Nischen und Simsen, scheinen der Taube überaus gut zu gefallen. Ganz zum Leidwesen der Denkmalpfleger. Der Sandstein des Zürcher Rathauses am Limmatquai sieht aus wie Marmor. Der poröse graue Stein ist weiss gesprenkelt. Taubenkot überall. Rund zwölf Kilo Kot scheidet eine einzige Strassentaube jährlich aus. Ihre Exkremente sind nicht nur ein hygienisches und ästhetisches Problem. Sie gehen an die Substanz, denn Taubendreck hat eine sehr starke Korrosionskraft. Die Harnsäure greift Stein an, aber auch Holz und Lacke. Weshalb die Tauben vor allem in historischen Zentren konsequent bekämpft werden müssen.
Bis zu acht Mal pro Jahr können Tauben brüten – ein einsam hoher Wert für Vögel. Bei guten Bedingungen zieht ein Taubenweibchen jährlich zwölf Junge auf. «Bei diesem Futterangebot brüten Tauben selbst während eines kalten Winters», sagt Diethelm und schaut dem alten Taubenfreund kopfschüttelnd nach. Dieser hat mittlerweile das zweite Frühstück ausgebracht und macht sich wankend auf den Weg zur Bushaltestelle. Seine nächste Station heisst Güterbahnhof. Auch dort wird er Tauben füttern. Es gibt noch viel zu tun an diesem Morgen für Karl Kuster. Und so geht auch dem Wildhüter die Arbeit so schnell nicht aus.
Steve Diethelms Job ist es, den Taubenbestand in der Stadt stabil zu halten. Keine einfache Aufgabe, denn Unverbesserliche wie Kuster gibt es viele. Häufig sind es alte, vereinsamte Menschen, die sich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen, ihre geliebten Tiere zu füttern. Oft sind die Tauben ihre einzigen sozialen Kontakte. «Sie leben ihr Bedürfnis nach einem Mitgeschöpf, das sie betreuen und versorgen können, an den Tauben aus», schreibt der Basler Taubenspezialist Daniel Haag-Wackernagel in einem Aufsatz. Das Füttern von Tieren als freundlicher Akt sei tief im Menschen verwurzelt. Die Taube im Speziellen verfüge über Eigenschaften wie ihre schöne Erscheinung und ihre kindlichen Laute, die sie für den Menschen besonders attraktiv mache.
«Einfach Futter hinschmeissen und dann gehen, ohne zu wissen, was mit den Tieren passiert – ich finde das verantwortungslos», sagt Diethelm, der in seiner Freizeit eine Greifvogelaufzucht betreibt und als Falkner tätig ist.
Generationen von Taubenwarten haben vergeblich versucht, das Taubenproblem in den Städten unter Kontrolle zu bekommen. Die Liste der gescheiterten Dezimierungsmassnahmen ist lang. Abschusskampagnen in den siebziger Jahren blieben ebenso erfolglos wie die teuren Versuche mit Antibabyhormonen im Futter in den Achtzigern. Selbst brutale Methoden wie Stromleisten vermochten die Stadttauben nicht nachhaltig aus ihrem angestammten Lebensraum zu vertreiben. Erst in den letzten Jahren hat man spürbare Erfolge gegen die Taubenplage verbuchen können – seitdem man weiss, wie die Taubendichte vom Futterangebot abhängt. «Am wichtigsten ist die Aufklärung der Bevölkerung», erklärt Diethelm. «Wären die Taubenfütterer einsichtiger, hätten wir das Taubenproblem schon fast gelöst», meint er.
Was die energischen Taubenfreunde nicht wissen: Wo Tauben gefüttert werden, da sind auch die Ratten nicht weit. Marcus Schmidt von der Schädlingsbekämpfungsstelle der Stadt Zürich hat auf der Hardau-Anlage schon Ratten bekämpft. «Da gibt es Leute, die schmeissen ihre Essensresten einfach aus dem Fenster», erzählt er. Rund 150 Meldungen gehen bei ihm jedes Jahr ein wegen Ratten. Wo sie auftreten, werden sie mit einem verzögert wirkenden Blutgerinnungshemmer vergiftet, bevor sie grosse Populationen bilden können. «Statt weiter Symptombekämpfung zu betreiben, sollte man das Problem endlich von Grund auf lösen», findet Schmidt. Die Beratungsstelle hat deshalb vorgeschlagen, ein Fütterungsverbot für Vögel zu prüfen, zumindest für einzelne Plätze oder Anlagen.
Immer wieder sucht Diethelm das Gespräch mit den Taubenfreunden, versucht, ihnen die Zusammenhänge zu erklären, sie zur Mässigung zu bringen. Meist ohne Erfolg wie am Limmatplatz, wo ein Taubentisch steht, der zur geordneten Fütterung einlädt. Manchmal nützt alles nichts: Eine alte Frau lässt sich auch so nicht davon abbringen, das Futter kiloweise am Boden zu verstreuen, wo es sich mit Kot und Strassendreck vermischt und die Tiere krank macht. Vor einigen Wochen ist die Frau selbst erkrankt. Nun habe sie ihre Nachbarin für ihre Taubenmission einspannen können, erzählt Diethelm verärgert.
Beim Lindenhof hingegen, einer kleinen Parkanlage mitten in der Zürcher Altstadt, wo seit eh und je Tauben gefüttert werden, hat Diethelm eine Taubenfreundin für seine Anliegen gewinnen können. Er hat ihr den Unterhalt des städtischen Taubenschlags übertragen. Statt wie früher wild, füttert die Frau nun im kontrollierten Rahmen. Zudem entnimmt sie dem Schlag im Auftrag von Diethelm regelmässig Taubeneier. Insgesamt gut 600 Eier hat er vergangenes Jahr behändigt und damit die Fortpflanzung der Tiere etwas gebremst.
Eine weitere Massnahme zur Eindämmung der Stadttauben ist das Aufstellen von Fallen. An sechs Standorten in der Stadt hat Diethelm Gitterfallen stehen, mit denen er jährlich rund 2000 Tiere lebend fängt. Regelmässig macht er auch Abschüsse, frühmorgens mit Schalldämpfer, um niemanden aufzuschrecken. Insgesamt zieht der Taubenwart jedes Jahr rund 5000 Tauben aus dem Verkehr.
«Nachhaltigen Erfolg bringt nur das Zusammenspiel aller Massnahmen», ist Diethelm überzeugt, der wegen seiner Tätigkeit hin und wieder auch angefeindet wird – vor allem wegen der Abschüsse. «In diesem Job kann man nicht jedermanns Liebling sein», sagt er. Die einen seien der Meinung, sämtliche Tauben müssten ausgerottet werden. Die anderen drohen schon mit dem Tierschutz, sobald sie Diethelm auch nur erblicken. Doch die Tätigkeit des Taubenwarts ist im Tierschutz- und im Jagdgesetz klar geregelt.
Ebenfalls im Gespräch ist die vermehrte Ansiedelung von natürlichen Feinden wie dem Falken. In der Stadt Zürich leben bereits zwei Falkenbrutpaare. Aber die grossen Greifvögel haben nur wenig direkten Einfluss auf den Taubenbestand, denn sie finden in der Stadt keine optimalen Jagdbedingungen vor. Die schmalen Stadtschluchten sind für den Jäger des freien Luftraums, der im Sturzflug mit bis zu 300 Kilometern in der Stunde jagt, schlicht zu eng. Und die Stadttauben fliegen kaum je hoch genug, damit er sie erwischt.
Dennoch sind die Tage der Dominanz der Taube im städtischen Luftraum vielleicht bald gezählt. Hoffentlich, wie viele meinen, denen die Vögel längst zum Ärgernis geworden sind. Zum Beispiel für Passanten am Paradeplatz, wo die Tauben tagsüber gerne auf den Aufhängungen der Kabeltrassees der Trams und der Strassenbeleuchtungen sitzen und immer mal wieder einen fallen lassen. «Mir haben Leute schon die Rechnung für die Reinigung ihres Mantels zugeschickt», erzählt Diethelm. Aber alles kann der städtische Taubenwart nicht auf sich nehmen.